Alexander Thiele: Das Grundgesetz. Verständlich erklärt
Anlässlich des 75-jährigen Jubiläums des Verfassungskonvents von Herrenchiemsee hat der Staatsrechtler Alexander Thiele eine Einführung vorgelegt, die als „Anregung zum Nachlesen und Erkunden der einzelnen Abschnitte und zum Nachdenken über das Grundgesetz“ dienen soll. Neben der Erläuterung einzelner Artikel nimmt Thiele sowohl die Entstehung und Entwicklung des Grundgesetzes als auch das politische System der Bundesrepublik in den Blick. Herausgekommen ist ein verständlich geschriebener Lektüreleitfaden, der unseren Rezensenten Michael Kolkmann zum Weiterlesen anregt.
Als am 10. August 2023 auf der bayerischen Insel Herrenchiemsee die politischen Spitzen der Republik in Anwesenheit von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier des 75-jährigen Jubiläums des Beginns der Beratungen des dortigen Verfassungskonvents gedachten, war das der Auftakt eines Jubiläumsjahres, das erst im Mai nächsten Jahres enden wird. Im Mai 2024 wird es 75 Jahre her sein, dass im Bonner Museum König das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland verabschiedet wurde. Ursprünglich als Provisorium für den westdeutschen Teilstaat geplant, wurde es nach der Wiedervereinigung im Jahre 1990 zur gesamtdeutschen Verfassung. Zugleich dürfte es sich nach verbreiteter Meinung um die freiheitlichste und beste Verfassung handeln, die Deutschland je hatte. Aus diesem Anlass sind zahlreiche populärwissenschaftliche, aber sicherlich auch politikwissenschaftliche Publikationen zu erwarten, die Bilanz ziehen werden. Als erster in dieser Reihe hat der Berliner Staatsrechtler Alexander Thiele unter dem schlichten Titel „Das Grundgesetz. Verständlich erklärt“ ein Werk vorgelegt, das sich insbesondere an Schüler*innen, an Studierende sowie an eine breite interessierte Öffentlichkeit wendet. Insofern dürfte das Buch eine Lücke im derzeitigen Literaturbestand schließen und eine entsprechend breite Leserschaft finden. Neben einer „Allgemeine[n] Staatslehre“ und einer Verfassungsgeschichte der Neuzeit („Der konstituierte Staat“) hat Thiele in den vergangenen Jahren auch Werke über die Europäische Zentralbank sowie über die „Verlustdemokratie“ veröffentlicht.
Nun versucht sich der Rechtswissenschaftler Thiele an einer kritischen Würdigung des Grundgesetzes. „Achtung, das hier ist eine Liebeserklärung an die deutsche Verfassung“ - mit dieser humorigen Warnung eröffnet die Berliner Autorin und Journalistin Jagoda Marinić, die sich nach eigenen Worten als „Verfassungspatriotin“ (11) versteht, ihre kurzweilige Einleitung: „Sicher gilt, dass dieses deutsche Grundgesetz von herausragender Qualität ist und für zahlreiche Länder zum Vorbild wurde“ (10). In Anlehnung auf Artikel 20a, der den Staat zu einer Verantwortung für die künftigen Generationen und die natürlichen Lebensgrundlagen verpflichtet sowie das Klimaschutzgesetz, „das junge Klimaschützer im Bündnis mit anderen [auf dieser Grundlage] erstritten“ (15), hält Marinić fest: „Wer denkt, das Grundgesetz sei nur ein trockener Text, hat noch nicht darüber nachgedacht, wie sich auf seiner Basis politisches Handeln umsetzen lässt“ (ebd.).
Thiele will den Leser*innen seines Buches einen Leitfaden an die Hand geben, indem er die einzelnen Teile des Verfassungstextes abschnittsweise vorstellt und erläutert. Gleich zu Beginn betont er, dass die grundgesetzlichen Regelungen aus sich heraus nicht immer leicht zu verstehen seien, „weil sie juristische Vorkenntnisse voraussetzen, auf historischen Besonderheiten beruhen oder schlicht ungewöhnlich formuliert sind“ (19). Und er ergänzt: „Der vorliegende Band will helfen, diese ‚Lektürehürde‘ zu überwinden, indem er den Text in einer erläuterten Form präsentiert, ohne allerdings jede Bestimmung umfassend und allzu formalistisch zu erklären“ (ebd.). Vielmehr handele es sich bei dem Buch um „eine Einladung zur lesenden Entdeckung unserer Verfassung, zum Stöbern und Nachdenken über das Grundgesetz und die Rolle, die es im eigenen Leben spielt oder spielen könnte: das Grundgesetz als Entdeckungsreise“ (ebd.). Angestrebt wird demnach „keine umfassende Darstellung des deutschen Verfassungsrechts im Stile eines juristischen Kommentars oder Lehrbuchs, sondern die Anregung zum Nachlesen und Erkunden der einzelnen Abschnitte und zum Nachdenken über das Grundgesetz“ (21).
Zunächst stehen die Erarbeitung und der Wandel des Grundgesetzes im Fokus des Autors. Knapp, aber prägnant skizziert er die Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes unter dem Vorzeichen des aufziehenden Kalten Krieges und der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung in der Trizone. Ergänzt werden diese Passagen durch eher problemorientiert gestaltete Absätze, etwa zum Grundgesetz als „gesellschaftliche[n] und politische[n] Rahmen“ (31ff.). Die „eigentliche Bewährungsprobe“ (31) für eine Verfassung erfolgt laut Thiele erst nach deren Verabschiedung: „Nun muss sie beweisen, dass es ihr gelingt, den politischen Prozess und das gesellschaftliche Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten und einzuhegen und damit diejenige Stabilität zu erzeugen, die bei ihrem Erlass erhofft wurde. Dazu beitragen kann eine Verfassung aus sich heraus wenig“ (31). Thiele konstatiert in diesem Zusammenhang, dass es vor allem auf den „politischen Betrieb, die politischen Entscheidungsträgerinnen und -träger, aber auch die Bevölkerung“ (ebd.) ankomme, sich den Regelungen der Verfassung zu unterwerfen und die neue Verfassung „mit all ihren Zumutungen und Einschränkungen“ (ebd.) als legitime demokratische Herrschaftsordnung anzuerkennen: „ [E]s braucht eine demokratische Verfassungskultur, und zwar nicht zuletzt bei den politischen, kulturellen und ökonomischen Eliten - eine Voraussetzung, die der Weimarer Verfassung nie vergönnt war“ (31) - eine Einschätzung, auf die Thiele im Ausblick seines Buches noch zurückkommen wird (287ff.).
Anschließend nimmt Thiele kurz die Verfassungswirklichkeit in den Blick und beschreibt wie Konrad Adenauer als Bundeskanzler und Theodor Heuss als Bundespräsident in den ersten Jahren des Grundgesetzes das Verständnis ihrer Ämter entscheidend prägten. Neben dem Verfassungstext betrachtet er also auch das Handeln politischer Akteure innerhalb des politischen Systems des Grundgesetzes. Als weiteren Faktor identifiziert Thiele das Bundesverfassungsgericht, dessen Rolle er entlang ausgewählter Urteile beschreibt (33). Am Ende des Kapitels rekapituliert der Autor die Entwicklung des Grundgesetzes im Laufe der Zeit, indem er auf wichtige Veränderungen der Verfassung blickt - entweder weil sich bestimmte Artikel als nicht gelungen herausgestellt oder sich gesellschaftliche und damit auch politische Verhältnisse verändert haben.
Nach dieser allgemeinen Einleitung wendet sich Thiele den einzelnen Abschnitten des Verfassungstextes zu. Dabei gelingt es ihm immer wieder, vom konkreten Wortlaut auf allgemeine und interessante Aspekte des jeweiligen Themas überzuleiten, etwa wenn er die Rolle von Präambeln erläutert oder die Bedeutung der Grundrechte thematisiert. Als hilfreich erweist sich dabei der Abdruck der jeweiligen Artikel zu Beginn eines jeden Kapitels, die das zusätzliche Nachschlagen im Original ersparen. Anschließend folgen Erläuterungen zu den entsprechenden Artikeln. Bei der Darstellung der dreistufigen Grundrechtsprüfung bei Freiheitsrechten (70) kann der Autor seinen rechtswissenschaftlichen Hintergrund nicht verbergen. Auch an anderen Stellen gelingt ihm immer wieder der Rekurs auf seine Disziplin, aber auch zu zentralen Bestimmungsfaktoren aus der Politik- und Geschichtswissenschaft. So ergänzt er immer wieder wichtige rechtliche Aspekte, zum Beispiel hinsichtlich der Unterscheidung von verfassunggebender und verfasster Gewalt (47). Aber auch historische Aspekte werden immer wieder in die Argumentation eingeflochten, etwa indem er auf die Französische Revolution oder die Erfahrungen der Weimarer Zeit zurückgreift. Gerade in der Abgrenzung zur Weimarer Reichsverfassung (und anderer Verfassungen) werde immer wieder der besondere Stellenwert des Grundgesetzes deutlich.
Thiele gelingt es, immer wieder pointiert Schwerpunkte zu setzen. Im Kapitel über die Grundrechte etwa fokussiert er sich auf zwei „Leitentscheidungen“ des Bundesverfassungsgerichts, das „Elfes“-Urteil und die „Lüth“-Entscheidung. Zwischen den Zeilen schimmern interessante, weiterführende Fragen durch, die über den reinen Gesetzestext hinausgehen, etwa ob es sich beim Bundesverfassungsgericht um eine rechtliche Institution oder um einen politischen Akteur handelt (vgl. 212ff.) – womit erneut unterschiedliche rechts- und politikwissenschaftliche Perspektiven miteinander verbunden werden können. Die Erläuterung der fünf zentralen Staatsstrukturprinzipien (Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat, Bundesstaat und Republik) verbindet der Autor mit grundlegenden Begriffsbestimmungen entscheidender staatstheoretischer Konzepte wie der Demokratie. Auch die politischen Parteien werden an zentraler Stelle berücksichtigt. Daneben werden Aspekte erwähnt, die üblicherweise nicht im Zentrum der Auseinandersetzung mit dem Grundgesetz stehen, etwa die Frage der Bundeshauptstadt, die Neugliederung des Bundesgebietes oder die offene Staatlichkeit (in Richtung internationaler Organisationen) (112ff.)
Es folgen die Kapitel mit den Bestimmungen der politischen Institutionen. Für einen Parlamentsforscher wie den Verfasser dieser Zeilen ist der Abschnitt über den Bundestag mit knapp neun Seiten (natürlich) viel zu knapp ausgefallen. Zwar wird auf ausgewählte Parlamentsfunktionen geblickt, die interne Struktur des Parlaments vorgestellt und anhand der Wahlprinzipien auch auf Bundestagswahlen rekurriert (und natürlich spielt der Bundestag später auch in anderen Abschnitten wie etwa dem zum Gesetzgebungsprozess eine Rolle). Doch gerade weil Thiele den Bundestag zu Beginn dieses Abschnitts als „Herzkammer der Demokratie“ und als den „politischen Primärstreitraum“ (124) der Bundesrepublik bezeichnet, wären an dieser Stelle einige zusätzliche Seiten angebracht gewesen, etwa zu den Rollen der Abgeordneten, dem Bundestag als „Fraktionenparlament“ oder aktuellen Herausforderungen rund um die Frage(n) einer möglichen Entparlamentarisierung. Noch kürzer ist indes der Abschnitt über den Bundesrat gehalten, der über knapp zwei Seiten nicht hinauskommt. Dafür werden anhand der Rolle und der Aufgaben der Bundesregierung und des Bundeskanzlers zentrale Bestimmungsfaktoren des parlamentarischen Regierungssystems und seiner Funktionslogik detailliert und kenntnisreich vorgestellt (vgl. 154ff.). Im Abschnitt zur „Rechtsprechung“ legt der Autor sein Augenmerk vorrangig auf das Bundesverfassungsgericht. Insgesamt ist das Buch somit auch eine Darstellung der zentralen Bestimmungsfaktoren des politischen Systems der Bundesrepublik.
Der abschließende Ausblick fällt sehr knapp aus, neben der kursorischen Erwähnung von verfassungsrechtlichen und -politischen Herausforderungen in den Vereinigten Staaten, Brasilien und Tunesien wäre ein tieferer Blick auf den möglichen Reformbedarf des Grundgesetzes interessant gewesen. Der Autor schließt seine Ausführungen, wie bereits erwähnt, mit einem Rückblick auf den Beginn des Buches, in dem er auf die Notwendigkeit verweist, eine geschriebene Verfassung auch mit Leben zu füllen: „Eine solche demokratische (politische und gesellschaftliche) Kultur lässt sich normativ jedoch nicht verordnen, sondern muss frühzeitig erlernt, immer wieder praktisch geprobt und aktiv gefördert werden. Eine Demokratie ist - anders als autoritäre Herrschaftsordnungen - darauf angewiesen, von ihren Bürgerinnen und Bürgern getragen und gepflegt zu werden“ (287f.). Mit Blick auf das Grundgesetz selbst konstatiert Thiele: „Es hat das politische und gesellschaftliche Leben zwar seit nunmehr 75 Jahren mitgeprägt. Daraus folgt aber keine Garantie, dass das auch in den nächsten 75 Jahren so sein wird. Der zumindest implizit erhobene Anspruch demokratischer Herrschaftsordnungen, das politisch-gesellschaftliche Zusammenleben vielleicht nicht ewig, aber jedenfalls für eine sehr lange Zeit zu organisieren, erfüllt sich nicht von selbst“ (288).
Thiele ist ein informatives und lehrreiches Buch gelungen, das an zahlreichen Stellen zum Weiterlesen und - im buchstäblichen Sinne - Nach-Denken einlädt und dem man eine große Verbreitung wünscht. Mit einem Preis von gerade einmal acht Euro sollte es einen entsprechend großen Leser*innenkreis finden. Der Auftakt in das Jubiläumspublikationsjahr ist gelungen - man darf auf die nächsten Werke rund um das Thema „75 Jahre Grundgesetz“ gespannt sein.
Demokratie und Frieden
Rezension / Michael Kolkmann / 23.04.2021
Alexander Thiele: Der gefräßige Leviathan. Entstehung, Ausbreitung und Zukunft des modernen Staates
Alexander Thiele analysiert die verschiedenen Phasen der Entstehung des modernen Staates, benennt seine Merkmale und berichtet über dessen Ausbreitung in der Welt. Staatlichkeit habe sich schon immer im Wandel befunden, dieser sollte als Chance gesehen werden. Das, wie Rezensent Michael Kolkmann schreibt, lesenswerte Buch durchziehe die Überzeugung, „dass Staatlichkeit ein Werden, ein Verändern, kein bloßes Sein ist“. Es komme auf die Bürger*innen an, diesen Prozess in die gewünschte Richtung zu lenken. Thiele spricht sich für die Schaffung eines „denationalisierten demokratischen Verfassungsstaates“ aus.
Rezension / Frank Schale / 16.06.2009
Christoph Möllers: Das Grundgesetz. Geschichte und Inhalt
In dem prägnanten Überblick gelingt es dem Göttinger Staatsrechtler, auf wenigen Seiten zentrale historische, systematische und aktuelle Aspekte des Grundgesetzes einem juristisch nicht versierten Publikum zu vermitteln. Hierzu skizziert er fundiert in fünf Kapiteln die Entstehung des Grundgesetzes, das Grundgesetz als Text, Norm und Kultur sowie wesentliche Herausforderungen.
Rezension / Sven Leunig / 10.06.2009
Maximilian Steinbeis / Marion Detjen / Stephan Detjen: Die Deutschen und das Grundgesetz
Anders als der Titel des Buches vermuten ließe, geht es dem Autorentrio weniger um das Verhältnis der Deutschen zu ihrer Verfassung, sondern vielmehr um die Frage, wie das Grundgesetz in den vergangenen 60 Jahren zentrale politische und soziale Fragen Deutschlands aufgenommen und verarbeitet hat. Diese reichen von der Teilung der Nation über die freiheitssichernde Funktion des Grundgesetzes bis zur Frage, wie das Grundgesetz – besser: der verfassungsändernde Gesetzgeber ebenso wie das interpretierende Bundesverfassungsgericht – auf die fortschreitende Globalisierung reagiert hat.
Externe Veröffentlichungen
O.V. / 23.05.2019
Deutschlandfunk