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Rezension / 16.08.2024

Rahel Jaeggi: Fortschritt und Regression

Berlin, Suhrkamp Verlag 2023

Die Philosophin Rahel Jaeggi möchte das in die Kritik geratene Begriffspaar von Fortschritt und Rückschritt als unverzichtbares Instrument zur Analyse und Kritik gesellschaftlicher Entwicklungen verteidigen. Dazu schlägt sie vor, Fortschritt nicht substanziell vom Ziel her zu denken, sondern prozessual als gesellschaftliche Problemlösungskompetenz zu begreifen. Rezensent Thomas Mirbach findet Jaeggis konzeptionelle Überlegungen überzeugend, vermisst aber eine stärkere Auseinandersetzung mit den „‚aktiven‘ Elementen sozialen Wandels“.

Eine Rezension von Thomas Mirbach 

Folgt man gängigen Formeln der Zeitdiagnose, so ist unsere Gegenwart von Polykrisen geprägt (Tooze 2022). In einer derartigen Stimmungslage wirkt die Rede von Fortschritt bestenfalls naiv. Etliche sozialwissenschaftliche Einschätzungen der Entwicklung von Institutionen oder Gesellschaftssystemen artikulieren wenn nicht dystopische, so doch zutiefst skeptische Perspektiven und in einer Vielzahl einschlägiger Publikationen sind „Rückschritt“, „Erosion“ oder „Regression“ prägnante Leitvokabeln (Geiselberger 2017, Niesen 2023, Brown 2023).

Aber kann man, so fragt Rahel Jaeggi in ihrer jüngsten Studie, entschieden von Regression sprechen, ohne mindestens implizit – und sei es abgrenzend – auf eine Fortschrittsidee Bezug zu nehmen? Deshalb erscheint ihr die verbreitete explizite Fortschrittsskepsis vielfach als „fragwürdige Kombination aus theoretischem Relativismus und politischem Moralismus“ (11). Demgegenüber möchte Jaeggi „Fortschritt“ und „Regression“ als „unverzichtbare Kriterien für die Analyse und Kritik gesellschaftlicher Entwicklungen verteidigen“ (12) und damit zugleich den Begründungsanspruch der Kritischen Theorie – sei es der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule oder der breiter gefassten kritischen Theorien im Plural – stärken (16). Ihre in diesem Zusammenhang relevanten Fragen betreffen den konzeptuellen Rahmen, innerhalb dessen sich Kriterien zur Unterscheidung von Fortschritt und Regression formulieren lassen.

Es geht weder – Jaeggi betont das ausdrücklich (13) – um Aussagen darüber, ob faktische Entwicklungen empirisch als Fortschritt klassifiziert werden können, noch um ein Plädoyer für oder gegen Fortschrittsoptimismus. Theoretisch wie methodologisch schließt Jaeggi mit der vorliegenden Arbeit an ihre frühere Studie „Kritik von Lebensformen“ (2014) an, in der sie sich mit der Normativität und der kontextübergreifenden Kritisierbarkeit von Lebensformen auseinandersetzte.

Warum es den Fortschrittsgedanken trotz allem braucht
Der schrittweisen Entwicklung ihres konzeptuellen Rahmens ist eine Einleitung vorangestellt, die anhand einer Rekapitulation zentraler Dimensionen der Fortschrittssemantik eine Neubestimmung des Fortschrittsbegriffs vorbereiten möchte. In Kürze: So plausibel die Kritik der neueren Sozialphilosophie an Grundannahmen des klassischen, universalistischen Fortschrittsmodells – insbesondere an der Hierarchisierung von Entwicklungsstufen, mit der die ethnozentristische und imperialistische Verflechtung von Wissen und Macht verdeckt werde (26 ff.) – auch erscheinen mag, so würde ein vollständiger Verzicht auf den Fortschrittsgedanken zu einem sozialtheoretischen Defizit führen. Sozialtheorie würde sich damit der Möglichkeit berauben, das Verhältnis von sozialem Wandel und gesellschaftlich-moralischer Entwicklungen kritisch analysieren zu können (38).

Dieser explanatorische Anspruch kritischer Theorie erfordere die Umstellung auf einen nichtteleologischen, pragmatistisch-materialistischen und zugleich pluralen Fortschrittsbegriff, der sozialen Wandel als spezifische Reaktion auf gesellschaftliche Krisen und Widersprüche versteht (38). Damit sind – so Jaeggi – zwei wesentliche konzeptuelle Weichenstellungen verbunden (38 f.). Einerseits könne Fortschritt nur auf der Ebene von Lebensformen – also den komplexen Zusammenhängen sozialer Praktiken – untersucht werden. Andererseits sei Fortschritt nicht mehr substanziell, sondern nur noch prozessual zu fassen; die Einstufungen von Fortschritt/Regression bezögen sich damit auf die Vollzugsform der der sozialen Dynamik zugrunde liegenden Problemlösungsprozesse. Das mit diesen Stichworten umrissene Programm einer Neubestimmung des Fortschrittsbegriffs arbeitet Jaeggi in sechs Kapiteln aus.

Fortschritt im Kontext von Lebensformen
Das erste Kapitel stellt den Charakter des Fortschrittsbegriffs als „dichten, analytisch-deskriptiven Begriff“ heraus, bei dem sich – ähnlich wie bei den Begriffen „Ausbeutung“ oder „Entfremdung“ – die Komponenten der Beschreibung und Bewertung ergänzen (50 f.). In Abgrenzung zu einer deontologischen Sicht, die von der Eigenständigkeit moralischer Entwicklung ausgeht, betont Jaeggi die Priorität des Fortschritts gegenüber dem Guten: „wir verstehen, was das Gute ist, wenn wir den Fortschritt verstehen“ (57). Und weil Fortschritt – das ist die zweite These in diesem Abschnitt – sich auch an Veränderungen in den Mikrostrukturen der Gesellschaft ablesen lassen müsse, sollte er auf die Lern- und Erfahrungsprozesse bezogen werden, mit denen soziale Transformationen als emanzipative Entwicklung identifiziert werden können (62).

Die Frage, ob bei fortschrittlichen sozialen Transformationen eher das Moment der Kontinuität („Reform“) oder das der Diskontinuität („Revolution“) maßgeblich sei, ist Thema des zweiten Kapitels. Anders als die in der Sozialphilosophie diskutierten Sichtweisen, die die Kontinuität betonen – Fortschritt als Erweiterung des Einzugsbereichs bestehender Normen einerseits, institutionelle Vertiefung moralischer Prinzipien andererseits (70 ff.) – plädiert Jaeggi für eine an Hegel anschließende vermittelnde Perspektive. Insofern derartige Transformationen Reaktionen auf bestehende Krisen und Probleme darstellen, könnten sie als Kontinuität aufgefasst werden. Wenn sie aber zugleich einen veränderten Bezugsrahmen zur Interpretation des jeweiligen Institutionengefüges erfordern, handele es sich um Diskontinuitäten (87).

Die im zweiten Kapitel bereits anklingende materialistische Perspektive expliziert Jaeggi im dritten Kapitel unter Rückgriff auf praxistheoretische Begrifflichkeiten am Verhältnis von sozialem Wandel und moralischem Fortschritt. Ihre starke These lautet: Moralischer Fortschritt entfalte sich nicht autonom, sondern nur im „Kontext einer sich verändernden sittlichen Lebensform“ (90). Der von Jaeggi verwendete Begriff der Lebensform (vgl. Jaeggi 2014, 94 ff.) ist materialistisch, nicht kulturalistisch gemeint (119).

Lebensformen seien ein Ensemble von immer schon normativ interpretierten Praktiken, die jeweils in bestimmte materielle Ressourcen eingebettet sind. Dieser pragmatistischen Moralauffassung zufolge ändert sich unsere Auffassung gesellschaftlicher Normalität – Jaeggi diskutiert das beispielhaft am Fall der Sklaverei (91 f.) und an der Entwicklung des Familienrechts (101 ff.) – , wenn es zu Widersprüchen zwischen den Interpretationen, die Lebensformen leiten, und den Rahmenbedingungen sozialer Kooperationen komme. Die darin anklingende Verschränkung des Normativen mit dem Epistemischen (113) belege den Zeitkern von Moral: „Moralischer Fortschritt ist dann nicht ein Fortschritt hin zur Moral […], sondern ein Fortschritt in der Moral“ (117).

Fortschritt als Prozess reflexiver Problemlösung
Die Dynamik sozialen Wandels und zumal das Verhältnis von passiven und aktiven Elementen, also den auf Veränderung drängenden materiellen Umständen und den die Veränderungen betreibenden Akteur:innen, ist Thema des vierten Kapitels. Auch hier verfolgt Jaeggi eine pragmatistische Reformulierung der Marxschen Sicht, dass neue Gesellschaften aus den Krisen der alten Gesellschaft hervorgingen (138 ff.). Zentral ist in diesem Zusammenhang zunächst die These, Lebensformen seien als Problemlösungsinstanzen zu verstehen (145) sowie daran anschließend die Unterscheidung von Problemen erster und zweiter Ordnung (vgl. Jaeggi 2014, 240 ff.).

Während sich Probleme erster Ordnung – pauschal gesprochen – auf laufende Aufgaben sozialer Reproduktion beziehen (die mehr oder minder gut bewältigt werden können), betreffen Probleme zweiter Ordnung das Ensemble von Praktiken und Institutionen, die den Spielraum zur Lösung von Problemen erster Ordnung umschreiben. Zu Fortschritt oder Regression komme es dann, wenn Lebensformen mit intern erzeugten Widersprüchen konfrontiert sind, die sich im Kontext des eingespielten Interpretationsrahmens und der verfügbaren institutionellen Ressourcen nicht lösen ließen. Von diesen Bestimmungen ausgehend erscheint es zwar naheliegend, Fortschritt als Prozess reflexiver Problemlösungen zu konzeptualisieren (150 f.), allerdings bleiben Jaeggis Überlegungen hier noch sehr abstrakt.

Dies zum einen, weil die Kriterien zu klären wären, denen zufolge Transformationen sozialer Strukturen als reflexives Lernen bezeichnet werden könnten. Zum anderen legt die Annahme, sozialer Wandel lasse sich auf Basis praxistheoretischer Begrifflichkeiten als „Folge von aufeinander aufbauenden Problemlösungen“ (166) beschreiben, die Frage nach der impliziten, nicht teleologisch gedachten Entwicklungslogik nahe. Jaeggis Vorschlag zur näheren Charakterisierung derartiger Abfolgen ist elegant, aber außerordentlich interpretationsbedürftig: Progressive bzw. regressive Entwicklungslinien seien „kontingent, aber nicht beliebig. Sie folgen […] einer Logik von aufeinander aufbauenden und sich voraussetzenden Möglichkeiten, die aber nicht (deterministisch gefasst) zwangsläufig zur Wirklichkeit werden müssen“ (168).

Für einen prozeduralen Fortschrittsbegriff
Das fünfte Kapitel greift den eigentlichen Streitpunkt der Fortschrittsproblematik mit einer von Robert Musil inspirierten Wendung auf. Weil jeder Fortschritt zugleich ein Rückschritt sei – so heißt es im „Mann ohne Eigenschaften“ – könnten wir von Fortschritt immer nur in einem bestimmten, nicht aber in einem übergreifenden Sinn sprechen (Musil 1970, 496 f.). Diese letztlich relativistische Sicht, die fortschrittliche Veränderungen – ob in technischer oder sozialer Hinsicht – nur auf einen spezifischen, sektoralen Kontext beziehen wolle, sei nicht nur trivial, sondern auch redundant, so Jaeggi. Weil damit jeweils ein bestimmtes partikulares Ziel als Referenzpunkt der Bewertung vorausgesetzt werde, drohe ein infiniter Regress, „der sich nur dezisionistisch stoppen“ lasse (181).

Einen Ausweg aus diesem Dilemma sieht Jaeggi nur in der Umstellung der Fragerichtung. Fortschritt lasse sich nicht substanziell, also in der objektivierenden Orientierung an der Erreichung gesetzter Ziele, sondern nur prozedural bestimmen (171). Maßgeblich sei die (regressive oder progressive) Vollzugsform sozialer Transformationen, denn „Gesellschaften als solche [haben] kein Ziel. Sie lösen Probleme“ (186). Eine fortschrittliche Vollzugsform sollte sich demnach als Anreicherungsprozess beschreiben lassen können, der in Krisensituationen Reflexivität ermögliche, auf Basis eines erweiterten Situations- und Selbstverständnisses für eine Zunahme an Komplexität stehe und neue Handlungsoptionen eröffne (192 f.).

Die Kriterien aber – hier schließt Jaeggi direkt an Adorno an (1969) – mit denen das Gelingen sozialer Transformationen zu bestimmen wäre, würden sich ex negativo ergeben (197 f.). Die Frage nach dem Fortschritt verschiebe sich damit auf die Analyse jener regressiven Faktoren, die – beispielsweise durch ideologische Verzerrungen, Erfahrungsarmut, Entfremdung, kollektive Handlungsblockaden – rationale gesellschaftliche Problemlösungen systematisch verhindern.

Die „interne Grammatik“ der Regression
Das letzte, sechste Kapitel befasst sich mit der „internen Grammatik“ der Regression im Sozialen (218). Nach ihrer bisherigen Argumentation ist es für Jaeggi naheliegend, Regression als fortschrittskomplementäres Interpretationsschema zu konzeptualisieren (was unvermeidlich zu Wiederholungen führt). Zusammengefasst heißt das: Angesichts intern erzeugter gesellschaftlicher Widersprüche sind Regressionen strukturelle Lernblockaden. Sie unterscheiden sich von Rückschritten, die temporär auf äußeren Hindernissen beruhen ebenso wie von bloß nostalgischen Rückgriffen auf Vergangenes. Maßgeblich ist vielmehr ihre Funktion, unlösbar scheinende Spannungen „zwischen erkannten Problemen und der gesellschaftlich verstellten Möglichkeit, angemessen auf sie zu reagieren“, zu verdrängen (223).

In Analogie zum psychoanalytischen Konzept betreffe Regression einen defizitären, weil praktische Autonomie behindernden Modus der Auseinandersetzung mit Realität (214 ff., 237 f.). Dieses prozessuale Verständnis von Regressionen bilde ein „unverzichtbares Werkzeug einer kritischen Theorie“, denn es eröffne Raum für „explanatorische und analytische Fragen“ (245). Diese starke These versucht Jaeggi abschließend an der Differenz zum Hegemoniekonzept zu erläutern. Die aktuelle „Zunahme autoritärer Tendenzen und die zunehmende Feindschaft gegenüber Prozessen kultureller Liberalisierung“ könne sehr wohl als Hegemoniegewinn bestimmter sozialer Gruppen bestimmt und damit unter dem Fokus der Verschiebung von Machtverhältnissen untersucht werden (239).

Eine regressionstheoretische Perspektive würde demgegenüber aber darauf beharren, dass sich in derartigen Konstellationen „nicht lediglich agonal verfasste unterschiedliche Interessenlagen“ zeigen, sondern eine „in irgendeinem Sinne gemeinsame Situation“ ausdrückt (240). Das ‚Gemeinsame der Situation’ verweist noch einmal auf die Idee der in Lebensformen verkörperten Problemlösungen und wäre im Fall von Regressionen an der Art kollektiver Reaktionen auf widersprüchliche soziale Dynamiken zu erkennen, die sich als „Krise[n] der Lösung von Krisen“ identifizieren ließen (243). Pointierter gefasst – und wiederum mit Adorno – Regressionen sind Verrat am Möglichen (245).

Fazit: Wer treibt sozialen Wandel aktiv voran?
Jaeggis Studie ist eine spannende und sehr anregende Auseinandersetzung mit der aktuellen Fortschrittsskepsis. Ihre kritische Diskussion relativistischer Positionen, die allenfalls Fortschritte in partikularer Ausprägung gelten lassen, sind überzeugend. Ihr Vorschlag, Fortschritt und analog Regression prozedural zu fassen, dürfte Ambitionen kritischer Theorien bereichern. Dies vor allem, weil ihre konzeptuellen Überlegungen dazu beitragen, die strukturelle Blockierung des durch die Moderne erschlossenen Möglichkeitshorizontes (vgl. Schauer 2023) begrifflich genauer zu fassen.

Allerdings bleiben in ihrer pragmatistischen Konzeption sozialer Transformationen als (kollektiven) Problemlösungsprozessen die „aktiven“ Elemente sozialen Wandels eher blass. Das betrifft weniger den explanatorischen als vielmehr den analytischen Anspruch ihrer Argumentation. Denn wenn bei Problemen zweiter Ordnung – die sich auf systeminterne strukturelle Widersprüche beziehen – davon auszugehen ist, dass nicht nur die Problembeschreibungen, sondern auch mögliche Problemlösungen kontrovers sind, dann müsste die Konfliktdynamik genauer gefasst werden, in denen sich die Suche nach Problemlösungen vollzieht.


Literatur

  • Adorno, Theodor W. (1969): Stichworte. Kritische Modelle 2. Frankfurt am Main Suhrkamp.
  • Brown, Wendy: Nihilistische Zeiten. Denken mit Max Weber. Berlin, Suhrkamp Verlag 2023.
  • Geiselberger, Heinrich (Hg.) (2017): Die große Regression. Eine internationale Debatte über die geistige Situation der Zeit. Berlin Suhrkamp.
  • Jaeggi, Rahel (2014): Kritik von Lebensformen. Berlin Suhrkamp.
  • Jaeggi, Rahel (2023): Fortschritt und Regression. Berlin Suhrkamp.
  • Musil, Robert (1970): Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek/Hamburg Rowohlt.
  • Niesen, Peter (Hg.) (2023) Zur Diagnose demokratischer Regression. Leviathan Sonderband 40.
  • Schauer, Alexandra (2023): "Mensch ohne Welt". Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung. Berlin Suhrkamp Verlag.
  • Tooze, Adam (2022): Kawumm! Die Krisen dieser Tage überlagern und verstärken sich gegenseitig. In: DIE Zeit Nr. 29, online einsehbar unter: (https://www.zeit.de/2022/29/krisenzeiten-krieg-ukraine-oel-polykrise; Abruf 02.02.2024)

DOI: https://doi.org/10.36206/REZ24.18
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