Wendy Brown: Nihilistische Zeiten. Denken mit Max Weber
Die politische Theoretikerin Wendy Brown hat sich mit Max Weber einen sozialwissenschaftlichen Klassiker vorgenommen, den sie für die kritische Auseinandersetzung mit Politik und Gesellschaft anschlussfähig macht, wie Thomas Mirbach in seiner Rezension darlegt. Insbesondere in Webers Konzeption des besonderen Verhältnisses der Sphären von Politik und Wissenschaft sehe Brown eine Inspirationsquelle zur Auseinandersetzung mit jenen nihilistischen Tendenzen, die sowohl zu Zeiten Webers als auch heute eine politische Herausforderung darstellen.
Das Werk von Max Weber, lange Jahre unbestritten von kanonischer Geltung in der Soziologie, scheint heute einiges von seiner Ausstrahlung verloren zu haben. Das verweist, wie Thomas Schwinn (2020: 16 ff.) vermutet, auf generelle Tendenzen einer Klassikerdämmerung in den Sozialwissenschaften, bei denen drei Faktoren eine Rolle spielen: Zersplitterung der Soziologie in eine Vielzahl von Ansätzen und Schulen, Reputationsgewinne empirischer Verfahren gegenüber der Entwicklung von Theorien und nicht zuletzt – gestützt durch die Bologna-Reform – eine Aufwertung der Ausbildungsfunktion von Universitäten zu Lasten theorieorientierter Forschung.
Vor diesem Hintergrund erscheint es bemerkenswert, dass sich Wendy Brown, die mit zahlreichen Arbeiten zur Aktualisierung kritischer Gesellschaftstheorie hervorgetreten ist, in zeitdiagnostischer Absicht Max Weber zuwendet. Kann für diese Intention ausgerechnet Weber – so fragt sie selbst rhetorisch –, der mit seinem staatszentrierten Politikverständnis und seinem methodologischen Objektivitätspostulat „heute nur selten zu den Freunden kritischer Theorie gezählt“ (15) werde, noch als geeignete Referenz gelten? Etliche der kritischen Kommentare zu Webers Werk (vgl. Manow 2020, Müller 2020) seien gewiss begründet, würden aber die „Ambivalenz, Komplexität, Feinsinnigkeit, Originalität und inneren geistigen Konflikte [nicht berücksichtigen], die Weber so außerordentlich wertvoll für ein Denken mit ihm machen“ (16). Die Autorin versteht sich dabei ausdrücklich nicht als Weber-Expertin und möchte mit ihrer Absicht, „um unserer […] verstörten und verstörenden Welt willen mit Weber zu denken“ (33), keinen Beitrag zur Weber-Forschung leisten.
Drei Gründe nennt Brown im Einzelnen, die sie zur aktuellen Auseinandersetzung mit Weber bewogen haben (16 ff.). Weber sei erstens ein düsterer, aber auch ein nüchterner Denker gewesen. Vertraut mit den Logiken der Moderne habe er sich geweigert, den Verlockungen von Fatalismus oder Apokalyptik nachzugeben. Zweitens habe sich Weber in der frühen Zwischenkriegszeit einer Krise des Liberalismus gegenübergesehen, in der sich durchaus Parallelen zur Gegenwart erkennen ließen. Als dritten und für sie wesentlichen Grund bezeichnet Brown Webers entschiedene Bekämpfung von Auswirkungen des Nihilismus in Wissenschaft und Politik. Dies sei in besonderer Weise an seinen späten Vorlesungen „Wissenschaft als Beruf“ [1917] und „Politik als Beruf“ [1919] ablesbar, auf die sich Browns „Denken mit Weber“ konzentriert.
Allerdings ist das von der Autorin durchgängig verwendete Verständnis von Nihilismus als Signum der Moderne erläuterungsbedürftig, zumal sich nicht immer eindeutig entscheiden lässt, wo die Grenze zwischen der Weber-Interpretation und deren Aktualisierung in zeitdiagnostischer Absicht verläuft. Wie weit bei ihr Verständnis von Nihilismus reicht, in dem sich Neoliberalismus-, Kapitalismus- und Rationalitätskritik überlagern, ist daran ablesbar, dass sie neben Nietzsche auch Heidegger, Adorno und Rorty zu den Nihilismustheoretikern zählt (20). Summarisch gesprochen umfasst der Nihilismus der Moderne Brown zufolge defizitäre Reaktionen auf die durch gesellschaftsstrukturelle Prozesse der Rationalisierung und Säkularisierung verursachte Kontingenz von Werten: Diese werden dabei entweder banalisiert, dogmatisiert oder instrumentalisiert (20 ff.). Zu typisch nihilistischen Phänomenen auf der Ebene von Haltungen und Interaktionen im heutigen öffentlichen Leben zählt sie – eine „keineswegs vollständige Liste“ (22) – verantwortungslose Bekundungen von Macht und Begehren, Gleichgültigkeit hinsichtlich des Gesellschaftsvertrags mit anderen und nachfolgenden Generationen und die strategische Drapierung politischer Ziele, mit denen die Vorherrschaft einer „Rasse“, eines Geschlechts oder von Eigentumsrechten behauptet werden. Auf einer eher institutionellen Ebene drückt sich der Nihilismus für sie in der Dominanz einer von ethischen Zwängen gänzlich befreiten instrumentellen Vernunft aus, die letztlich alle Zwecke beliebig mache und sich in nicht mehr kontrollierbaren Apparaten (Kapitalismus, Bürokratie, Technokratie) verkörpere.
Werte seien in der Moderne, weil kontingent und machtbesetzt von Grund auf politisch – so resümiert Brown Webers Argument. Und wenn, wie Weber postulierte, die Sphären Politik, Wissenschaft und Religion jeweils eigenen Handlungslogiken folgten, dann ergeben sich für die Politik spezifische Herausforderungen. Politik sei beides zugleich: Bühne einer beliebigen Politisierung von Werten für partikulare Zwecke und potenziell der Ort, an dem jenseits reinen Interessenhandelns über Werte gestritten werden könne (20). Und weil in ihrer Sicht Weber der Politik das Potential eines postnihilistischen Projektes zugeschrieben habe, befasst sie sich – in Umkehrung der historischen Reihenfolge – zunächst mit der Vorlesung über „Politik als Beruf“.
Mit ihrer Interpretation dieser Vorlesung möchte Brown vor allem „Webers Geniestreich“ (55) plausibel machen, in der Etablierung charismatischer politischer Führung eine Chance zur Überwindung des Nihilismus zu sehen. Ausgangspunkt ist die Nietzsche und Weber zusammenführende Diagnose, die europäische Moderne habe im Zusammenspiel von Vernunft, Wissenschaft, Kapital und Staat jede autoritative Legitimierung von Werten zerstört und sie durch zunehmend beliebige Begründungen ersetzt (44 f.). Diese Entwicklung, die sich überdies „passgenau in das neoliberale Loblied der letzten 50 Jahre“ einfüge (46), habe im Bereich der Politik zu Formen der Hyperpolitisierung und Banalisierung von Werten geführt: „Alles wird ikonisch für gegeneinander antretende politische Weltanschauungen“ und moralische Werte und Wissen würden ihrerseits zu Machtzwecken instrumentalisiert (53). Dagegen hat Weber bekanntlich das Ideal politischer Führung entworfen, die sich gestützt auf Charisma und jenseits von Demagogie, Eitelkeit oder naivem Idealismus durch die verantwortungsethische Berufung an eine „Sache“ verpflichtet sieht (Weber 1977: 49 ff.). Obschon Weber damit eine „nahezu unmögliche Figur“ konstruiere (63), kann sich Brown – ähnlich wie Palonen (1998: 152 ff.) – der Faszination dieses in ihren Augen postnihilistischen Postulats nicht entziehen. Denn Weber habe die Handlungssphäre des Politischen (mit ihren spezifischen Prädikaten Gewalt und Parteilichkeit) an ein Ethos gebunden, das eine „paradoxe Bejahung der Kontingenz der letzten Werte“ darstelle (74). Darin artikuliere sich ein beispielloses „epistemologisch-politisches Bewusstsein“, dem die zeitliche, geographische und soziale Situiertheit der jeweiligen eigenen Werte präsent sei (76). Diese Reflexion des jeweiligen, kontingenten Kontextes ist für Brown Voraussetzung, um Werten im politischen Raum auch in der Moderne neue Geltung verschaffen zu können (80).
Dass die in dieser Deutung enthaltene „Lobrede für Politiker“ (Palonen 2002) – namentlich der Bezug auf den „heroischen Individualismus“ charismatischer Führung (Kraemer 2002: 177) – heute vielen als problematisch erscheint, sieht Brown sehr wohl (83 ff.). Allerdings erhebt sie vor allem gegen eine „progressive“ und sich von populistischen Strömungen abgrenzende Linke den Einwand, einem reduktionistischen Verständnis von Vernunft und Begehren zu folgen. Politische Argumente könnten nur um den Preis von Illusionen als frei von rhetorischer Macht gedacht werden. Einerseits nämlich rücke diese Haltung „linke Werte auf eine Linie mit der Wahrheit“ (84) und schreibe damit Ressentiments immer nur der anderen Seite zu (vgl. Draxler 2024). Andererseits schwäche sich die Linke in der politischen Auseinandersetzung erheblich, wenn sie weiter an der Überzeugung festhalte, „dass lediglich falsches Bewusstsein die Massen davon abhält, ihr wahres Interesse an Gleichheit und Emanzipation zu erkennen“ (86).
Aus der Diskussion von „Politik als Beruf“ leitet Brown zwei Problemstellungen ab, die zur Vorlesung über „Wissenschaft als Beruf“ führen. Wenn politische Weltanschauungen und Werte aus komplexen Bindungen und Wünschen hervorgehen, die ein Begehren umschreiben, dann seien damit erstens Fragen der Ausrichtung von Bildungsprozessen und der Rolle, die Wissenschaft dabei spielen könnte, berührt (89). Zweitens sei die Handlungssphäre der Wissenschaft in ihrem Kern von der nihilistischen Abwertung aller Werte – einschließlich des Wertes von Wahrheit – betroffen (90). Webers Antwort auf diese Fragen, die auf eine „vollumfängliche Entpolitisierung und Säkularisierung der Wissenschaft“ hinauslaufe, stelle jedoch aus heutiger Sicht eine widersprüchliche und letztlich kontraproduktive Reaktion auf die nihilistische Herausforderung dar (97). Brown kritisiert hier zunächst Webers „puristischen“ Wissenschaftsbegriff; möchte er doch mit der Konstruktion von epistemologisch-ontologischen Unterscheidungen – „Wissenschaft/Politik, Tatsachen/Werte, Wahrheit/Urteil“ (109) – die akademische Sphäre im Sinne der Wertfreiheit von unzulässigen Vermischungen mit beliebigen persönlichen Stellungnahmen freihalten. Auch wenn wir heute mit unterschiedlichen Formen von Entdifferenzierungen im Wissenschaftsbetrieb konfrontiert seien – Brown nennt hier eine ins akademische Leben hineinreichende Celebrity-Kultur, diverse Praktiken der Evaluationen von Lehre, wachsende Abhängigkeiten vermarktlichter Universitäten von der Zufriedenheit Studierender (112) – so würde Webers asketisches Ideal „das ‚menschliche’ Element des Wissenstriebs [..] objektivieren anstatt freizusetzen“ (113).
Diesen Einwand verstärkt Brown noch auf methodologischer Ebene. Die dem Postulat der Objektivität folgende Analyse von Werten drohe nicht nur den Kontext auszublenden, in dem sich wissenschaftliche Arbeit faktisch immer vollziehe, sondern nehme auch eine Transformation des Untersuchungsgegenstandes selbst vor. Durch die „Verschiebung des Wertregisters vom Wissenden zum Wissensstoff“ (119) würden Werte formalisiert und rationalisiert (121). Diese methodische Praxis der Rationalisierung führe zu einer fälschlichen, weil scheinhaften Objektivierung: Als Gegenstand der Analyse gerieten Werte nur noch hinsichtlich interner Logik, externer Implikationen und ihrer Fundamentlosigkeit in den Blick (120), aber ihre „psychischen, religiösen oder affektiven Dimensionen“ blieben ausgeklammert (120 f.). Während Weber in „Politik als Beruf“ den politisch Handelnden noch gewisse kompensatorische Befriedigungen über den Dienst an einer Sache zugestanden habe, verwehre er in „Wissenschaft als Beruf“ mit seinen Forderungen nach Objektivität, Methodik und Sachlichkeit den wissenschaftlich Arbeitenden vergleichbare Bestätigungen über die Bindung an einen „den Lauf der Welt verändernden Zweck“ (127). Damit – so resümiert die Autorin pointiert ihre Kritik dieser Vorlesung – kappe Weber „beherzt die auf die Aufklärung zurückgehende Verknüpfung von Wissen und Emanzipation“ (129).
In ihrem Nachwort „Weber und wir“ betont Brown noch einmal, ihr sei es nicht um eine Korrektur der von Weber in den Vorlesungen eingenommenen Perspektiven gegangen – das wäre auf eine „alberne akademische Übung“ hinausgelaufen (149). In erster Linie sollten wir uns heute vom konservativen Weber, der die Trennung von Politik und Wissenschaft verlangte, dazu inspirieren lassen, die Relation beider Bereiche im Sinne einer postnihilistischen Herangehensweise an Werte neu zu überdenken. Dazu würde einerseits ein Verständnis von Gesellschaftstheorie gehören, das im Anschluss an die von Antonio Gramsci, Herbert Marcuse und Stuart Hall vertretenen Perspektiven herrschende Diskurse hinterfragt (143 ff.). Andererseits müssten zwar zur Erhaltung der relativen Autonomie und Integrität des Denkens Hyperpolitisierung des Wissens sowie politisch-ökonomische Abhängigkeiten abgewehrt werden, aber zugleich sollte Wissenschaft ihre gesellschaftliche Verantwortung stärker zur Geltung bringen (155). Und das hieße – Brown bleibt hier freilich sehr allgemein – die Bildungsfunktion von Universitäten gezielt in den übergreifenden Curricula zu verankern. Gemeint ist allerdings nicht Ausbildung für Bedarfe des Arbeitsmarktes. Eine entschiedene Auseinandersetzung mit Werten im Hörsaal, die deren „auf technokratische Weise durch Algorithmen, auf Märkten oder in Gerichten [vorgespielte] Neutralität“ offen legt (156), könnte einen Gegenschlag zum Nihilismus darstellen und Studierende „mit grundlegenden Praktiken umsichtiger Staatsbürgerschaft vertraut machen“ (161).
Fazit
Wendy Brown hat eine ebenso intensive wie anregende Auseinandersetzung mit Webers späten Vorlesungen vorgelegt. Vor allem zwei Aspekte ihrer Interpretation des internen Zusammenhangs von Politikbegriff und Wissenschaftslehre belegen, dass es sich auch heute lohnt, mit Weber weiter zu denken. Einerseits expliziert sie, was es heißt, dass Weber Politik auf Kontingenz fundiert hat und wir mit ihm besser verstehen können, dass Politik kein Spiel gegen, sondern durch die Kontingenz ist (vgl. Palonen 1998). Andererseits gewinnt Weber durch ihre Kontrastierung gegenüber etlichen Phänomenen des „Nihilismus“ – in anderen Theoriesprachen als Verdinglichung, instrumentelle Vernunft, Ökonomisierung, Tribalismus analysiert – auch eine überraschende Aktualität.
Literatur
- Draxler, Helmut (2024): Polarisierung und Ressentiment, in Merkur 78: 896, S. 19 – 27.
- Kraemer, Klaus (2002): Charismatischer Habitus. Zur sozialen Konstruktion symbolischer Macht, in: Berliner Journal für Soziologie 12: 2, S. 173-187.
- Philip, Manow (2020): Max Weber und die Demokratie, in: Leviathan 48: 4, S. 533 – 547.
- Müller, Hans-Peter: »Rasse« und »Nation« – Max Weber als politischer Denker, in:Leviathan, 48: 4, S. 548 – 571.
- Palonen, Kari (1998): Das 'Webersche Moment', Zur Kontingenz des Politischen. Opladen: Westdeutscher Verlag.
- Palonen, Kari (2002): Eine Lobrede für Politiker. Ein Kommentar zu Max Webers "Politik als Beruf", Opladen: Leske + Budrich.
- Schwinn, Thomas (2020): Klassikerdämmerung. 100 Jahre Max Weber im Kontext der Soziologiegeschichte und des aktuellen Zustandes unserer Disziplin, in: Kölne Zeitschrift für Soziologie 72: 4, S. 351–381.
- Weber, Max (1977): Politik als Beruf. Sechste Auflage, Berlin: Duncker & Humblot.
Das Fach Politikwissenschaft
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Weiterführende Links
Wendy Brown / 29.10.2019
Politics and Knowledge in Nihilistic Times: Thinking with Max Weber - “Politics”
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