Philipp Rhein: Rechte Zeitverhältnisse. Eine soziologische Analyse von Endzeitvorstellungen im Rechtspopulismus
Die Studie beleuchtet die Bedeutung von Zeitlichkeitsvorstellungen im Rechtspopulismus. Laut Philipp Rhein geht es der Anhängerschaft der AfD, die die Partei als Kairos wahrnimmt, in einer Art „Verlustwut“ um den Ausstieg aus der gesellschaftlichen Fortschrittserzählung und die Wiederherstellung von Gerechtigkeit. Laila Riedmiller lobt die Untersuchung als überzeugenden Beitrag zu einem „notwendigen Perspektivwechsel“, der die narrative Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – sowie die damit verbundene Gleichzeitigkeit von reaktionären und modernen Vorstellungen – im radikal rechten Denken in den Blick nehme.
Eine Rezension von Laila Riedmiller
Wähler*innen rechter Parteien sind überfordert von der Gegenwart, von Abstiegsängsten geplagt, sehnen sich nach einer „retrotopisch“[1] aufgeladenen Vergangenheit, haben keine Zukunftsutopien und sehen sich dabei als Teil einer Mehrheit, die von der politischen Elite nicht (mehr) gehört wird – so ließe sich die Argumentation zuspitzen, mit der die zeitgenössische Rechtspopulismusforschung den Erfolg von Parteien wie der Alternative für Deutschland (AfD) erklärt. Die unterstellte Rückwärtsgewandtheit verweist auf den Zeitlichkeitstopos, was – bedenkt man die besonders in der jüngeren Forschung zunehmend betonte Relevanz emotionalisierender verzeitlichter Narrative in der radikalen bis extremen Rechten[2] – nicht überraschen sollte. Aber warum werden rechtspopulistische Zeitlichkeitsvorstellungen selten explizit beforscht und stimmt es tatsächlich, dass der Rechtspopulismus keine Zukunftsorientierung aufweist?
Zeitkrise statt Krisenzeit
Diese Fragen wirft Philipp Rhein in seiner Dissertation auf. Gängige Diagnosen, die die Wahlmotivation für Parteien wie die AfD primär über materielle Gründe und/oder Verlustängste erklären, seien zwar nicht grundsätzlich falsch, griffen aber zu kurz: Statt nostalgischer Vergangenheitssehnsucht treibe AfD-Wähler*innen eine “Verlustwut“[3] angesichts einer als verloren wahrgenommenen Zukunft an. Um ihre Zukunft zu retten, erscheine ihnen der metahistorische Ausstieg aus einer Geschichte, als deren Teil sie sich nicht sehen, als einzige Lösung – und die AfD wiederum als die Akteurin, die diesen Ausstieg bewältigen könne (359). Rechtspopulismus sei daher „mehr ein Kampf um Zukunft als um die Wiederaufrichtung einer Vergangenheit“ (83).
Die meisten Erklärungsansätze des rechtspopulistischen Erfolgs seien unterkomplex, da sie die empirisch vorzufindende Motivation von AfD-Wähler*innen nur unzureichend abbildeten. Hinter der Idee einer von Deprivationsgefühlen motivierten Wahl stehe die Annahme einer durch stetige Krisen verunsichernden Zeit, die die AfD geschickt ausbeute, aber: "[i]m Zentrum der Erfahrungswelten und Orientierungen der untersuchten AfD-Wähler*innen steht [...] weniger eine Krisenzeit als vielmehr eine Zeitkrise" (45). Diese bereits im ersten Kapitel getroffene Feststellung verdeutlicht den Aufbau der Arbeit, denn wie Rhein betont, orientiert er sich an der Methode der Grounded Theory und entwickelt dementsprechend die theoretischen Überlegungen aus dem empirischen Material heraus (108).
So schließt sich an das erste Kapitel, das sich der kritischen Würdigung des Forschungsstandes widmet, ein zeitsoziologisches Kapitel an, in dem Rhein dominante Temporalitätsvorstellungen der Spätmoderne von denen der Moderne abgrenzt. Mit Rückgriff unter anderem auf Hartmut Rosa[4] und Andreas Reckwitz[5] beschreibt er die soziologische Perspektive auf die Spätmoderne als eine Epoche der Beschleunigung und Veränderung, in deren Folge Rechtspopulismus als Angst vor einem Hegemonieverlust verstanden würde (78 f.).
Rhein betont, dass es sich hierbei aber auch um den Bedeutungsverlust eines Erfahrungsraums handle, der im Rechtspopulismus wiederhergestellt werden solle. Demnach handle es sich eben gerade um eine zukunftsorientierte Perspektive, die „auch eine geschichtsteleologisch begründete kollektive narzisstische Selbstaufwertung gestattet, sofern die eigene Gegenwart beständig als der notwendige Fluchtpunkt der Geschichte vorgestellt wird“ (79). Statt nostalgischer Trauer diene Rechtspopulismus der Verarbeitung einer „kollektive[n] narzisstische[n] Kränkung, die im Erfahrungsraum der Spätmoderne auf das Verhältnis von Zukunft und Gegenwart gerichtet ist“ (83).
Zu dieser Erkenntnis gelangt Rhein mittels qualitativer Interviews mit AfD-Wähler*innen, die er mit umfassenden gesellschaftstheoretischen Überlegungen verbindet, denn sein Ziel sei (auch) ein Verständnis der Gesellschaft, in der die AfD entstanden ist (30). Das berücksichtigte Material besteht aus zwölf narrativen Interviews mit AfD-Wählerinnen und -Wählern[6] aus den Jahren 2019 und 2020, die Rhein „zyklisch-iterativ“ (107) auswertete. Dabei sei entgegen der anfänglichen Erwartung zunehmend ein rechtspopulistisches, utopisches Bewusstsein zutage getreten (ebd.). Spätestens hier erschließt sich der methodische Rückgriff auf Karl Mannheim. Dessen Unterscheidung zwischen konjunktiven und kommunikativen Erfahrungen, sein Konzept von Weltanschauungen und sein Verständnis des utopischen Bewusstseins[7] harmonieren mit dem Erkenntnisinteresse der Studie, nämlich „herauszufinden für welche spezifischen (spätmodernen,) konjunktiven Erfahrungszusammenhänge die AfD von ihren Wähler*innen als Lösung angesehen wird“ (89).
Rhein argumentiert in Kapitel 3, in dem er seine Methodik umfassend reflektiert, überzeugend für eine empirische Bezugnahme auf Mannheim trotz des insbesondere aus Richtung der Frankfurter Schule geäußerten Vorwurfs eines erkenntnistheoretischen Relativismus: Gerade die geschichtsphilosophische Sparsamkeit Mannheims erlaube eine Reflexion des auch im historischen Materialismus verankerten teleologischen Fortschrittsdenkens – und es sei gerade dieses Denken, dessen Abhandenkommen in der Spätmoderne zum Erfolg des Rechtspopulismus führe (97).
Zwischen Selbstviktimisierung und elitärer Selbstaufwertung
Auf diese theoretisch-methodische Auseinandersetzung folgt die Arbeit am Material. In Kapitel 4 arbeitet er zunächst zwei Sinntypen heraus, nach denen sich die Befragten unterscheiden ließen. Während die ‚Durchschauenden‘ sich durch ein elitäres Selbstbild auszeichneten, wonach sie das Funktionieren der Welt begriffen hätten und aufgrund dieses überlegenen Wissens ausgegrenzt würden, betrieben die ‚Opfer‘ Selbstviktimisierung und begriffen sich als ausgegrenzte Minderheit in einer gespaltenen Gesellschaft (131). ‚Durchschauende‘ rationalisierten ihre Wahrnehmung und begriffen sich „als Statthalter einer abhandengekommenen oder unterdrückten, mitunter aber ewigen Normalität“ (160). Aufgrund der Ewigkeitsvorstellung bestünde aus dieser Perspektive die Chance auf eine Wiederherstellung der Normalität. Dagegen fühlten sich die ‚Opfer‘ akut von der Gegenwart bedroht und zeichneten ein „katastrophisches Zukunftsszenario, das sie allerdings schon heute durchschauen und woraus sie einen selbstermächtigten Handlungsauftrag“ ableiteten (194). An diesem Zitat zeigt sich bereits, dass auch die Opfer glauben, die Situation durchschaut zu haben. Eine eindeutige Zuordnung jeweils zu einem oder dem anderen Typ sei also kaum möglich (197), weshalb Rhein nachfolgend weitere Erklärungsebenen aufspannt.
Da die Befragten die Gegenwart als endzeitlich und apokalyptisch (199) und damit als besonders bedrohlich deuten, fragt er im fünften Kapitel nach den zeitlichen Implikationen der Selbstbilder. Er unterteilt die Befragten anhand ihrer ökonomischen und demografischen Merkmale sowie der damit verbundenen Selbstbilder in drei Erfahrungsräume: ‚Selbstständige Durchschauende‘ sowie ‚Prekäre‘ und ‚Junge Angestellte‘ Opfer (202). Mit zunehmender ökonomischer Sicherheit nähern sich die Erfahrungsräume den Durchschauenden an, wobei Rhein in seiner Analyse aber auch verdeutlicht, dass die Kategorien nicht trennscharf sind und sich die Befragten durchaus auch gleichzeitig als Durchschauende und Opfer begreifen können. Bei den befragten gutsituierten ‚Jungen Angestellten‘ komme die auch bei den Selbstständigen prägende materielle Besserstellung mit der durch die abhängige Beschäftigung verbundenen größeren Unsicherheit der Prekären (206) zusammen. Ergebnis sei eine „apokalyptische Selbstviktimisierung“ (203). Die ‚Durchschauenden‘ betrieben eine von der gesellschaftlichen Entwicklung distanzierte ‚elitäre Apokalyptik‘ und die ‚Prekären‘ sehnten aufgrund ihres Selbstverständnis als Ausgegrenzte einen Untergang mit dem Ziel des Neuanfangs herbei (202-203), wodurch sich für beide Typen die Gegenwart als „Gelegenheitsfenster mit Zukunftsausblick“ (246) darstelle. An dieser Stelle kommt die AfD ins Spiel: "Die AfD-Wähler*innen entdecken sich eher als Zeitgenoss*innen denn als Volksgenoss*innen, denn vor allem in der zeitlichen Einfärbung ihrer Gesellschafts- bzw. Geschichtsbilder wird die AfD als Problemlösung angerufen" (324).
Rechtspopulistischer Chiliasmus als säkularisiertes Heilsversprechen
Im sechsten und wichtigsten Kapitel entwickelt Rhein einen weiteren und in seiner Argumentation zentralen Erfahrungsraum, um die Affinität zur AfD zu erklären und zugleich gesellschaftstheoretisch in der Spätmoderne zu verorten: den der rechtspopulistischen chiliastischen Utopie. Ausgangspunkt dafür sind der samplingbedingte Bias, der einen regionalen Fokus auf Baden-Württemberg zur Folge hat, sowie die teils offen, teils implizit religiös geprägte Apokalyptik, die Rhein zu einem religionsgeschichtlichen Blick auf den württembergischen Pietismus veranlassen (256-258). Dabei verdeutlicht er mit Rückgriff auf Karl Löwith[8] und Jacob Taubes[9], dass die Besonderheit des Chiliasmus in seiner irdischen innerweltlichen Orientierung liegt (252). Dadurch werde er anschlussfähig für „säkulare Heilsentwürfe und futuristische Erlösungsfantasien“ (253). Es geht also beim Chiliasmus um eine Endzeitvorstellung, die nicht auf das Jenseits, sondern das Diesseits abstellt. Damit lässt sich der Begriff, wie Rhein überzeugend zeigt, nutzen, um die säkularisierte und auf die politische und gesellschaftliche Sphäre fokussierte Apokalyptik der extremen Rechten zu beschreiben.
Mit dem Begriff lasse sich erstens die Handlungsorientierung der AfD-Wähler*innen in ihrer Kombination aus Elitarismus, Selbstviktimisierung und Zukunftsorientierung beschreiben, zweitens der spezifisch regionale und kulturelle Erfahrungsraum des Samples erklären und drittens zeigen, dass die rechtspopulistische Verarbeitungsweise der Spätmoderne in einer anderen Tradition der Zeitwahrnehmung und -deutung stehe als die dominanten Formen der modernen Zeitkultur (254).
Rhein macht aus der Not seines zahlenmäßig geringen Samples eine Tugend, indem er sowohl eine württembergische Spezifik („eine anti-materialistisch vorgetragene Dekadenzkritik“, 297) ausmacht als auch anhand der nicht derartig regional geprägten Fälle argumentiert, dass zumindest Teile einer solchen chiliastischen Utopie auch bei diesen zu finden sind (345). Diese Zukunftsausrichtung schließlich sei ausschlaggebend für die Wahl der AfD: „Die Analyse zeigt, dass chiliastische Formen des Zeitbewusstseins – in religiöser wie in säkularer Gestalt – auch im Rechtspopulismus zu finden sind und ferner, wie in einem solchen Zeitbewusstsein die AfD als Kairos wahrgenommen wird: als Gelegenheitsfenster zum Ausbruch aus der historischen Zeit und für eine ganz neue Zukunft“ (249 f.).
Die AfD wird in dieser Lesart zu der Akteurin, der die Wähler*innen zutrauen, aus der gesellschaftlichen Fortschrittserzählung auszusteigen und damit für Gerechtigkeit zu sorgen, indem sie die überhistorische und verlustig geglaubte Normalität wieder herstellt (348): Es geht also explizit nicht um die Bewahrung des Bestehenden, sondern eine „Überwindung der historischen Zeit“ (358). Damit verbunden sei eine "spezifisch temporalisierte Selbstviktimisierung und -elitisierung" (356), denn die Befragten begriffen ihre wahrgenommene Deprivilegierung als Voraussetzung, um sich zur künftigen Elite in einer neuen Zeit aufzuschwingen (345). Selbstviktimisierung und Selbstaufwertung finden demnach gleichzeitig statt (348) und der darin enthaltene Erlösungsgedanke bestärkt Rheins Behauptung einer chiliastischen Utopie.
Welcher Schluss ist daraus nun für den Zustand der Demokratie zu ziehen? Für Rhein zeigt sich, dass die Befragten durch die Temporalisierung ihres Erfahrungsraumes gesamtgesellschaftliche Zeitverhältnisse be- und verarbeiten (357), zumal die Idee einer unbeherrschbaren Zukunft angesichts der „Polykrise“[10] auch von Gruppen wie Fridays For Future (FFF) geteilt werde und nicht auf die AfD beschränkt sei. Der Unterschied bestehe zwar darin, dass die von FFF befürchtete Zukunft zu verhindern sei, während die AfD und ihre Wähler*innen sich als Gelegenheitsfenster zu einer anderen Zukunft präsentierten (364). Und da sie deshalb die für die Demokratie so zentrale Idee einer gemeinsamen gestalt- und verhandelbaren Zukunft nicht länger teilten, wendeten sie sich von der Demokratie als solcher ab (366). Dementsprechend warnend-pessimistisch beschließt Rhein seine Studie, indem er vor der Verharmlosung der AfD und ihrer Wähler*innen oder der Idee einer demokratischen Rückgewinnung warnt: Es gehe nicht darum, vermeintlichen Ängsten zu begegnen, sondern „um die Verteidigung demokratischer Zukünfte gegen diejenigen, die sich eine Zukunft (nur noch) ohne sie vorstellen können" (366).
Ein notwendiger Perspektivwechsel
Philipp Rhein argumentiert überzeugend für eine teilweise Neuausrichtung der gegenwärtigen Forschung, die den Blick von der Vergangenheit hin auf die Zukunft lenkt und dabei kritisch hinterfragt, wie sehr die Selbstbeschreibung der AfD als demokratisch und repräsentativ für eine Mehrheit tatsächlich zutrifft, begreifen sich die hier Befragten doch allesamt als Teil einer (ausgegrenzten und/oder elitären) Minderheit. Deutlich wird dabei einmal mehr, dass die Annahme, man könne AfD-Anhänger*innen durch eine Adressierung ihrer Ängste zurückgewinnen, zu kurz greift, denn diese Annahme unterstellt eine grundsätzliche demokratische Ansprechbarkeit dieser Personen. Diese aber, so zeigt Rhein zumindest für sein Sample, ist nicht zwingend gegeben, und zwar gerade nicht nur bei offen rechtsextrem argumentierenden Wähler*innen, sondern auch solchen, die die antimuslimische Ausrichtung der Partei sogar kritisieren (178). Indem er den Blick auf Temporalitätsvorstellungen richtet, liefert Rhein auch eine Erklärung für einen geteilten ideologischen Kern der sehr heterogenen Wähler*innenschaft der Partei.
Insgesamt zeigt Rhein eine intensive Reflexion sowohl seiner theoretischen Vorannahmen und Methodik als auch der Begrenztheit seines Samples. So reflektiert er die Herausforderung der Soziologie, durch ihre eigene Krisenwahrnehmung nicht selbst eine bestimmte Vergangenheitsdeutung unkritisch zu übernehmen (86) und argumentiert methodisch für einen wissenssoziologischen Rückgriff auf Mannheim und Common-Sense-Theorien, weil sich damit auch das Erfahrungswissen der Befragten einbeziehen und eine zweckrationale Legitimation der Motive der Befragten vermeiden ließen (100). Dass sein Sample nur eine begrenzte Aussagekraft hat, macht er an vielen Stellen deutlich, liefert aber zugleich eine argumentativ ausreichend fundierte Basis, von der aus sich weitere Forschung zur Überprüfung seiner These des rechtspopulistischen Chiliasmus anstellen lässt.
Ein wichtiger Forschungsimpuls mit vielen Anknüpfungsmöglichkeiten
An verschiedenen Stellen lassen sich konstruktiv-kritische Rückfragen formulieren und vertiefende Diskussionen anstoßen. Die Begrenzung einer so kleinen Fallzahl wird deutlich, wenn es um die Herausarbeitung einzelner Typen geht, für die mitunter nur ein oder zwei Interviews gegenübergestellt werden. Umso wichtiger ist die Reflexion, welche Dimensionen bei der Analyse im Vordergrund stehen. Sehr nachvollziehbar ist Rheins Einbeziehung unterschiedlicher Altersgruppen, um herauszuarbeiten, dass die Verlustwut in der Spätmoderne nicht auf einzelne Generationen beschränkt werden kann (92).
Auffällig ist dagegen, dass dem Thema Geschlecht kaum Beachtung geschenkt wird, obwohl chiliastische Vorstellungen und die Idee einer Notwendigkeit des Leidens von den Befragten insbesondere am Beispiel von Familie und Kindererziehung verhandelt und auch die von einigen befragten Frauen geäußerten Emanzipationsvorstellungen diskutiert werden. Zwar wäre es verkürzt, unhinterfragt Geschlechterzugehörigkeit als Kriterium für bestimmte Zeitlichkeitsvorstellungen ins Feld zu führen. Allerdings ist eine Ausblendung der Geschlechterdimension ebenso verkürzt, zumal die herausgearbeiteten Temporalitätsvorstellungen als handlungsleitend herausgearbeitet werden und die feministische Rechtextremismusforschung schon lange darauf verweist, dass sich geschlechtsspezifische Unterschiede zwar nicht auf Einstellungsebene, sehr wohl aber auf der Ebene politischer Handlungen finden lassen.[11]
In diesem Kontext lässt sich gerade aus politikwissenschaftlicher Perspektive nach dem konkreten Politikverständnis fragen, das der Studie zugrunde liegt. So riskiert die Argumentation, wonach die Wahl der AfD als politische Handlungsfähigkeit begriffen wird, die Beschränkung des politischen Handelns auf den Wahlakt. Dies mag schon in der Fragestellung und Auswahl des Forschungsgegenstandes – AfD-Wähler*innen – angelegt sein. Doch eine Reflexion des der Interpretation zugrundeliegenden Politikverständnisses wäre möglicherweise sehr gewinnbringend. So sind die beiden Befragten, die auch lokalpolitische Ämter für die AfD übernehmen (221) zugleich Teil des sich weniger persönlich bedroht fühlenden Typs des ‚Durchschauenden‘ (159), während manche der sich als prekäre Opfer begreifenden Befragten sich gerade deshalb verraten fühlten, weil ihr individuelles Leid von in ihren Augen dafür zuständigen Anderen nicht behoben werde (190).
Rheins Ablehnung eines Nostalgieverständnisses, das Nostalgie mit Rückwärtsgewandtheit und einem Fokus aufs ‚Heartland‘[12] gleichsetzt (358), ist nachvollziehbar und schlüssig. Doch stellt sich die Frage, ob es darüber hinausgehende Nostalgiekonzepte gibt, die auch die Zukunftsorientierung einer Vergangenheitsidealisierung verhandeln – man denke etwa an Zygmunt Baumans auch in der Studie erwähntes Konzept der Retrotopie[13], nach dem nostalgische Rückgriffe auf die Vergangenheit mit einem aktiven, politisch-gestalterischen Anspruch der Zukunft einhergehen. Möglicherweise – und diese Lesart stünde nicht im Widerspruch zu Rheins Ergebnissen, wonach auch Selbstviktimisierung und Selbstaufwertung miteinander einhergehen – geht es weniger um ein Entweder-Oder als um ein Sowohl-als-Auch, sind doch (politische) Narrative immer auf eine Verknüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft angewiesen und zeichnet sich auch das radikal rechte Denken durch eine Gleichzeitigkeit von reaktionären und modernen Vorstellungen aus[14].
Diese Betonung von Gleichzeitigkeiten scheint besonders deshalb produktiv, weil sie einer begrifflichen Vereindeutigung vorbeugen und der Umstrittenheit politiktheoretischer Konzeptionen Rechnung tragen kann. Hier ließe sich gerade aus Perspektive der Begriffstheorie und der politischen Ideologieforschung produktiv an die vorliegende Studie anschließen. So grenzt Rhein den rechtspopulistischen Chiliasmus explizit vom Konservatismus ab, da Chiliasmus weder die Gegenwart bewahren wolle noch teleologisch orientiert sei (262). Zugleich erkennt er hinsichtlich des chiliastischen Denkens und der Gleichzeitigkeit von Selbstviktimisierung und Selbstaufwertung eine Parallele zu Nationalismus, Faschismus und dem Kreis der sogenannten Konservativen Revolution (348). Zwar ist die Frage, inwiefern die unter diesem Begriff versammelten Akteure tatsächlich als konservativ zu bezeichnen sind, Gegenstand hitziger Forschungsdiskussionen.[15] Doch verweisen gerade die überindividuellen Ewigkeits- (278) und Dekadenzvorstellungen (297) der Befragten auf eine große Schnittmenge mit konservativen Vorstellungen, die nachzuzeichnen sich lohnen würde. Diese begriffsreflexive Vertiefung bietet sich auch an, weil der von Rhein verwendete Rechtspopulismusbegriff innerhalb des sehr heterogenen Forschungsbereichs umstritten ist. Rhein versteht Rechtspopulismus als Begriff zur Beschreibung eines Phänomens, das sich nicht auf vermeintlich extreme Ränder beschränken lässt und als „Ausdruck typisch spätmoderner Konfigurationen in den betreffenden Sozialstrukturen“ (24) zu verstehen sei. Zugleich berücksichtigt Rhein methodisch aber auch jene Fälle des Samples, die er selbst als nicht populistisch klassifiziert (191). Hier stellt sich aber einerseits die Frage, ob sich die jeweiligen Gesprächspassagen nicht doch auch anders interpretieren lassen könnten und andererseits, welche Unterscheidung Rhein zwischen Populismus und Rechtspopulismus vornimmt bzw. was seine Vorstellung von „rechts“ in diesem Kontext ist, da dies in der Arbeit nicht näher definiert wird. Da aber im Verlauf der Arbeit auch die dem Rechtspopulismus unterstellte Nostalgie (12 f.) verworfen wird, stellt sich die Frage, wie sich die Begriffsverwendung weiter rechtfertigen lässt. Insbesondere, da nicht die Rhetorik der Partei, sondern die Motivation ihrer Wähler*innen im Fokus steht, wäre zu klären, ob Populismus hier als Ideologie, Strategie, Stil oder etwas anderes verstanden wird.
Rheins Reflexion, wonach die jeweilige Gegenwartsdiagnose auch den Blick auf die Vergangenheit prägt (86), lässt sich auch auf die Frage ausweiten, bis zu welchem Grad soziologische Krisendeutungen übernommen werden können und sollten. An diesem Punkt wird seine 2023 erschienene Dissertation sehr produktiv von den beiden im Folgejahr erschienenen Arbeiten von Felix Schilk[16] und Florian Spissinger[17] ergänzt. Denn während Rhein die Strategie der AfD, bestehende Ideenwelten auszubeuten, betont (23), erweitern Schilk und Spissinger diese Perspektive um die Erkenntnis, dass sie auch eigene Narrative produziert. Auch hier ließen sich Überlegungen zu möglichen Gleichzeitigkeiten anstellen: Gerade, weil Akteure wie die AfD auf die (behauptete) Existenz von Krisen angewiesen sind und ihre politischen Inhalte affektiv vermitteln[18], um sich als religiös angereicherte Erlösung präsentieren zu können[19], bleibt stets zu hinterfragen, inwiefern beispielsweise die in Rheins Material präsentierten Vergangenheitsvorstellungen tatsächlich als einseitige Motivation für die Wahl der AfD zu verstehen und inwiefern sie selbst bereits das Ergebnis einer erfolgreichen dystopischen Gegenwartsbehauptung der Partei und ihres Umfeldes sind.
Anmerkungen
Repräsentation und Parlamentarismus