Andreas Reckwitz: Verlust. Ein Grundproblem der Moderne
Verlusterfahrungen und Verlustängste scheinen in den westlichen Gesellschaften zu eskalieren, diagnostiziert der Soziologe Andreas Reckwitz. In seinem Buch analysiert er die sozialen und kulturellen Strukturen, die den gesellschaftlichen Umgang mit Verlust prägen. Unsere Rezensentin Tamara Ehs zeigt sich von Reckwitz‘ Zeitdiagnose überzeugt, insbesondere die Aufforderung, die Krise der Demokratie als „Zukunftsverlust“ zu analysieren, treffe ins Schwarze.
Eine Rezension von Tamara Ehs
„Damals war Zukunft“, lautete der Titel einer Ausstellung über die 1970er-Jahre, die ich vor einiger Zeit besuchte. Die gezeigten Exponate wollten vor allem ein Gefühl vermitteln: positive Erwartungen an das Morgen, den festen Glauben an die sichere Einlösung des Fortschrittsversprechens für jede*n von uns, noch in diesem Leben. Das eigentlich erweckte Gefühl unter den meist älteren Ausstellungsbesucher*innen war jedoch Nostalgie – einerseits als diffuse Sehnsucht nach der guten alten Zeit, andererseits aber auch Nostalgie als „retrospektive Utopie“[1], wie sie der slowenische Soziologe Mitja Velikonja nennt, als Sehnsucht nach der Zeit, als es noch eine Zukunft gab; nach einer Zeit, als auch das Wünschen noch geholfen hat. Heute jedoch erleben allzu viele Menschen eine Abschaffung des Versprechens von Zukunft – Zukunftsverlust, wie es Andreas Reckwitz als Problem der Spätmoderne zusammenfasst: „Dieser Zukunfts- als Fortschrittsverlust ist ein Metaverlust, der die Wahrnehmung aller anderen Verluste rahmt“ (319).
Nostalgie und andere gesamtgesellschaftliche „Verlusttypen“
Nostalgie ist aber nur eine von mehreren Praktiken der Verlustbearbeitung, zu denen unter anderem auch das Versicherungswesen, die Psychotherapie und Religion zählen. Der Berliner Soziologe ordnet all diese Gefühle und Praktiken in den Zusammenhang einer Gesellschaftstheorie. Er analysiert Verlust als die „andere Seite“ (26) des Fortschritts, die zwar als konstituierendes Element der Moderne immer schon vorhanden gewesen sei, aber erst in der Spätmoderne zur Herausforderung werde. Nach der bürgerlichen Moderne des langen 19. Jahrhunderts und der industriellen Moderne des 20. Jahrhunderts erlebten wir nun die von Reckwitz titulierte Spätmoderne. Sie sei insbesondere dadurch geprägt, dass das Fortschrittsversprechen an Glaubwürdigkeit einbüße, „so dass den Verlusterfahrungen ihr geschichtsphilosophischer Schutzschild abhandenkommt“ (24). Die Gesellschaft sei sich heute nicht mehr so sicher wie unsere Eltern und Großeltern damals in den 1970er-Jahren, dass die Zukunft besser oder überhaupt gut werde. Allzu viele fürchten gar eine „Zukunft als Katastrophe“[2], so der Titel eines wegweisenden Buches von Eva Horn.
Obgleich jene Hoffnungen oder Ängste, die mit dem Gedanken an die Zukunft verbunden seien, zwar individuell erlebt würden, handle es sich in ihren Äußerungen doch um soziale Praktiken. Folglich ist auch jeder „Verlusttyp“, den Reckwitz beschreibt, als gesamtgesellschaftliches Phänomen zu werten und die einzelnen Typen – von Statusverlust über kulturelle Verluste bis zu Stabilisierungsverlusten sozialer Strukturen (zum Beispiel staatliche Kontrollverluste in Krisenzeiten) – beeinflussten einander und kumulierten mitunter in einer „Verlusttotalen“ (75). Da wir Verluste aber nicht einfach hinnehmen würden, entstünden laut dem Autor „Verlustarenen“ und „Verlustkämpfe“ (106), also Kämpfe um die Anerkennung von Verlust, um ihre Deutungshoheit und die politischen Konsequenzen. Denn Verluste erzeugten nicht nur Verlierer*innen, sondern auch die „Subjektform des Opfers“ (111), einen Status, dem in der Spätmoderne gesellschaftliche Anerkennung und politische Aufmerksamkeit zukomme.
Zukunftsverlust als Krise der Demokratie
Andreas Reckwitz ist mit seiner Studie eine zeitgenössische Gesellschaftstheorie gelungen, die nicht nur den Fachbereich der Soziologie bereichert, sondern auch aus dem Blickwinkel zahlreicher anderer Sozialwissenschaften höchst anschlussfähig ist. Für die Politikwissenschaft ergibt sich insbesondere aus dem Fortschrittsimperativ als „Spielsinn“[3] der Demokratie die Aufgabe, gegenwärtige Autokratisierungstendenzen unter diesem Verlustaspekt zu analysieren. Wer die Demokratie verteidigen soll, muss immerhin grundsätzlich von ihren Vorzügen überzeugt sein. Dazu gehört laut Reckwitz die Einlösung des Versprechens der Verbesserung der höchstpersönlichen Lebensverhältnisse. Das „Fortschrittsnarrativ ist das kulturelle Metaskript“ (149); sein Kennzeichen sei „Zuversicht, ein Vertrauen in die Zukunft und ihre positive Gestaltbarkeit“ (144). Was passiert nun, wenn das Metaskript seine Strahlkraft verliert; wenn die Wirtschaft in der Rezession steckt; wenn Läden und Kneipen schließen; Dorfzentren aussterben und nicht zuletzt die Klimakrise einen kaum mehr lebenswerten Planeten verheißt; wenn wir nicht mehr an die bessere Zukunft und ihre Gestaltbarkeit glauben?
Die Demokratie ist grundsätzlich zukunftsorientiert. Wenn wir nun aber glauben, keine Zukunft zu haben, geht ihr Spielsinn verloren. Hier setzen Populist*innen und Autoritäre an und versprechen wahlweise eine „echte“ oder „illiberale“ Demokratie, die Verlusterfahrungen verlagern will. Sie betreiben laut Reckwitz eine „verlustbezogene Politik“ (390), die mit Verlustidentitäten und Verlustaffekten arbeitet, und verfolgen eine politische Strategie der „Retrotopie“[4] des „Zurück-zu“ und der Inszenierung als Opfer. Denn das Opfer sei kein*e Verlierer*in am Rande der Gesellschaft, sondern politisch und sozial anerkannt. „Make America great again!“ und der Brexit-Slogan „Take back control“ gehörten ebenso in diese Reihe wie das hässliche Wort der Remigration in völkischen Deportationsfantasien.
Für ein neues demokratisches Fortschrittsversprechen
Gegenwärtig seien sämtliche Verankerungen des Fortschrittsimperativs – laut Reckwitz wären dies Wissenschaft und Technik, Ökonomie, Politik und Staat, Mittelklasse und Gesellschaft – locker geworden; überall komme es zu Verlusterfahrungen. Verheerend für die Stabilität der Demokratie sei aber vor allem der Verlust des Fortschrittsglaubens in der Mittelklasse als (einstiger) Trägerin der zukunftsbezogenen „investiven Statusarbeit“[5], die sich vermehrt als „Abstiegsgesellschaft“[6] wahrnehme. Die Krisenkaskade der vergangenen Jahre habe ihr besonders hart zugesetzt, ökonomische, aber auch emotionale Verluste zugefügt und nicht zuletzt hätten sich ihre Vertreter*innen in der Coronakrise als „vulnerables Subjekt“ (153) erlebt, das an seine gesellschaftlichen Abhängigkeiten erinnert worden sei. Wenn nun das politische System all die Krisen nicht mehr zufriedenstellend löst, stellt dies die Legitimation der Demokratie in Frage. Hinzu kämen in der Spätmoderne eine enorme „Verlustsensibilisierung“ (186) und neue Verlustpraktiken (wie die eingangs angesprochene Nostalgie) sowie die „Verlustpolitik“ (249) des Rechtspopulismus. Die institutionellen Ordnungen Technik, Ökonomie und Staat, einst „tragende Säulen des modernen Fortschrittsversprechens“ (313), werden von immer mehr Bürger*innen mit Skepsis oder gar Misstrauen beäugt. Zugleich wandere der Fortschrittsglaube von den Institutionen zum Individuum und werde als „personal growth“ (322) internalisiert.
Jene paradoxe Gleichzeitigkeit von Entpolitisierung und Repolitisierung unter dem Vorzeichen eines enormen Vertrauensverlustes gegenüber den Ordnungsstrukturen der bürgerlichen und industriellen Moderne mache Verlusterfahrungen laut Andreas Reckwitz nicht nur zu einem Grundproblem der Moderne, sondern zu einer drängenden politischen Herausforderung der Spätmoderne. Dies wiederum erhebe Resilienz „zu einem zentralen Wert, wenn es um eine Reparatur der Moderne geht“ (421). Im Bereich von Klimapolitik, Sicherheitsarchitektur, Gesundheitsversorgung und nicht zuletzt Demokratie müssten Redundanzen aufgebaut werden. Das „Futur II der Postapokalypse“ laute nämlich: „Verluste werden eingetreten sein“[7]. Wir benötigen daher laut Reckwitz eine „aktive Transformation in Richtung von Verhältnissen […], die mit dem Negativen rechnen und dagegen Vorkehrungen treffen“ (422). Im Grunde gilt es wohl, das Fortschrittsversprechen neu zu verhandeln, um den Spielsinn der Demokratie wiederzubeleben. Der Autor legt ein hochanalytisches Werk vor, das nicht nur gegenwärtige Problemlagen einzuordnen weiß, sondern auch als Handreichung für die Politikgestaltung dienen kann.
Anmerkungen:
[1] Velikonja, Mitja (2009): Lost in Transition: Nostalgia for Socialism in Post-socialist Countries, in: East European Politics & Societies 23 (4), S. 535–551.
[2] Horn, Eva (2020): Zukunft als Katastrophe. Berlin, S. Fischer Wissenschaft Verlag.
[3] Bourdieu, Pierre (1987): Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt am Main, Suhrkamp.
[4] Bauman, Zygmunt (2017): Retrotopia. Berlin, Suhrkamp.
[5] Kumkar, Nils C./Holubek-Schaum, Stefan/Gottschall, Karin/Hollstein, Betina/Schimank, Uwe (2022): Die beharrliche Mitte – Wenn investive Statusarbeit funktioniert. Wiesbaden, Springer VS.
[6] Nachtwey, Oliver (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne. Berlin, Suhrkamp.
[7] Reckwitz, Andreas (12.10.2024): Das Futur II der Postapokalypse: "Verluste werden eingetreten sein", in: Zeit Online, abrufbar unter: https://www.zeit.de/politik/2024-10/verlust-andreas-reckwitz-fortschritt-postapokalypse-politikpodcast
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