Skip to main content
Rezension / 07.09.2024

Michael Feldkamp: Die Institution: Der Deutsche Bundestag 1949 bis heute

München, Langen-Müller 2024

Der Berliner Historiker und Parlamentsforscher Michael F. Feldkamp präsentiert in „Die Institution“ die Entwicklung des Bundestages anhand der einzelnen Wahlperioden seit 1949. Das Buch sei eine „wahre Fundgrube für alle am Parlamentarismus interessierten Leser*innen“, lobt Rezensent Michael Kolkmann. Feldkamp gelinge es, tiefe Einblicke in die bundesdeutsche Parlamentsgeschichte zu geben und diese in einen größeren zeitgeschichtlichen und internationalen Kontext einzubetten.

Eine Rezension von Michael Kolkmann

Am 7. September 2024 jährt sich zum 75. Mal der Tag, an dem im Jahre 1949 der Deutsche Bundestag erstmals zusammengetreten ist. Für den Berliner Historiker und Parlamentsforscher Michael F. Feldkamp handelt es sich deshalb bei diesem Tag um den „Gründungstag der Bundesrepublik Deutschland“ (15). In seinem neuen Werk „Die Institution“ zeichnet er die Entwicklung des Bundestages nach, gegliedert nach den einzelnen Wahlperioden, die gewissermaßen als „Miniaturen“ (16) des Bundestages interpretiert werden können. Kann man auf diese Weise die großen Zäsuren der Geschichte der Bundesrepublik angemessen berücksichtigen?

Feldkamp ist davon fest überzeugt, denn seiner Auffassung nach konnten Weichenstellungen wie die Wiedererlangung der Souveränität 1955, die 1968er-Bewegung, die Wiedervereinigung Deutschlands 1990 oder der Umzug von Parlament und Regierung von Bonn nach Berlin 1999 durchaus ganze Wahlperioden des Bundestages prägen. Er legt sein Augenmerk in diesem Kontext deshalb auf die Frage, wie diese Ereignisse seitens des Deutschen Bundestages parlamentarisch begleitet wurden: „Die politischen Geschehnisse sind keine singulären Ereignisse. Ihnen gehen vielmehr stets Entwicklungen voraus, die sich in der Arbeit des Bundestages widerspiegeln“ (16).

Und doch identifiziert Feldkamp gleich zu Beginn ein quantitatives Übergewicht bei der Berücksichtigung der ersten Wahlperioden, erfolgten hier doch „parlamentshistorische Weichenstellungen […], die bis heute gültig sind und der Erläuterung bedurften. Dies betrifft sowohl die Anwendung der Geschäftsordnung als auch die Herausbildung parlamentarischer Gepflogenheiten, die nicht in der Geschäftsordnung stehen“ (ebd.).

Feldkamps Erfahrungsschatz als Bonus für Buch und Leser*innen

Feldkamp weiß, wovon er spricht: Seit den 1990er-Jahren ist er in unterschiedlichen Funktionen in der Verwaltung des Deutschen Bundestages tätig gewesen, etwa bei den Wissenschaftlichen Diensten oder im Parlamentsarchiv. Zudem hat er während dieses Zeitraumes umfangreich zu Fragen von Politik, Gesellschaft und Kirchengeschichte publiziert, zuletzt etwa zur Entstehung des Grundgesetzes im Parlamentarischen Rat. „Die Institution“ profitiert sehr stark davon, dass Feldkamp aus dem Erfahrungsschatz seiner Tätigkeit für den Bundestag Details, Geschichten und Zitate in seine Argumentation einflechten kann, die man in anderen Werken zum bundesdeutschen Parlament vergebens sucht.

Sehr schnell entpuppt sich das Buch als wahre Fundgrube für alle am Parlamentarismus interessierten Leser*innen, als ein Kompendium, das man womöglich nicht in einem Rutsch zu lesen schafft (dafür ist es auch zu umfangreich), aber das zum Blättern, Stöbern und Entdecken einlädt. Im Kern geht es im Buch, wie der Autor eingangs festhält, darum, „wie die Arbeit des Bundestages gestaltet und organisiert wird, welchen politischen Einflüssen sowie gesamtgesellschaftlichen und kulturellen Entwicklungen der Bundestag und seine Mitglieder im Laufe der Geschichte ausgesetzt waren“ (16).

Die Anfänge der Bundesrepublik

Vor der Darstellung der einzelnen Wahlperioden skizziert Feldkamp im ersten Kapitel („Provisorium ohne Pathos“) die Entstehung der Bundesrepublik Deutschland. Ausgehend von der Kriegsniederlage beschreibt er die ersten politischen Schritte im Nachkriegsdeutschland von der Bizone zum westdeutschen Teilstaat: Er rekurriert auf die Verhandlungen des Verfassungskonventes von Herrenchiemsee, die daran anknüpfende Arbeit des Parlamentarischen Rates in Bonn und fokussiert seine Ausführungen dann auf die Grundgesetzbestimmungen zum Bundestag. Er thematisiert, wie es zum provisorischen Regierungssitz Bonn kam und wie das Wahlrecht ausgestaltet war, anschließend beginnt er mit der ersten Wahlperiode („Neustart zwischen Tradition und Moderne 1949-1953“) seine tour d’horizon durch die Geschichte des Bundestages.

Auch zahlreiche Aspekte der politikwissenschaftlichen Parlamentarismusforschung sind im vorliegenden Buch wiederzufinden, etwa wenn es um das Verhältnis von Parlament und Regierung unter Adenauer (genauer gesagt: zwischen Regierung und Opposition) geht: „Der 1. Bundestag ersetzte die in der Weimarer Republik bestehende Gegnerschaft von Exekutive und Legislative durch den parlamentarischen Dualismus von Regierungsmehrheit und Opposition“ (43). Gleiches gilt für die Passagen zu den Konturen der Kanzlerdemokratie, den personellen Kontinuitäten von der Weimarer zur Bonner Republik oder der Entwicklung parlamentarischer Karrieren innerhalb des Parlaments.

Von Biografien und Parlamentsarchitektur

Illustrativen Charakter genießen die eingestreuten biografischen Skizzen, etwa zu Konrad Adenauer, Eugen Gerstenmaier, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Annemarie Renger, Karl Carstens, Richard Stücklen, Rita Süssmuth oder Wolfgang Schäuble. Stets werden diese Akteure in ihren unterschiedlichen parlamentarischen und außerparlamentarischen Ämtern im Kontext der Institution Bundestag verortet.

Auch die parlamentarische Selbstdarstellung findet wiederholt ihren Platz im Buch, etwa bezüglich der parlamentarischen Zeremonie, des Dresscodes oder der parlamentarischen Architektur und ihrer Bedeutung. Letztere veranschaulicht Feldkamp anhand des Wiederaufbaus des Reichstagsgebäudes durch Paul Baumgarten in den 1960er-Jahren (127 f.), der Errichtung  weiterer Bundesbauten (135), des Abrisses des alten Plenarsaals (172 f.) oder der erneuten Umgestaltung des Reichstagsgebäudes durch Norman Foster in den 1990er-Jahren.

Wie in einem Brennglas verdichtet sich die parlamentarische Arbeit des Bundestages in der 11. Wahlperiode (1987-1990), die aufgrund der Barschel- bzw. der Schubladen-Affäre, des Wüppesahl-Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur Arbeit fraktionsloser Abgeordneter, des Rücktritts von Bundestagspräsident Philipp Jenninger, der Wende in der DDR im Herbst 1989 und der Wiedervereinigung im darauffolgenden Jahr die wohl „bewegteste und eine der gegensätzlichsten Wahlperioden des Bundestages“ (185) war. In dieser Zeit erfolgte auch der Abriss des alten Plenarsaals und der vorübergehende Umzug in das benachbarte Wasserwerk – für Feldkamp entfaltet dieser Schritt große „Symbolkraft“ (186) für ein vorweggenommenes und sinnbildliches Ende der Bonner Republik.

Internationaler Kontext und Reformvorschläge

Ein wiederkehrender Topos des Werkes von Feldkamp ist die Einbettung des Bundestages in einen größeren internationalen Kontext, etwa mit Blick auf die Rückkehr Deutschlands auf die „diplomatische Weltbühne“ (60) oder Adenauers Moskaubesuch im Jahr 1955, die Kuba-Krise 1962, den Beitritt der Bundesrepublik zur UNO zu Beginn der 1970er-Jahre, den NATO-Doppelbeschluss in den frühen 1980er-Jahren, die zur Wiedervereinigung führenden 2+4-Verhandlungen, den 1993 in Kraft getretene Maastrichter Vertrag oder den aktuellen Krieg Russlands gegen die Ukraine.

Schließlich bietet das Buch auch für die aktuelle parlamentarische Praxis diverse Anknüpfungsmöglichkeiten, etwa wenn Feldkamp auf Überlegungen des damaligen Bundestagspräsidenten Karl Carstens (1976-1979) zurückgreift, innerhalb des Parlaments ein Gremium als eine Art „Schleuse“ zu installieren, um die grassierende „Gesetzesflut“ einzudämmen – oder wenn er Carstens Vorschlag zur Bündelung von Landtagswahlen an zwei bis drei Terminen während einer Legislatur des Bundestages referiert, um den Parlamentsdebatten „manche Schärfe“ (134) zu nehmen.

Käseglocke, Coca-Cola und Jakob Maria Mierscheid

Rainer Barzel war zwar der Bundestagspräsident mit der kürzesten Amtszeit, sorgte aber für die wichtigen „Selbstverständnisdebatten“ (157), in denen der Bundestag über sein Selbstverständnis und seine Arbeitsweise debattierte, um der verbreiteten Wahrnehmung einer Kluft zwischen Parlament und Bevölkerung, die sich in Begriffen wie „Raumschiff Bonn“ oder der „Käseglocke“ (ebd.) für die Politik niederschlug, entgegenzuwirken. Nicht alle Vorschläge zur Reform der Parlamentsarbeit wurden im Laufe der vergangenen Jahrzehnte auch umgesetzt. So wurde etwa eine technische Abstimmungsanlage für den Plenarsaal schon im Jahre 1950 sowie später zu Beginn der 1970er-Jahre diskutiert, existiert aber im Bundestag – anders als etwa im US-Repräsentantenhaus – bis heute nicht und erinnere damit laut Feldkamp an eine „unendliche Geschichte“ (114).

Zu den bunten Bildern des im Buch präsentierten parlamentarischen Kaleidoskops zählen auch so unterschiedliche Aspekte wie die Parlamentsreformen im Jahr 1969 (103 ff.), die Reform der Bundestagsverwaltung 1970/71 (113 f.), Gastredner*innen im Bundestag (257 f.), Berichte aus dem Sitzungsalltag (273 f. und 284 ff.) oder die Folgen der Corona-Pandemie für die Arbeit des Bundestages (286 ff.). Manche Passagen lesen sich teilweise wie das Protokoll eines parlamentarischen Chronisten, etwa wenn auf Änderungen des Parteien- oder Bundeswahlgesetzes eingegangen wird, an anderer Stelle verbindet Feldkamp die Parlamentsarbeit mit bislang eher unbekannten Debatten, etwa zur einst diskutierten Frage, ob im Bundestagsrestaurant neben deutschem Bier auch US-amerikanische Coca-Cola ausgeschenkt werden dürfe. Manche Überschrift ist recht trocken ausgefallen („Neustart zwischen Tradition und Moderne“, 26; „Zwischen Vergangenheit und Zukunft“, 171).

Und natürlich darf in „Die Institution“ auch der „Phantomabgeordnete“ (144) Jakob Maria Mierscheid nicht fehlen, wenngleich er im Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages eher als „statistische Nullnummer“ (ebd.) durchgehe, wie Feldkamp betont. Immer wieder war der fiktive Abgeordnete Mierscheid Gegenstand von Plenarreden, etwa durch freundliche Geburtstagsgrüße von Bundestagspräsident Norbert Lammert, der nicht vergaß, den Phantomabgeordneten daran zu erinnern, öfter als in der Vergangenheit zu den Sitzungen des Bundestages zu erscheinen. Inzwischen ist eine der Spreebrücken zwischen den Gebäuden des Bundestages nach Mierscheid benannt.

Ein Muss für Parlamentsinteressierte

Das Buch endet mit einer Zwischenbilanz nach zwei Jahren Ampelkoalition (309 ff.). Hilfreich wäre am Ende des Werkes ein Fazit gewesen, das die wesentlichen Befunde der Beschäftigung mit der parlamentarischen Arbeit des Bundestages (vielleicht sogar in vergleichender Manier) zusammenfasst. Wo findet sich Konstanz in der Arbeit des Parlaments, wo gab es Wandel (und warum?)? Ein solches Fazit hätte die Möglichkeit geboten, die zuvor präsentierten zahlreichen empirischen Befunde in einem größeren, systematischen Kontext zu verorten. Ein umfangreiches Quellenverzeichnis lädt zum Weiterlesen ein, ergänzt wird der Text zudem durch ausgewählte fotografische Impressionen aus dem Bundestag.

Entstanden ist so ein über weite Strecken kurzweiliges und aufschlussreiches Sachbuch über die Arbeit des Deutschen Bundestages und seiner Abgeordneten, das sowohl politikwissenschaftliche Ansatzpunkte zur Analyse des parlamentarischen Geschehens in der Bundesrepublik berücksichtigt und das zugleich tiefe Einblicke in den Maschinenraum der bundesdeutschen Politik ermöglicht. Kurz: Für Parlamentsinteressierte sollte dieses Werk in keinem Bücherschrank fehlen.



CC-BY-NC-SA
Neueste Beiträge aus
Repräsentation und Parlamentarismus