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Rezension / 31.10.2024

Manfred Berg: Das gespaltene Haus: Eine Geschichte der Vereinigten Staaten von 1950 bis heute

Stuttgart, Klett-Cotta Verlag 2024

Manfred Berg, Professor für amerikanische Geschichte in Heidelberg, zeichnet die lange Geschichte einer fortschreitenden Spaltung in den USA nach, die das Land „in die schwerste Krise seit dem Bürgerkrieg“ geführt hat. Berg zeigt, wie der „liberale Konsens“ in den 1960er Jahren zerbrach, wie die Globalisierung die Vereinigten Staaten dramatisch veränderte und zu einem Polarisierungs- und Radikalisierungsschub beitrug, der vor allem das konservative Milieu erfasste. Rezensent Michael Kolkmann von der Universität Halle, spezialisiert auf das politische System der USA, lobt das Werk mit Blick auf die US-Wahlen als „Buch der Stunde“.

Eine Rezension von Michael Kolkmann

Während der Präsidentschaftswahlkampf in den Vereinigten Staaten nach dem Wechsel von Joe Biden zu Kamala Harris und den beiden Parteitagen in die heiße Phase eingetreten ist, bleibt die parteipolitische Polarisierung im Land ein wissenschaftliches Dauerthema. Und auch mit Blick auf das Wahlergebnis im November 2024 wird sicherlich wieder die Rede von der „Fifty-fifty Nation“ und von „Blue and Red America“ sein. Der Historiker Manfred Berg erzählt daher in seinem neuesten Buch die Geschichte der Vereinigten Staaten seit den 1950er-Jahren als die Geschichte eines „gespaltenen Hauses“. Damit rekurriert er auf ein Zitat Abraham Lincolns, der mit Verweis auf das Markus-Evangelium bereits im Juni 1858 postulierte: „A house divided against itself, cannot stand“ (13).

Berg ist seit 2005 Professor für Amerikanische Geschichte an der Universität Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung, die „Rassenbeziehungen“ in den Vereinigten Staaten sowie die ganz allgemeine Politikgeschichte der USA. So ist es kein Zufall, dass diese Themen auch in der vorliegenden Untersuchung immer wieder prominent im Mittelpunkt stehen. Insgesamt fünf Jahre hat Berg an diesem Werk gearbeitet. Entstanden ist eine äußerst vielschichtige, mit fast 550 Seiten sehr ausführliche und informierte Darstellung von Politik und Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten. Berg ist überzeugt: Die Geschichte der politischen Polarisierung in den USA muss als „lange Geschichte“ (9) erzählt werden.

Ausgangspunkt ist für ihn das Amerika der 1950er-Jahre, „als die Amerikaner ihre politische Ordnung und ihr Gesellschaftsmodell als Vorbild einer konsensorientierten Staatsbürgerkultur betrachteten. Der Grund dafür sei nicht, dass die beiden ersten Nachkriegsjahrzehnte tatsächlich ein ‚goldenes Zeitalter‘ gewesen wären, sondern dass sich viele der Konflikte, die Amerika in der Gegenwart spalten, nur verstehen ließen, wenn man ihre Wurzeln freilegt, die bis in die 1950er- und 1960er-Jahre zurückreichen“ (9). Berg betont eingangs, dass sich im vorliegenden Buch auch seine eigene Zeitgenossenschaft spiegelt: „Die Fernsehbilder aus dem Vietnamkrieg gehören zu meinen frühesten Kindheitserinnerungen“ (9). Als Wissenschaftler war Berg mehrfach selbst in den USA, etwa für mehrere Jahre am Deutschen Historischen Institut in Washington DC.

Inzwischen ist laut Berg jedoch unübersehbar, „dass das amerikanische Selbstbild von der gefestigten, reifen Demokratie nachhaltig erschüttert ist“ (10). Daher sei es sein Anliegen, „zu erzählen und zu erklären, wie und warum die amerikanische Demokratie in die schwerste Krise seit dem Bürgerkrieg geraten ist“ (ebd.). Wer von diesem Buch jedoch Reformansätze erwartet, wird vom Autor gleich auf den ersten Seiten eines Besseren belehrt: „Manche Leser mögen überrascht sein, dass ich keine Lösungsvorschläge für die Krise der amerikanischen Demokratie anbiete, doch halte ich weder rück- noch vorausschauenden Problemlösungsoptimismus für eine Pflicht des Historikers“ (ebd.).

Als zentrale Frage des Buches formuliert Berg die folgende: „Wie konnte es dazu kommen, dass die USA, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Modell einer konsensorientierten Staatsbürgerkultur galten, zum Krisenfall der Demokratie geworden sind?“ (14) Berücksichtigt werden dabei in der folgenden Analyse die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Konflikte, die das zeitgenössische Amerika prägen, deren Wurzeln aber bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts zurückzuverfolgen sind. Diese langfristige Perspektive soll „Kontinuitäten, Zäsuren und Möglichkeitshorizonte“ (14) sichtbar machen.

Berg betont, dass die Polarisierung „kein linearer Prozess“ (14) gewesen sei. Die 1980er- und 1990er-Jahre zum Beispiel erlebten demnach viele Amerikaner*innen als eine Zeit politischer Stabilität und wirtschaftlicher Prosperität, während sich ein (neues) Krisenbewusstsein erst nach der Wende zum 21. Jahrhundert voll entfaltete (vgl. 14). Chronologisch orientiert sich Bergs Argumentation an den einzelnen Präsidentschaften. Er betont direkt zu Beginn, dass dies „kein Bekenntnis zu einer ‚altmodischen‘ Politikgeschichte ‚großer Männer‘“ sei. Vielmehr sei dieses Vorgehen der großen Bedeutung geschuldet, die diese Institution im Verlauf der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewonnen habe (vgl. 16).

Einen dezidiert politikwissenschaftlichen Ansatz betont der Historiker Berg, wenn er mit Blick auf sein Vorhaben festhält: „Politikgeschichtsschreibung verbindet die historische Erzählung, in deren Zentrum handelnde Personen stehen, mit der Analyse der materiellen, institutionellen und kulturellen Strukturen und Rahmenbedingungen von Politik“ (16). Hier greift er auf zentrale Ansätze der Politikwissenschaft zurück, bei denen Institutionen und Akteure für die Analyse miteinander verbunden werden. Auch an anderen vielen Stellen, an denen Berg auf zentrale Bestimmungsfaktoren des politischen Systems sowie des politischen Prozesses eingeht, ergeben sich direkte Anschlussmöglichkeiten für die sozialwissenschaftliche Forschung.

In einem ersten Kapitel legt Berg sein Augenmerk auf den Begriff der politischen Polarisierung und thematisiert zugleich wichtige Aspekte der Politik in den USA. Er stellt heraus, dass „scharfer Meinungsstreit, polemische Zuspitzung und harter Wettbewerb um politische Macht ebenso zur Demokratie“ gehörten „wie klare ideologische, personelle und parteipolitische Alternativen“ (17). Er schreibt aber auch: „Problematisch und destruktiv werde Polarisierung dann, wenn sie zu einer Spaltung in verfeindete Lager führt, die kaum noch zu Kompromissen fähig sind, weil nicht bloß Interessen und sachliche Überzeugungen, sondern fundamentale Werte, Identitäten und Lebensweisen auf dem Spiel zu stehen scheinen“ (17). Eine solche „bösartige“ Polarisierung, so Berg weiter, entstehe aber nicht von allein, sondern werde von politischen Führer*innen gezielt geschürt. Die Soziologen Steffen Mau, Thomas Lux und Linus Westheuser bezeichnen diese Akteure in ihrem Buch „Triggerpunkte“ (2023) als „Polarisierungsunternehmer“. Polarisierung sei auch nicht mehr, schreibt Berg weiter, wie vor einigen Jahren angenommen, auf die politischen Eliten und Medien beschränkt. Meinungsumfragen und sozialwissenschaftliche Studien belegten, „dass eine große Mehrheit der US-Bevölkerung die sich verschärfende Polarisierung einerseits mit großer Sorge betrachtet, sich andererseits aber bereitwillig den antagonistischen Lagern zuordnet“ (17 f.). Nicht nur hätten Republikaner und Demokraten in zahlreichen sachlichen Fragen divergierende Auffassungen, sie belegen sich zudem gegenseitig mit negativen Attributen wie „unmoralisch“ oder „unpatriotisch“ (vgl. 18).

Gegliedert ist das Buch in drei große Kapitel. Im ersten Teil stehen unter der Überschrift „Der Zerfall des Liberalen Konsenses“ die Jahre 1960 bis 1980 im Fokus des Autors (29 ff.). Ausgehend von einer Skizze des goldenen Zeitalters der Konsensdemokratie beschreibt er mit „New Frontiers – Great Society“ den „Zenit des amerikanischen Liberalismus“ (47). Ein weiterer Schwerpunkt in diesem Kapitel ist der Vietnamkrieg sowie die beginnende Spaltung der amerikanischen Gesellschaft. Unter „Black Power – White Backlash“ (89) geht es um die Polarisierung der „Rassenbeziehungen“. Im Kapitel „Radical Sixties“ (111) legt Berg sein Augenmerk auf die Kulturrevolution der 1960er-Jahre und diskutiert ihre politischen Konsequenzen. Mit „Bring US together“ (135) fokussiert Berg auf Präsident Richard Nixon und seine Feinde. Das Jahrzehnt der “Malaise” während der 1970er-Jahre ist abschließend in diesem Kapitel mit „Crisis of Confidence“ (159) überschrieben.

Um die „Triebkräfte der Polarisierung schärfer zu konturieren“ (14), ist der zweite Teil systematisch entlang der einschlägigen Konfliktfelder gestaltet. Dieser umfasst unter der Überschrift „Transformation der amerikanischen Gesellschaft im Zeitalter der Globalisierung“ (181 ff.) zunächst die Krise des „American Dream“ (183), anschließend beschreibt er Einwanderung und den demografischen Wandel in den Vereinigten Staaten („Your Poor, Your Huddled Masses“, 203). Unter der Frage „Two nations?“ (227) beschreibt er die weiße Mehrheit und die schwarze Minderheit während der Bürgerrechtsära. Danach beleuchtet Berg unter der Überschrift „For the Soul of America“ die „Schlachtfelder der Geschlechter- und Kulturkriege“ (253). Hinzu kommen mit Fokus auf „Echokammern“ (289) eine Darstellung der Erosion des öffentlichen Vertrauens und die Fragmentierung der Öffentlichkeit sowie der „amerikanische Waffenkult“ und die Radikalisierung des rechten Randes („Feuer frei für freie Bürger“, 309).

Im dritten Teil stellt Berg den „Weg in die Polarisierung“ (335 ff.) in den Mittelpunkt seiner Betrachtung. Berg ist überzeugt: Das „Hochgefühl über den Triumph im Kalten Krieg währte nur kurz, denn nach dem Ende des Systemkonflikts mit dem Ostblock erodierte das Fundament, auf dem die außen- und innenpolitische Konsensbildung jahrzehntelang beruht hatte“ (15). Auch 9/11 einte die Nation höchstens kurzfristig. Danach schlugen die zentrifugalen Kräfte der Globalisierung durch und „schufen den Resonanzboden für die populistische Revolte, die Donald Trump ins Weiße Haus trug“ (15). Diese Entwicklungen spiegeln sich im dritten Teil des Buches wider. Berg beginnt mit der „Blütezeit des Neoliberalismus in der Ära Reagan-Clinton“ (337), berücksichtigt die Epoche von 9/11 einschließlich des Kriegs gegen den Terror (359) und beschreibt die Suche von Barack Obama nach einem neuen Konsens („A More Perfect Union“, 377) sowie die Amtszeit von Donald Trump („Make America Great Again“, 395).

Im Epilog des Buches (427 ff.) steht die konkrete Frage im Mittelpunkt, ob die USA vor einem Bürgerkrieg stehen. So erschreckend dieses Szenario laut Berg erscheinen mag, „allein der Umstand, dass ernsthaft über Analogien zwischen der Vorgeschichte des Bürgerkrieges und den Konflikten der Gegenwart diskutiert wird, ist ein Symptom dafür, wie weit die Polarisierung in den USA fortgeschritten ist“ (13). Am Ende bleibt als Hoffnung nur dies: „Die Szenarien für die kommenden Jahre…stimmen pessimistisch, aber glücklicherweise erleben Pessimisten nur erfreuliche Überraschungen“ (17).

Was das Buch über die geschilderten und umfangreich ausgefallenen empirischen Befunde hinaus so lesenswert macht (und von anderen Werken unterscheidet), ist das besonnene, begründete und nachvollziehbare Urteil des Autors bezüglich bisheriger Forschungsergebnisse anderer Autoren*innen. Immer wieder greift er auf diese Autor*innen zurück und seziert deren Urteil, er wägt unterschiedliche Standpunkte gegeneinander ab, kritisiert Einschätzungen aus der (vorwiegend amerikanischen) Forschung wenn nötig und erweist sich damit als ein Autor, der sich souverän durch sein Fachgebiet bewegt. Hervorzuheben ist zudem, dass sich der Fokus des Buches nicht nur auf die politische Geschichte der Vereinigten Staaten beschränkt. Vielmehr werden auch gesellschaftliche, kulturelle und soziale Themenfelder berücksichtigt – bis hin zu Sport, Stadtentwicklung und Infrastruktur. Am Ende erweist sich das Buch als ein umfangreiches, detailliertes und quellengesättigtes Kompendium voller Zahlen, Daten und Fakten aus unterschiedlichsten Politikfeldern. Und auch die eine oder aussagekräftige Anekdote darf in diesem bunten Themenstrauß nicht fehlen – was die Lektüre nicht nur unterhaltsamer macht, sondern auf diese Weise werden eher trockene Gegenstände wie der Gesetzgebungsprozess, die Arbeit der Bürokratie oder interne inhaltliche Diskussionen der einzelnen Parteien illustriert.

Hilfreich ist auch ein gelegentlicher Vergleich mit anderen politischen Systemen und Gesellschaften, gerade weil sich Amerikas Institutionen und Traditionen „markant“ (20) von denen Kontinentaleuropas und denen Deutschlands unterscheiden. Dabei betont Berg, - und hier schlägt er erneut den Bogen hin zu einer durchaus auch politikwissenschaftlichen Perspektive, - dass sich das Regierungssystem mit seinen „Checks and Balances“ aus einer Verfassung ergibt, die aus dem späten 18. Jahrhundert stammt, um durch Gewaltenteilung und Machtdiffusion eine zu starke Machtkonzentration zu verhindern. In mancherlei Hinsicht funktioniert dieses System heutzutage nicht mehr reibungslos. Gelegentlich wird - in Anlehnung an das berühmte Diktum von Alexis de Tocqueville von der „Tyrannei der Mehrheit“, die die Verfassung verhindern sollte - von einer „Tyrannei der Minderheit“ gesprochen (vgl. 22, mit Verweis auf Steven Levitsky und Daniel Ziblatt und ihrem gleichnamigen Werk). Zum Beispiel sind Präsidentschaftswahlen nur noch in wenigen Bundesstaaten wirklich kompetitiv, sodass die Entscheidung am Ende in gerade einmal sechs bis acht Swing States fällt. Oder der Blick auf den Senat: Durch die Bevölkerungsverteilung und den Fakt, dass alle Bundesstaaten gleichermaßen mit zwei Senator*innen vertreten sind, ist etwa Kalifornien mit 40 Millionen Einwohner*innen mit zwei Stimmen im Senat vertreten. Ebenso viele Menschen leben in den zwanzig Bundestaaten mit der geringsten Bevölkerung, die allerdings auf 40 Stimmen im Senat kommen. Zementiert werden zentrale Bestimmungen in der Verfassung darüber hinaus durch die Tatsache, dass es für deren Änderung Zwei-Drittel-Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses sowie einer Drei-Viertel-Mehrheit der Bundesstaaten bedarf. Sprich: Bereits 13 Bundesstaaten können als Sperrminorität fungieren.

Der entscheidende Punkt des Buches ist zusammengefasst wohl dieser: Die Vereinigten Staaten verfügen über ein politisches System, das nicht auf das Durchregieren, sondern auf Machtkontrolle ausgerichtet ist: „Aber weil das Regierungssystem so fragmentiert ist, erfordert sein Funktionieren auch ein besonders hohes Maß an Zusammenarbeit zwischen den Gewalten, Institutionen und Parteien“ (23). Genau das wird aber durch die politische Polarisierung erschwert bzw. fast unmöglich gemacht. Das Resultat sei allzu oft der „gridlock“ (ebd.), also der politische Stillstand. Als beide Parteien in inhaltlicher Hinsicht wie beim Blick auf ihre Wählergruppen noch große Zelte („big tents“) waren, war ein Kompromiss zwischen beiden Parteien einfach(er) zu bewerkstelligen. Mit Blick auf die häufig gestellte Frage einer „asymmetrischen“ (18) Polarisierung ist für Berg klar, dass sich die Republikaner (noch) stärker polarisiert haben als die Demokraten: „Die Radikalisierung des amerikanischen Konservatismus und der Republikanischen Partei, eines der zentralen Themen dieses Buches, ist aus meiner Sicht ein Unglück, weil die Demokratie eine verfassungstreue und regierungsfähige konservative Partei braucht“ (10).

Ein umfangreicher Anmerkungsapparat sowie ein ausführliches und detailliertes Quellenverzeichnis beschließen das Buch und regen zugleich zum Weiterlesen an. Gerade in der Zusammenschau aktueller Ereignisse und Prozesse mit längerfristigen politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen erweist sich „Das gespaltene Haus“ von Manfred Berg als ein großer Wurf, was es angesichts des laufenden Wahlkampfes in den USA mit Blick auf dessen Analyse und Einordnung in größere Kontexte als das Buch der Stunde erscheinen lässt.



DOI: 10.36206/REZ24.34
CC-BY-NC-SA
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