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Rezension / 18.11.2024

Maximilian Steinbeis: Die verwundbare Demokratie. Strategien gegen die populistische Übernahme

Hanser Literaturverlage, München 2024

Der Gründer des Verfassungsblogs und Leiter dessen „Thüringen-Projekts“, Maximilian Steinbeis, analysiert, mit welchen Strategien autoritär-populistische Kräfte demokratische Systeme gezielt unterminieren. Unser Rezensent Frank Decker lobt, dass das „überzeugend argumentierende, empirisch gut unterfütterte und zudem brillant geschriebene Buch“ zur rechten Zeit kommt. Wer sich mit dem Bestand und der Sicherung der deutschen Demokratie auf Bundes- und Länderebene im Besonderen und mit demokratischer Resilienz im Allgemeinen auseinandersetzen wolle, komme an ihm nicht vorbei.

Eine Rezension von Frank Decker

Der 26. September 2024 war ein denkwürdiger Tag in der deutschen Parlamentsgeschichte. Auf offener Bühne und im Fernsehen live verfolgbar, führte die AfD in der konstituierenden Sitzung des Thüringer Landtags ein Lehrstück in Sachen Obstruktion auf. Der Geschäftsordnung gemäß oblag die Leitung der Sitzung dem an Jahren ältesten Mitglied des Parlaments, das mit Jürgen Treutler von der AfD gestellt wurde. Dieser nutzte sein Amt, um die von den anderen Parteien geplante Neuregelung des Verfahrens bei der Wahl Landtagspräsidenten rechtsmissbräuchlich zu unterbinden. Nach der bestehenden Regelung hätte der AfD das Vorschlagsrecht als stärkste Fraktion nicht nur im ersten Wahlgang, sondern – nach ihrer Lesart – auch für alle nachfolgenden Wahlgänge zugestanden. Jetzt sollte der Passus nach dem Willen der anderen Parteien dahingehend geändert werden, dass bereits im ersten Wahlgang alle Fraktionen Vorschläge machen können.

Zur Abstimmung über den Antrag kam es allerdings nicht, da sich der Alterspräsident trotz wiederholter Mahnung (auch des Landtagsdirektors) weigerte, die dafür notwendige Feststellung der Beschlussfähigkeit vornehmen zu lassen. Die Sitzung, die mehrfach unterbrochen werden musste, endete im Tumult. Die CDU rief schließlich das Thüringer Verfassungsgericht an, das die Verfassungswidrigkeit der Amtsführung des AfD-Alterspräsidenten in einer Eilentscheidung wie erwartbar bestätigte.

Als die Sitzung einen Tag später fortgesetzt wurde, hielt sich der Alterspräsident an die Vorgaben des Gerichts. Dennoch hatte die AfD durch ihr Verhalten ein wichtiges Ziel erreicht, nämlich öffentlichkeitswirksam zu demonstrieren, dass sie gewillt und imstande ist, die Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen zu unterminieren. Nichts anderes ist das Wesen der Obstruktion. Allein, im speziellen Thüringer Fall hätte sich das Chaos der konstituierenden Sitzung durchaus vermeiden lassen. Die Parteien konnten ja damit rechnen, dass die AfD stärkste Partei werden, mit mehr als einem Drittel der Mandate eine Sperrminorität erringen und mit dem ältesten Abgeordneten den Alterspräsidenten stellen würde. Mehr noch: Sie waren auf dieses Szenario und die sich für die AfD daraus ergebenden Missbrauchsmöglichkeiten durch die wissenschaftliche Expertise des sogenannten „Thüringen-Projekts“ bis ins kleinste Detail vorbereitet worden. Konkrete Empfehlungen, wie man sich dagegen rüsten könnte, waren im April, also noch in der alten Legislaturperiode, von dessen Autorinnen und Autoren im Landtag vorgestellt worden. Obwohl sie aus der Rückschau betrachtet ins Schwarze trafen, fanden sie bei den Abgeordneten kein Gehör.

Das internationale Drehbuch der autoritären Populisten

Der Leiter des „Thüringen-Projekts“, der Jurist Maximilian Steinbeis, hat sich als Begründer und Betreiber des „Verfassungsblogs“ einen Namen gemacht. Diese Plattform hat sich inzwischen zu einer der wichtigsten Informationsquellen nicht nur des nationalen, sondern auch des vergleichenden Verfassungsrechts entwickelt. Die zahlreichen Beiträge, die dort in den letzten Jahren zu den autoritären Umgestaltungsversuchen demokratischer Verfassungen in Polen, Ungarn, den USA und weiteren Ländern publiziert wurden, bilden als Vorstudien eine wichtige Grundlage für das vorliegende Buch. Dessen zentrales Thema sind die Lehren, die aus diesen Erfahrungen für den Bestand und die Sicherung der deutschen Demokratie auf Bundes- wie Länderebene zu ziehen sind.

Am Beispiel Ungarns und Polens stellt der Autor eingangs zunächst das Drehbuch dar, nach dem die mit einem demokratischen Wahrheits- und Absolutheitsanspruch auftretenden autoritären Populisten bei der Aushöhlung und Abwicklung der freiheitlichen Ordnungen verfahren. Eine Schlüsselrolle kommt der Verfassungsgerichtsbarkeit zu, die im Gewaltenteilungsgefüge das maßgebliche Gegengewicht zur Legislative und zur Exekutive bildet. Mit ihrer Entmachtung bzw. parteipolitischen Gleichschaltung wird der Weg für „Reformen“ der Verfassung, des Wahlregimes, des Justizapparats und des Medienpluralismus geebnet. Diese verfolgen allesamt das Ziel, die Opposition in ihren Wirkungsmöglichkeiten so stark zu beschränken, dass die Regierungsmacht der Populisten auf Dauer gestellt und die Umwandlung der liberalen in eine illiberale, autoritäre Demokratie vollendet werden kann. Die Populisten gehen bei der Umgestaltung insofern geschickt vor, als sie die Reformen nicht alle auf einen Schlag, sondern schrittweise betreiben, sodass ihre Tragweite für die Bürgerinnen und Bürger häufig gar nicht erkennbar ist. Steinbeis verwendet dafür das Bild des Frosches im Kochtopf, der nicht bemerkt, wie die Temperatur langsam steigt. An den Beispielen Indiens, Italiens und Israels macht er deutlich, wie eine solche Strategie funktioniert.

Was wäre, wenn? Szenarien des Machtmissbrauchs demokratiefeindlicher Kräfte

Die ausländischen Erfahrungen zeigen zugleich, dass die Populisten ihre Umgestaltungspläne nicht erst nach Übernahme der Regierungsmacht verfolgen, sondern bereits aus der Oppositionsrolle heraus. Dort können sie die ihnen im Parlament zustehenden Rechte einsetzen, um die Funktionsweise und -fähigkeit der demokratischen Institutionen zu untergraben. Beispiele sind die Feststellung der Beschlussfähigkeit oder die Nutzung der parlamentarischen Fragerechte. Von beiden Möglichkeiten macht die AfD im Bundestag und in den Landtagen häufig und übermäßig Gebrauch. Insbesondere bei den Fragerechten geht es ihr dabei offensichtlich darum, die Personalkapazitäten der Ministerien zu strapazieren. Ein Einfallstor für parlamentarische Obstruktion bietet nach Steinbeis‘ Ansicht das durchaus machtvolle Amt des Landtagspräsidenten/der Landtagspräsidentin. Es könnte der AfD verschlossen werden, indem man durch eine Klarstellung in den Geschäftsordnungen Sorge trägt, dass das Amt nicht mehr automatisch einem Vertreter der stärksten Fraktion zusteht, wie es der bisherigen parlamentarischen Tradition in Deutschland entspricht. Am Beispiel Thüringens illustriert der Autor des Weiteren die Fallstricke, die das nicht klar geregelte Wahlverfahren des Ministerpräsidenten birgt. Schließlich stellt er die Blockademöglichkeiten dar, die sich für die Populisten durch das Erlangen der Sperrminorität von einem Drittel der Parlamentssitze ergeben. Sie betreffen vor allem Verfassungsänderungen und die Richterwahl.     

Blendet man von der Legislative zur Exekutive und Verwaltung über, so ist das Szenario einer „Machtübernahme“ der AfD bisher nur auf der kommunalen Ebene in einem einzelnen Landkreis – im südthüringischen Sonneberg – eingetreten. Auf der Landesebene mag es noch in Ferne stehen, auch wenn die „Brandmauer“ zur AfD längst Risse aufweist und von manchen CDU-Abgeordneten offen in Frage gestellt wird. Welche Möglichkeiten hätte eine Landesregierung, an der die AfD beteiligt ist oder die sie sogar anführt? Was Steinbeis hier zusammen mit seinen Mitarbeitern in beeindruckender Systematisierung an Erkenntnissen aneinanderreiht, lässt einem gelegentlich den Atem stocken. Es reicht von der Besetzung des Beamtenapparats und hier vor allem der politischen Beamten an der Spitze der Ministerialbürokratie und obersten Behörden (zu denen in Ländern wie Thüringen auch der Verfassungsschutz und die Polizeidirektion gehört) über die personelle Einflussnahme auf die Justiz, die Änderung der von den Ländern zu regelnden Versammlungsgesetze, die Regulierung der Medien (einschließlich der möglichen Kündigung der Staatsverträge über den öffentlich-rechtlichen Rundfunk), die Schaffung eines die eigenen Chancen begünstigenden maßgeschneiderten Wahlsystems bis hin zu steuernden Eingriffen in das Schul- und Erziehungswesen sowie die Kunst- und Wissenschaftsfreiheit. Mit Blick auf letztere lässt sich Steinbeis leider zu politisch tendenziöser Kritik an der bereits heute angeblich bestehenden Einschränkung der Meinungsfreiheit durch sogenannte Antisemitismusklauseln hinreißen. Seiner These, dass diese Praxis dem, was unter einer populistisch-autoritären Regierung zu erwarten wäre, nicht sonderlich nachstehe, ist entschieden zu widersprechen, gleichviel wie man zur Politik Israels und dessen aktueller Regierung steht.  

Weil die Hauptaufgabe der Länder im föderalen System darin liegt, Bundesgesetze durchzuführen, stellt sich die Frage, was passiert, wenn eine Landesregierung dieser Aufgabe nicht nachkommen oder wenn sie Urteile der Gerichte, insbesondere der Verfassungsgerichte ignorieren würde. Der Einsatz des Bundeszwanges, den das Grundgesetz für diesen Fall gemäß Artikel 37 vorsieht, ist ein bisher noch weithin unbeschriebenes Blatt. Er ist zudem in das Ermessen der Bundesregierung gestellt. Erscheint dieser eine Intervention in einem rechtsstaatswidrig regierten Land als politisch zu riskant, hängt es letztlich an der Gesellschaft, „sie zum Jagen zu tragen“.

Repressive Mittel müssen verhältnismäßig sein

Hier wie an vielen anderen Stellen des Buches lässt der Autor keinen Zweifel daran, dass der Schutz der Verfassung – so notwendig und sinnvoll institutionelle Anpassungen und Vorkehrungen im Einzelnen sein mögen – letztlich eine Angelegenheit aller Bürgerinnen und Bürger ist. Er geschieht und funktioniert nicht von selbst. Genauso sehr ist sich Steinbeis darüber im Klaren, dass die Demokratie für ihren Schutz einen Preis zu zahlen hat. Weil repressive Mittel ihrer Natur nach selbst illiberal sind und Änderungen der Spielregeln im politischen Prozess als unfair empfunden werden könnten, müssen sie behutsam eingesetzt werden und verhältnismäßig sein. Ansonsten würden sie nur den Populisten in die Hände spielen. Nachdem die populistischen und extremen Randparteien – das neuentstandene Bündnis Sahra Wagenknecht wurde in dem im Frühjahr abgeschlossenen Manuskript noch nicht berücksichtigt – in den letzten Jahren so stark geworden sind, dass sich die von ihnen ausgehenden Bedrohungen nicht mehr beschwichtigen lassen, kommt „Die verwundbare Demokratie“ zur rechten Zeit. Das überzeugend argumentierende, empirisch gut unterfütterte und zudem brillant geschriebene Buch betreibt Aufklärung im besten Sinne. An ihm kommt nicht vorbei, wer sich im deutschen und vergleichenden Kontext mit der zuletzt viel beschworenen „Resilienz“ der Demokratie beschäftigen möchte.



DOI: 10.36206/REZ24.38
CC-BY-NC-SA
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