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Rezension / 20.12.2024

Brigitte Geißel: Demokratie als Selbst-Regieren: Demokratische Innovationen von und mit Bürgerinnen und Bürgern

Opladen, Verlag Barbara Budrich 2024

Der Ruf nach demokratischen Innovationen als Mittel gegen demokratische Krisen und Enttäuschungen ist nicht neu. Doch Brigitte Geißel setzt noch eine Ebene höher an: Demokratisierung bedeute, auch die Entscheidung über die Institutionalisierung demokratischer Systeme mittels partizipativer Verfahren in die Hände der Bürger*innen zu legen. Hierfür listet sie eine Reihe konkreter Vorschläge auf, die allen, die sich für demokratisches Institutionendesign interessieren, als Inspirationsquelle dienen können, lobt unser Rezensent Julian Frinken. 

Eine Rezension von Julian Frinken

Mit „Demokratie als Selbst-Regieren“ hat Brigitte Geißel ein weiteres Buch vorgelegt, das an der allgegenwärtigen Diagnose der krisenhaften Demokratie ansetzt, um dann allerdings eine erfrischend hoffnungsvolle und praktische Wendung zu vollziehen. Die Prämisse erinnert an eine Variante der von Pippa Norris (1999) bereits Ende der 1990er-Jahre popularisierten Critical Citizens-These, wonach Bürger*innnen demokratische Werte und Prinzipien keinesfalls grundlegend ablehnten, jedoch mit der konkreten Institutionalisierung unzufrieden seien (11). Folglich müsse an den demokratischen Strukturen angesetzt werden, etwa durch das Schaffen neuer Beteiligungsmöglichkeiten.

Geißel begnügt sich jedoch nicht mit einer Strategie punktueller und marginaler Verbesserungen. Ihr Ziel ist ein umfassender Paradigmenwechsel, der im Übergang von den derzeitigen „repräsentativen“ zu „selbstbestimmten Demokratien“ bestehen soll (13). Dazu müsse mittels innovativer Beteiligungsmöglichkeiten nicht nur die Entscheidungshoheit über politische Inhalte, sondern auch die Entscheidungskompetenz über die institutionelle Ausgestaltung des politischen Systems in die Hände der Bürger*innen gelegt werden. Als „Selbst-Regieren“ oder eine „selbstbestimmte Demokratie“ wird folglich ein Zustand beschrieben, in dem die „Bürger*innen die Schöpfer*innen, Autor*innen und Eigentümer*innen ihrer Demokratie sind“ (15) und die Arbeit an den entsprechenden Strukturen zudem als kontinuierliche gemeinsame Aufgabe“ (16) begreifen. Es geht also um nichts Geringeres als ein Programm fortwährender partizipativer Verfassungsgebung, das Geißel in ihrem Buch nicht nur normativ plausibilisiert, sondern auch praktisch anzustoßen versucht. Letzteres geschieht durch die Darstellung einer Vielzahl von teils bewährten und teils innovativen politischen Praktiken und Verfahren, die politische „Communitys“ (26) zur Gestaltung ihres jeweiligen demokratischen Systems inspirieren soll.

Normative Kernprinzipien selbstbestimmter Demokratien

Der erste Teil des Buches (Teil A) widmet sich den drei normativen Kernprinzipien von selbstbestimmten Demokratien. Prinzip 1, wonach Bürger*innen selbst entscheiden sollten, wie sie regiert werden, wird sowohl normativ als auch durch den Verweis auf empirische Ergebnisse gerechtfertigt: Dies bringe eine Verbesserung der demokratischen Legitimität, mehr politische Gleichheit und eine Steigerung der Rechenschaftspflicht mit sich. Gleichzeitig sei zu erwarten, dass demokratische Stabilität, demokratische Qualität und die Zufriedenheit mit dem System zunehmen (45-57).

Prinzip 2 besagt, dass eine selbstbestimmte Demokratie fortlaufend angepasst und verbessert werden müsse. Das verschafft dem Umstand Geltung, dass Demokratie stets als ein umstrittenes Konzept zu verstehen ist, dessen Funktionsweise zudem immer wieder angesichts sich verändernder Kontextbedingungen evaluiert werden muss. Damit diese benötigte Reflexivität auch tatsächlich umgesetzt wird, verlange es nach einer entsprechenden Institutionalisierung. Hier schlägt Geißel die Einsetzung einer „Kommission für Evaluation und Qualitätssicherung (KEQ)“ vor (67). Um Prinzip 1 nicht zu verletzen, müsse diese Evaluierung selbstverständlich stets vor dem Hintergrund der von der Community selbst gewählten Werte und Strukturen ihrer Demokratie stattfinden.

Prinzip 3 besagt schließlich, dass kollektive Willensbildung und politische Entscheidungsfindung eng und systematisch miteinander verknüpft sein müssen. Als Indikatoren dafür, dass diese derzeit weitgehend entkoppelt sind, sieht Geißel das steigende Misstrauen von Bürger*innen westlicher Demokratien in ihre Repräsentant*innen und die mangelnde Responsivität seitens der Letzteren (69-70). Eine engere und systematische Kopplung von Willensbildungs- mit Entscheidungsprozessen soll diese Mängel beheben helfen. Dabei scheint sich Geißel nicht auf die medial vermittelte Willensbildung in einer eher unorganisierten öffentlichen Sphäre verlassen zu wollen: Kollektive Willensbildung müsse vielmehr gezielt organisiert werden. Es brauche institutionalisierte Wege, durch die Bürger*innen überhaupt erst die Möglichkeit bekommen, ihre Vorlieben, Wünsche und Präferenzen gemeinsam zu reflektieren, um so zu „entwickelten“ oder „verfeinerten“ Präferenzen zu gelangen (72). Da unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen sich hinsichtlich der Form ihrer Partizipation unterscheiden, müsse es ein diverses Angebot von Mitgestaltungsmöglichkeiten geben: von Online-Plattformen über öffentliche Versammlungen bis hin zu Bürgerräten (72). Zentral sei es, dass die Partizipationspraktiken eng mit Formen der Entscheidungsfindung zu verknüpfen – so sollten Praktiken der breiten Bürgerbeteiligung mit wesentlichen Kompetenzen ausgestattet werden und eher als „empowered spaces“, denn als Teil der öffentlichen Sphäre verstanden werden (74-75).

Die Mängel repräsentativer Demokratien

Teil B des Buchs rückt den Status quo ins Blickfeld und widmet sich in Kapitel 4 zuerst den Bürger*innen. Deren Prozesspräferenzen seien grundsätzlich mit der Idee einer selbstbestimmten Demokratie vereinbar, denn „[d]er allgemeine Wunsch nach stärkerer partizipativer Beteiligung ist weit verbreitet“ (82). Weiterhin argumentiert Geißel, dass selbstbestimmte Demokratien von ihren Bürger*innen entgegen einer vielleicht zunächst verständlichen Intuition gar keine bereits vorab herausragenden politischen Kompetenzen verlangen würden. Empirische Befunde zeigten vielmehr, dass durch den Prozess der Beteiligung demokratische Einstellungen, politische Fähigkeiten und entsprechende Beteiligungsbereitschaft gefördert würden (93-97).

In Kapitel 5 argumentiert Geißel, dass die derzeit dominanten demokratischen Praktiken, von Interessensvermittlung durch Parteien, über Referenden bis hin zu punktuellen deliberativen Beteiligungsverfahren alle aus verschiedenen Gründen daran scheitern, die Interessen der Bürger*innen in politische Programme zu gießen. Die Vor- und Nachteile der unterschiedlichen Praktiken werden nuanciert diskutiert, wobei bilanziert wird, dass eine systematischere Verknüpfung der Praktiken miteinander nötig sei, um dem Versprechen des Selbst-Regierens Geltung zu verschaffen. Kapitel 6 betont, dass auch die derzeitige Praxis demokratischer Innovationen dem Ideal des Selbst-Regierens nicht gerecht werde, denn Bürgerräte und ähnliche Verfahren erlägen allesamt noch der „Dominanz der Repräsentation“ (134).

Selbstbestimmte Demokratien

Im letzten Teil (C) des Buchs präsentiert Geißel eine Art modulares Konzept unterschiedlicher politischer Praktiken (Kapitel 7), Verfahren (Kapitel 8) und rechtlicher Regelungen sowie Behörden (Kapitel 9). Communitys könnten Bausteine hieraus je nach ihren Bedürfnissen für ihr demokratisches System übernehmen. Damit knüpft sie an ähnlich ausgerichtete Arbeiten von Mark Warren (2017) und Michael Saward (2021) an. Von diesen beiden übernimmt sie die Kritik am in der Demokratietheorie vorherrschenden Modelldenken (17-18), wonach die statische Unterscheidung zwischen Modellen wie liberaler, partizipativer oder deliberativer Demokratie zu Übergeneralisierungen, künstlichen Trennlinien und Strohmannargumenten führe. Das Denken über Demokratie würde im Gegensatz dazu von einem präziseren Fokus auf zentrale demokratische Funktionen, Praktiken und Verfahren profitieren, deren jeweilige Zusammenhänge und Anordnungen es jenseits der eingefahrenen Bahnen großspuriger Modelle auszuloten gelte. Wie Saward (2021) betont auch Geißel, „dass es keine one-size-fits-all Strukturen gibt, die für alle Communitys passen“ (16), sondern der jeweilige Kontext bei der Gestaltung der Demokratie eine wichtige Rolle spiele. Gleich müsse in allen demokratischen Systemen lediglich die Gewährung bestimmter Grundwerte sein. Dieses ‚demokratische Minimum‘ (vgl. auch Saward 2021) besteht für Geißel in den Menschenrechten und wesentlichen Freiheitsrechten, die auch sicherstellen, dass sich Bürger*innen an kollektiver Willensbildung und Entscheidungsfindung beteiligen können (59).

Unter Verfahren versteht Geißel die systematische Verknüpfung von einzelnen politischen Praktiken (144). So werden in Kapitel 7 beispielsweise deliberative Praktiken (u.a. Bürgerräte, Öffentliche Versammlungen), Praktiken der Interessenvermittlung (u.a. Interessengruppen, Parteien), Praktiken der Entscheidungsfindung (u.a. Multi-Themen-Volksentscheid, Wahlen) und verschiedene Ausgestaltungen von Parlamenten vorgestellt. In Kapitel 8 präsentiert sie komplexe Vorschläge zur systematischen Verknüpfung unterschiedlicher Praktiken. Dabei wird sinnvollerweise zwischen Verfahren der Verfassungsgebung, der Verfassungsänderung, Verfahren für Gesetze zu zentralen Themen und Verfahren für Gesetze zu marginalen Themen unterschieden. Spätestens hier wird deutlich, dass sich Geißel auch der Tücken einer andauernden partizipativen Verfassungsgebung bewusst ist. Schon zuvor weist sie darauf hin, dass Referenden zu Verfassungsänderungen häufig mit manipulativen politischen Kampagnen einhergehen. In diesem Zusammenhang verweist sie unter anderem auf den entsprechenden Volksentscheid in der Türkei aus dem Jahr 2017 (42). Die verschiedenen von Geißel vorgeschlagenen Prozesse für Verfassungsgebung und -änderung sind derart komplex gestaltet, dass Missbrauch unwahrscheinlicher wird. Sie beinhalteten beispielsweise mehrere Beteiligungsschleifen über unterschiedliche Formate sowie die abschließende Entscheidung durch Multi-Themen-Volksentscheide oder wahlweise durch eine Zweidrittel-Parlamentsmehrheit (176-182). Für entsprechende Vorkehrungen sollen auch die in Kapitel 9 dargelegten Ideen für neue Behörden und rechtliche Regelungen sorgen, die es brauche, um die aus spezifischen Praktiken bestehenden Verfahren zu implementieren, zu regulieren und aufrechtzuerhalten (145).

Konstitutionelle Rigidität und prozeduraler Konsens

Brigitte Geißels Buch setzt insgesamt an der treffenden Beobachtung an, dass das „Prinzip der Demokratie als Herrschaft des Volkes […] erstaunlich vernachlässigt [wird], wenn es um die Frage geht, wie eine Demokratie gestaltet werden sollte“ (41). Schon Thomas Jefferson (2024 [1789]) hatte über konstitutionelle Rigidität und die Frage spekuliert, ob nicht jede Generation berechtigt sein sollte, sich ihr eigenes Regelwerk zu geben. Plurale Gesellschaften sind nun einmal vor dem Hintergrund der chronischen Uneinigkeit über substanzielle Fragen wenigstens auf eine vorläufige Einigkeit hinsichtlich der Verfahren, über die zu Entscheidungen gekommen wird – also auf einen stets fragilen prozeduralen Konsens (Landwehr 2020) – angewiesen. Gerade in Zeiten demokratischer Krisen muss die Frage nach geeigneten demokratischen Verfahren offen diskutiert und Versuche unternommen werden, einen prozeduralen Konsens wiederherzustellen.

Für ein solches Vorhaben liefert Brigitte Geißel nicht nur eine ideenreiche Diskussionsgrundlage, sondern gleich auch die optimistische „Vision“ (28) selbstbestimmter Demokratien. In der Darstellung unterschiedlicher politischer Praktiken, der Abwägung ihrer Stärken und Schwächen und der Herstellung möglicher systemischer Verknüpfungen profitiert das Buch in hohem Maße von Geißels langjähriger Expertise, die sie unter anderem als Leiterin der Forschungsstelle „Demokratische Innovationen“ an der Goethe-Universität Frankfurt erworben hat. Es ist zudem absichtsvoll in einer zugänglichen Sprache verfasst, wodurch es sich dezidiert nicht nur an ein Fachpublikum richtet, sondern alle Menschen adressiert, die an der (Um-)Gestaltung demokratischer Systeme interessiert sind. Allein das stellt schon einen bedeutenden Beitrag dar.

Die Rolle der Politikwissenschaft

Die Rolle, die der Politikwissenschaft dabei zugewiesen wird, ist dabei allerdings zu zurückhaltend konzipiert und nicht immer konsistent mit Geißels eigenem Vorgehen. Geißel geht dort über die erwähnten Arbeiten von Warren (2017) und Saward (2021) hinaus, wo sie den Anspruch erhebt, dass es die jeweilige Community selbst sein muss, die mittels partizipativer Verfahren zur Gestalterin ihrer eigenen Institutionen wird. Politikwissenschaftler*innen sollten dann die Rolle „eine[r] Art ‚demokratische[r] Geburtshilfe‘“ (210) einnehmen, indem sie kein von ihnen selbst favorisiertes Modell entwerfen und vorschlagen, sondern darstellen, was ist und den Bürger*innen die Frage der Wertung überlassen. Diese Rollenbeschreibung einer normativ gänzlich enthaltsamen Politikwissenschaft greift jedoch zu kurz. Es spricht nichts dagegen, dass Politikwissenschaftler*innen bestimmte Praktiken oder Verfahren ausarbeiten und als prinzipiell verfügbar vorschlagen, wie es Geißel auch selbst tut, wenn sie Mehrebenen-Bürgerräte oder die von Jonathan Rinne entwickelten Multi-Themen-Volksentscheide in den Fokus rückt und als geeignete Instrumente rechtfertigt.

Ebenso wenig spricht etwas dagegen, dass Politikwissenschaftler*innen auf der Grundlage empirischer Befunde und nachvollziehbarer normativer Erwägungen bestimmte Verfahren, Praktiken oder Modelle für bestimmte Kontexte vorschlagen – sei es, um nur zwei Beispiele zu nennen, in Form eines Plädoyers für ein semi-parlamentarisches Regierungssystem (Ganghof 2021) oder für ein partizipatives Modell deliberativer Demokratietheorie (Lafont 2020). Es kann einen großen Gewinn für die öffentliche Debatte darstellen, wenn Wissenschaftler*innen Kritik an bestimmten Praktiken üben, auf Widersprüche hinweisen und Vorschläge machen, die auf ihrer Expertise beruhen. Wenn Bürger*innen mit informierten Argumenten für unterschiedliche Modelle konfrontiert sind, dann kann dies zu reflektierten Positionen und gesteigerter Entscheidungsfähigkeit führen. Wichtig ist nur, dass entsprechende Einwürfe nicht als Ersatz für einen breiten demokratischen Diskurs daherkommen dürften, um die Debatte nicht abzuschneiden, sondern im Gegenteil als anregende Impulse zu dienen (Swift/White 2008: 54). Genau darin besteht, so würde ich unterstellen, in der Regel auch die damit verbundene Absicht. Unvereinbar mit einem Prozess partizipativer Verfassungsgebung wäre das nicht.

Kein Widerspruch zwischen Selbstbestimmung und Repräsentation

Auch die überspitzte Dichotomie zwischen „selbstbestimmten“ Demokratien auf der einen und „repräsentativen“ Demokratien auf der anderen Seite ist dem grundlegenden Argument des Buches nicht immer dienlich. Sie ist unpräzise, da sich die beiden Konzepte letztendlich nicht gegenseitig auszuschließen scheinen. Das entscheidende Kriterium einer selbstbestimmten Demokratie besteht darin, dass Bürger*innen stets kollektiv die Möglichkeit haben, ihre Verfassung durch partizipative Verfahren zu verändern; beispielsweise indem ein Bürgerrat entsprechenden Handlungsbedarf sieht oder eine Petition einen Großteil der Bürger*innen von einem solchen überzeugt und anschließend eine qualifizierte Parlamentsmehrheit darüber entscheidet (180-181). Solche Regelungen ließen sich auch problemlos innerhalb eines ansonsten elektoral-repräsentativen Systems einführen.

Andersherum könnten Bürger*innen über partizipative Verfahren beschließen, dass ihre Demokratie laut Verfassung eine elektoral-repräsentative sein soll. Das ist gar nicht mal so unwahrscheinlich, da laut Umfragen Menschen „weltweit freie und faire Wahlen für unverzichtbar“ (81) halten und sie generell auch Volksentscheiden vorziehen (82). So vermutet auch Geißel selbst, dass Wahlen, „trotz aller Unzulänglichkeiten […] auch in selbstbestimmten Demokratien eine wichtige Rolle spielen“ (117). Trotz eines möglichen, aber nicht notwendigen „‘direktdemokratische[n] Damoklesschwert[s]‘“ (164) lösen selbstbestimmte Demokratien das Prinzip repräsentativer Demokratie keinesfalls völlig ab. Vor diesem Hintergrund ist Geißels Umdeutung des Begriffs der Rechenschaft-/spflicht allzu vorschnell: Da Bürger*innen sich in selbstbestimmten Demokratien selbst regierten und keine Beziehung zwischen den Repräsentierenden und den Repräsentierten vorherrsche, sei ihr zufolge ein Verständnis vertikaler Rechenschaft-/spflicht „nutzlos“ (25). Der Begriff solle vielmehr auf der horizontalen Ebene neu konzipiert werden (49-50).

Es fehlt vor diesem Hintergrund auch an einer ausführlichen Thematisierung des Konzepts der breiten Öffentlichkeit, da Bürger*innen in Geißels Modell vermeintlich ohnehin über Beteiligung in die „empowered spaces“ (75) integriert werden sollten. So entsteht aber insgesamt der Eindruck, dass Geißel Bürger*innen hauptsächlich als Teilnehmende an partizipativen Verfahren wahrnimmt, was ausblendet, dass dies immer nur für einen Bruchteil der jeweiligen Bevölkerung zutrifft (ebd.). Die unweigerlichen vertikalen Repräsentations- und Rechenschaftsbeziehungen zwischen denen, die in bestimmten politischen Entscheidungszirkeln sind und jenen, die außen vor sind, bleiben so weitgehend im Dunkeln.  

Insgesamt stellt „Demokratie als Selbst-Regieren“ eine wichtige Intervention dar, die über die Gestaltung von demokratischen Systemen von allen und für alle nachdenkt und damit den Tendenzen der Oligarchisierung (Page/Gilens 2014; Piketty 2014: 514) und Erosion von Demokratie eine innovative und inklusive Vision entgegensetzt. Die Stärken des Buches bestehen vor allem in der umfassenden empirischen Informiertheit, den vielen veranschaulichenden Fallbeispielen und der Zugänglichkeit, die es auch für ein breiteres Publikum ansprechend macht. Dabei setzt es allerdings auf eine vorgeblich neutrale Rollenbeschreibung der Politikwissenschaft, die dem Ansinnen selbst gar nicht unbedingt dienlich ist. Einer gründlicheren Differenzierung bedarf es auch in der Gegenüberstellung von repräsentativen und selbstbestimmten Demokratien, wenn der hier vorgezeichnete notwendige Pfad einer Demokratisierung der Institutionengestaltung vorangebracht werden soll.


Literatur

  • Ganghof, Steffen (2021): Beyond Presidentialism and Parliamentarism: Democratic Design and the Separation of Powers, Oxford: Oxford University Press.
  • Jefferson, Thomas (2024 [1789]): II. Thomas Jefferson to James Madison, 6 September 1789, in: Founders Online, National Archives, abrufbar unter: https://founders.archives.gov/documents/Jefferson/01-15-02-0375-0003 (08.09.2024).
  • Lafont, Cristina (2020): Democracy Without Shortcuts, Oxford: Oxford University Press.
  • Landwehr, Claudia (2020): Backlash against the procedural consensus, in: The British Journal of Politics and International Relations, 22(4), S. 598-608.
  • Norris, Pippa (1999): Conclusions: The Growth of Critical Citizens and Its Consequences, in: Norris, Pippa (Hg.): Critical citizens: Global Support for Democratic Government, Oxford: Oxford University Press.
  • Page, Benjamin I. / Gilens, Martin (2014): Testing Theories of American Politics: Elites, Interest Groups, and Average Citizens, in: Perspectives on Politics, 12 (3), S. 564-581.
  • Piketty, Thomas (2014): Capital in the Twenty-First Century. Cambridge Massachusetts: The Belknap Press of Havard University Press.
  • Saward, Michael (2021): Democratic Design, Oxford: Oxford University Press.
  • Swift, Adam/White, Stuart (2008): Political theory, social science, and real politics, in: Leopold, David/Stears, Marc (eds.): Political Theory: Methods and Approaches, Oxford: Oxford University Press, S. 49-69.
  • Warren, Mark (2017): A Problem-Based Approach to Democratic Theory.” American Political Science Review, 111 (1), S. 39–53.


DOI: 10.36206/REZ24.46
CC-BY-NC-SA
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