Gerhard Paul: Die Bundesrepublik. Eine visuelle Geschichte
Der Historiker Gerhard Paul hat mit seiner visuellen Geschichte der Bundesrepublik ein Buch vorgelegt, das unseren Rezensenten Michael Kolkmann vollends begeistert. Anhand zahlreicher Fotos und ausführlichen Begleittexten sei es Paul, einem der wichtigsten Vertreter der „visual history“, gelungen, eine umfassende Politik-, Sozial- und Kulturgeschichte seit 1949 zu entwerfen. Das Ergebnis sei ein „phänomenales Werk“, das politikwissenschaftlich in viele Richtungen anschlussfähig sei. Für Kolkmann aber mindestens ebenso wichtig: Selten habe die Beschäftigung mit Geschichte so viel Spaß gemacht.
„Sie ist schon etwas in die Jahre gekommen“ (15) – mit dieser Bemerkung eröffnet Gerhard Paul seinen kürzlich erschienenen, voluminösen Band über die „visual history“ der Bundesrepublik Deutschland. Und er ergänzt mit Blick auf deren Anfänge: „Die Bilder, die von ihrer Geburt und ihren Kinderjahren überliefert sind, waren noch schwarz-weiß. Das Fernsehen gab es noch nicht. Vom Internet wurde nicht einmal geträumt…Den Bilderschatz unserer alten Dame zu sichten, ist Sinn und Zweck dieses Buches“ (ebd.). Entstanden ist ein höchst spannendes, vielschichtiges Projekt, das aus politikwissenschaftlicher Perspektive in vielerlei Richtung anschlussfähig ist, etwa an die Regierungs- und Parlamentarismusforschung, an die Wahl- und Parteienforschung sowie an den weitumfassenden Teilbereich der Politischen Kommunikation. Diese Konnektivität zeigt sich anhand unzähliger konkreter Fallbeispiele, die im Buch näher beschrieben und analysiert werden.
Der Autor war bis zum Jahre 2016 Professor für Geschichte und ihre Didaktik an der Universität Flensburg und hat sich bereits in früheren Büchern wie „Das visuelle Zeitalter“ (Paul 2016) oder in der Studie „Zur Visual History des ‚Dritten Reiches‘“ (Paul 2020) mit der grundlegenden Thematik der „visual history“ auseinandergesetzt. Diese beschreibt Paul, der zu ihren wichtigsten deutschsprachigen Vertreter*innen gehört, an anderer Stelle als ein „in jüngster Zeit vor allem innerhalb der Neuesten Geschichte und der Zeitgeschichte sich etablierendes Forschungsfeld, das Bilder in einem weiten Sinne sowohl als Quellen als auch als eigenständige Gegenstände der historiografischen Forschung betrachtet“ (Paul 2014). Die Befassung mit der „Visualität von Geschichte wie mit der Historizität des Visuellen“ sei demnach Teil eines größeren „iconic bzw. visual turn in den Geisteswissenschaften“ (ebd.).
Die knapp 600 Seiten seines neuen Buches sind in drei große Teile gegliedert: auf knapp 250 Seiten geht es zunächst ausführlich um die Bonner Republik (1949-1989), etwa 230 Seiten sind der Berliner Republik (1990-2021) vorbehalten und auf (gerade einmal) 60 Seiten steht abschließend die Ampelrepublik (2021 ff.) im Fokus (die restlichen Seiten verteilen sich auf Endnoten und das Quellenverzeichnis).
Deutlich wird bei der Lektüre der im Eingangszitat beschriebene Wandel der Medientechniken im Verlauf der Jahrzehnte: Von Wahlplakaten und der Berichterstattung in Zeitungen und Zeitschriften über das Fernsehen bis hin zu neuen Formaten im Zeichen der Digitalisierung, insbesondere Social Media, spannt sich der Bogen. Naturgemäß fokussieren sich die meisten im Buch berücksichtigten Beispiele weniger auf die Entscheidungs-, sondern eher auf die Darstellungspolitik: Wie wird über politische Prozesse und deren Ergebnisse medial berichtet? Aber wie versuchen auch politische Akteure selbst, ihre Politik im besten Sinn zu „vermarkten“? Auch in gesellschaftlicher Hinsicht spiegeln sich zahlreiche Wandlungen und Entwicklungstrends im historischen Verlauf. Deutlich werden summa summarum Prozesse der Medialisierung, das heißt sichtbar wird eine zunehmende Rolle der Medien bei der Entstehung und Vermittlung politischer Entscheidungen. Zugleich wird die zentrale Bedeutung der Erklärung von Politik für deren Nachvollziehbarkeit betont, gewissermaßen die Notwendigkeit der Legitimation durch Kommunikation.
Die Darstellung Pauls ist „keine linear-chronologische Geschichte“ wie er eingangs betont, so etwas gebe es real auch gar nicht: „Sie ist vielmehr verschachtelt, teils mosaikartig und berücksichtigt so auch das Ungleichzeitige im Gleichzeitigen“ (17). Immer wieder – genauer gesagt: an genau 21 Stellen – wählt Paul daher einzelne Fotos aus, um sie in vertiefter Detailgenauigkeit vorzustellen. Hinzu kommen immer wieder ausführliche Rückblenden sowie Verweise auf inhaltlich verwandte Passagen des Buches.
Stets versucht Paul allgemeinere Fragen rund um seinen Untersuchungsgegenstand in den Blick zu nehmen, wie er in seiner Einleitung betont: „Wie wurden und werden Krisen und Katastrophen durch die Brille von Bildmedien wahrgenommen bzw. wie formten diese unsere Sicht- und Verhaltensweisen gegenüber Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft? Und schließlich: Wie veränderten bzw. gegebenenfalls wie generierten Bildmedien den Gegenstand, über den sie berichteten?“ (17).
Interessant (und aufschlussreich) ist es zu sehen, wie sich bestimmte Motive in den unterschiedlichen zeitlichen Phasen der Bundesrepublik in der öffentlichen Kommunikation wiederholen: das Reichstagsgebäude etwa oder das Brandenburger Tor; die Nationalflagge oder der Adler als Wappentier; archaische Symbole wie das Auge oder die Sonne. Und natürlich gibt es ein Wiedersehen mit vielen Persönlichkeiten aus den einzelnen Etappen des bundesrepublikanischen Kosmos. Der Autor hat für dieses Buch auf seine eigene Bildsammlung, auf zahlreiche Ausstellungskataloge, einschlägige Bildarchive etwa von Nachrichtenagenturen, aber auch des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung, die tagesaktuelle Berichterstattung in Print und Fernsehen sowie auf eine Vielzahl von eigenen Aufsätzen und Büchern zurückgreifen können. Entstanden ist ein phänomenales Werk, dem man trotz des eindrucksvollen Verkaufspreises von 60 Euro zahlreiche Leserinnen und Leser wünscht.
Höchst interessant und spannend wird es immer dann, wenn Paul über die konkrete Momentaufnahme hinaus auf allgemeinere und grundsätzlichere Aspekte eines Gegenstandes zu sprechen kommt, etwa wenn er ein Foto der Unterzeichnung des Grundgesetzes kommentiert: „Das Bild besitzt alles, was die frühe Bundesrepublik charakterisiert“ (23), um sich anschließend einer detaillierten Bildanalyse zu widmen. Am Ende erweist sich das Buch gerade durch diese Pointierung einiger ausgewählter Bilder als deutlich mehr als nur eine „visuelle Geschichte“ der Bundesrepublik: es ist eine politische, gesellschaftliche und kulturelle Geschichte der vergangenen 75 Jahre.
Für eine visuelle Darstellung der Bundesrepublik ist das Buch sehr textlastig ausgefallen. In längeren Kapiteln werden grundsätzliche Aspekte eines Themas vorgestellt, in Infokästen, die sich in der Regel über ein bis zwei Seiten erstrecken, werden anhand von konkreten Fallbeispielen länger andauernde Trends skizziert. Von einem Foto der Vereidigung der ersten Bundesministerin Elisabeth Schwarzhaupt im Jahre 1961 (209) schlägt Paul den Bogen hin zum Wandel von Geschlechterbildern und -praxen. Der „Tod an der Mauer“ wird als „Ikone der deutschen Teilung“ (178) interpretiert. Aber auch Comic- und Werbefiguren (194 ff.), ja sogar das Videoüberwachungs-Piktogramm der Berliner Verkehrsbetriebe sind vertreten. Unter „Krisen, Affären, Skandale“ (220) werden „Risse im Bild des ‚Wirtschaftswunders’“ ausgeleuchtet, anschließend die „Bildermaschine RAF“ im Deutschen Herbst 1977 (250) und die ins kollektive Gedächtnis eingeprägten Bilder der Berliner Maueröffnung (258) vorgestellt. Auch die Staatsarchitektur wird in den Blick genommen, interessanterweise nicht nur anhand der gängigen Beispiele wie etwa anhand von Parlamentsgebäuden, sondern auch mit Hilfe des Gebäudes des Bundesverfassungsgerichts (39 ff.). In diesem Kontext darf natürlich auch die „Demokratie als Bauherr“ (39) nicht fehlen. Unter dieser Überschrift hat der Architekt und Bundestagsabgeordnete Adolf Arndt bereits im Jahr 1960 eine vielbeachtete Rede zur Nachkriegsarchitektur gehalten – und diese gewissermaßen von der „Diktatur als Bauherr“ abgegrenzt. Unter „Die Repräsentation der Repräsentanten“ (43) werden die Medienkanzler in den Blick genommen. Und auch die „Pathosformeln der Politik“ (58) finden Berücksichtigung, etwa der Händedruck, das Gebet, die Umarmung oder der Kniefall. „Bundesdeutsche Kinowelten“ (109) und unterschiedliche Aspekte der bildenden Kunst (74) sowie der Aufstieg des Fernsehens (124) sind ebenfalls vertreten.
Für politisch Interessierte besonders aufschlussreich ist die Darstellung des „negative campaigning“ anhand ausgewählter Wahlplakate. Zugleich beschreibt Paul, wie sich die Wahlwerbung im Verlaufe der vergangenen Jahrzehnte zu einem „Kampf der Gesichter“ (politikwissenschaftlich formuliert: im Kontext der Personalisierung) entwickelt hat. Unter der Überschrift „Von der Dokumentations- zur ‚Knipserfotografie‘“ thematisiert Paul das „fotografische Gedächtnis der Republik“, beispielhaft illustriert an der großartigen Komposition „Bundestag, Bonn“ (1998) des Fotografen Andreas Gursky (vgl. 92 f.).
Der zweite Teil des Buches zur Berliner Republik wird eingeleitet von einer ikonografischen Fotografie Rolf Zöllners, gewissermaßen eine „symbolisch aufgeladene Architekturfotografie“ (269), deren gestaffelte Raumkörper durch die Verwendung eines Teleobjektivs in einem Bild verdichtet sind: Hinter den Stelen des Holocaust-Mahnmals (ein „Stolperstein im Regierungsviertel“, Claus Leggewie auf 270) erhebt sich die Quadriga auf dem Brandenburger Tor, die im Hintergrund wiederum von der Kuppel auf dem Reichstagsgebäude überragt wird, dazwischen hat sich ein Gebäudeteil der US-amerikanischen Botschaft auf der Südseite des Pariser Platzes geschoben. Ein Bild, das noch wenige Jahre zuvor nicht denkbar gewesen wäre: weder gab es damals das Mahnmal oder die Reichstagskuppel noch hätte der Fotograf aus genau dieser Perspektive das erwähnte Bild schießen können, da er sich direkt im Mauerstreifen befunden hätte.
Danach thematisiert Paul die Ästhetik der Berliner Republik, etwa den „Ikonoklasmus der Wendezeit“ (273) und die Neubauten der Republik („Neue Prächtigkeit“, 277). Illustriert werden die Ausführungen auch hier durch einen Blick auf die Medienkanzler bzw. -kanzlerin (300). Herausgehoben wird das großartige Bild der Bundestagskandidatin Angela Merkel bei den Fischern von Lobbe im Jahr 1990 (316). Auch Entwicklungen im Grenzbereich zur Kommunikationswissenschaft mit dem „Politainment“ (328) und Bildunfälle („Toxische Öffentlichkeit“, 334) wie bei Rudolf Scharping und Armin Laschet werden thematisiert. Hier dürfen schließlich digitale Formate nicht fehlen, etwa das visuelle Kommunizieren in Alltag und Journalismus („Von Handys und Selfies“, 358) oder das Kino der Berliner Republik (367). Die Bilder der Terroranschläge von 9/11 sind selbstverständlich ebenfalls mit dabei (376).
Der dritte Teil widmet sich wie oben erwähnt der Ampelrepublik. Eingeleitet wird dieser Abschnitt durch ein Foto einer gemeinsamen Pressekonferenz von Olaf Scholz, Robert Habeck und Christian Lindner im September 2022, passenderweise sitzen die drei Protagonisten der Ampelkoalition im Bundeskanzleramt vor einem großformatigen Bild mit dem Titel „Augenbilder“ von Erst Wilhelm Nay (500). Auch bei der Ampelrepublik wird zunächst deren Ästhetik in den Blick genommen („Zwischen Aktentasche und Regenbogen“, 502). Im Mittelpunkt steht anschließend unter der Überschrift „Der Bückling von Katar“ (510 ff.) die Reise von Bundeswirtschaftsminister Habeck im März 2022 in den Nahen Osten, um dort Alternativen für die ausgefallenen Energieimporte aus Russland aufzutun. Kaum überraschend findet sich hier auch ein Abschnitt zur „Ikonografie der multiplen Krise“ (540) wieder. Und auch die Bilder der Aktionen der „Letzten Generation“ werden vom Autor aufgegriffen (559).
Das Manuskript für das vorliegende Buch wurde laut Paul im Juni 2023 abgeschlossen, dieser dritte Teil hätte gleichwohl noch durch das berühmt gewordene Selfie von Annalena Baerbock, Robert Habeck, Christian Lindner und Volker Wissing vor Beginn der Sondierungsgespräche der Ampel ergänzt werden können. Auch das Foto der Ampelrepräsentant*innen bei der Vorstellung des Koalitionsvertrages im Berliner Westhafen findet sich nicht. Ebenso hätte die deutliche Verjüngung und Diversifizierung der Abgeordneten des Deutschen Bundestages thematisiert werden können – gerade weil diese in den vergangenen Jahren selbst zahlreiche Bilder von sich und ihrer täglichen Arbeit gemacht und über zahlreiche digitale Kanäle verbreitet haben.
Alles in allem handelt es sich um ein Buch, das in gleich mehrfacher Hinsicht Grenzen sprengt und das dazu einlädt, sich die politische und gesellschaftliche Geschichte der Bundesrepublik anhand von Bildern erzählen zu lassen. Die teilweise umfangreichen Begleittexte erläutern die Bilder, ordnen sie ein und lassen sie auf diesem Wege weit über das bloße Fotohinaus ihre Wirkung entfalten. Entstanden ist ein detailliertes Werk, das einem Kompendium gleich nahezu alle Aspekte der Darstellungspolitik bundesrepublikanischer Prägung seit 1949 in den Blick nimmt. Selten hat die Beschäftigung mit der Geschichte der Bundesrepublik so viel Freude gemacht wie mit diesem Buch.
Literatur
Gerhard Paul (13.03.2014): Visual History, in: Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung, online unter: https://docupedia.de/zg/Visual_History_Version_3.0_Gerhard_Paul [letzter Zugriff: 15.01.2014]
Gerhard Paul (2016): Das visuelle Zeitalter. Punkt und Pixel, Göttingen, Wallstein Verlag.
Gerhard Paul (2020): Bilder einer Diktatur. Zur Visual History des ‚Dritten Reiches‘, Göttingen, Wallstein Verlag.
Repräsentation und Parlamentarismus
Weiterführende Links
Gerhard Paul / 13.03.2014
Docupedia-Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung