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Rezension / 20.01.2025

Stephan Bierling: Die Unvereinigten Staaten. Das politische System der USA und die Zukunft der Demokratie

München, C. H. Beck 2024

Können die USA ihre Demokratiekrise überwinden? Stephan Bierling analysiert in seinem Buch die wachsenden Deformationen des politischen Systems, von gesellschaftlicher Polarisierung bis hin zu institutionellen Herausforderungen, und fragt, ob die Demokratie ausreichend Selbstheilungskräfte besitzt. Unser Rezensent Michael Kolkmann lobt das Werk, das noch vor der Wiederwahl von Donald Trump erschien, als unverzichtbare Analyse für alle, die die Polarisierungsdynamiken der US-Politik verstehen möchten.

Eine Rezension von Michael Kolkmann

Es kommt nicht alle Tage vor, dass ein politikwissenschaftliches Sachbuch mit einem Klassikerzitat aus der Weltliteratur eröffnet wird. Stephan Bierling, Professor für Internationale Politik und transatlantische Beziehungen an der Uni Regensburg, tut aber genau dies in seinem neuen Buch „Die Unvereinigten Staaten. Das politische System der USA und die Zukunft der Demokratie“. Er greift dabei den Beginn des Romans „Anna Karenina“ von Leo Tolstoi auf: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich“.

Bierling dient dieser Satz als Auftakt für eine aktuelle und fundierte Analyse des gegenwärtigen Zustandes des politischen Systems der Vereinigten Staaten. Er ist davon überzeugt, dass die Aussage Tolstois auch für Demokratien zutrifft: „Funktionieren sie, stimmen alle Faktoren: allgemeine, freie und gleiche Wahlen und die Akzeptanz ihrer Ergebnisse, Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, garantierte Grundrechte, unabhängige Medien, die Bereitschaft der Bürger und Politiker, das Regierungssystem nur schrittweise und entsprechend der Verfassung zu reformieren, sich in der öffentlichen Debatte zu mäßigen und den Kompromiss zu suchen. Bedroht sind Demokratien, wenn einer dieser Pfeiler wankt“ (9).

Die Architektur des politischen Systems

Fast 250 Jahre nach Verabschiedung der US-Verfassung konstatiert Bierling einleitend, dass die Deformationen im politischen System der Vereinigten Staaten zunehmen (10). Auf vorbildliche (und nachvollziehbare) Weise verbindet er in seinem Buch systematische Aspekte mit aktuellen Entwicklungen und politischen Prozessen. Im Kern geht es ihm darum, die Folgen dieser Dynamiken „für die Institutionen und Prozesse, ja für die Architektur des politischen Systems darzulegen“ (11). Die Frage, die die einzelnen Teile des Buches miteinander verbindet, lautet demnach: „Verfügt die Demokratie in Amerika über genügend Selbstheilungskräfte, ihre schwere Krise zu überwinden und in absehbarer Zeit wieder als Vorbild in die Welt hineinzuwirken?“ (12).

Als erstes legt Bierling sein Augenmerk auf den Begriff der „Mäßigung als Kernprinzip“ und skizziert in diesem Kontext die zentralen Ideen der Verfassungsväter. Anschließend nimmt er die US-amerikanische Gesellschaft in den Blick und beschreibt die Entwicklung von der „Konsens- zur Kulturkampfnation“ (36). Im dritten Kapitel werden unter der Überschrift „Brandbeschleuniger der Polarisierung“ (55) die nicht-staatlichen Akteure vorgestellt. Neben den Interessengruppen finden hier soziale Bewegungen, Think Tanks und Medien Berücksichtigung. Danach erst werden in den Kapiteln vier und fünf klassische Themen der politikwissenschaftlichen Forschung zum US-amerikanischen politischen System abgehandelt: die Parteien und die Wahlen bzw. Wahlkämpfe.

Wahlrecht und Wahlsystem

Anhand dieses Kapitels lässt sich exemplarisch zeigen, worin die Stärken des Buches liegen. Ausführlich und in großem Detail werden das Wahlrecht („Die Frage, wer an Wahlen teilnehmen darf, ist fundamental für jede Demokratie“, 103) sowie das Wahlsystem erläutert, unterteilt nach Vor- und Hauptwahlen. Den Blick auf zentrale Fragen der Wahlbeteiligung verbindet Bierling mit einer Analyse des Wahlverhaltens unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen. Illustriert werden diese allgemeinen Ausführungen durch konkrete Beispiele und teilweise kuriose Begebenheiten aus der Praxis, etwa den Hinweis auf den Demokraten John Davis, der im Jahr 1924 sage und schreibe 103 Wahlgänge benötigte, bevor er als Präsidentschaftskandidat seiner Partei feststand (vgl. 117). Auch eine Auswertung der Wahlkampfauftritte der Spitzenkandidaten im Wahljahr 2020 darf nicht fehlen, um die zentrale Rolle und Signifikanz der „Swing States“ zu unterstreichen: So fanden insgesamt 96 Prozent aller Termine der beiden Präsidentschaftskandidaten Joe Biden und Donald J. Trump in lediglich zwölf Staaten statt, 90 Prozent ihrer Werbebudgets investierten die beiden in gerade einmal sechs Staaten (vgl. 120).

Diese grundlegenden Informationen rund um Wahlen und Wahlkampf in den Vereinigten Staaten ergänzt Bierling durch die Schilderung aktueller Herausforderungen, etwa der Tatsache, dass in einer Reihe von Bundesstaaten Bemühungen zu erkennen sind, die Stimmabgabe zu erschweren. In diesem Kontext wirft er auch einen ausführlichen Blick auf die geschichtliche Entwicklung.

Wahlforschung und Wahlverhalten

Schließlich berücksichtigt Bierling stets auch zentrale Erkenntnisse aus der politikwissenschaftlichen Forschung, etwa – um nur ein Beispiel herauszugreifen – wenn es um die Frage geht, ob die Stärkung der Bürger*innenbeteiligung durch die Einführung von Vorwahlen tatsächlich zu einer Schwächung der Parteieliten geführt habe (vgl. 116). Zentrale Ansätze der Wahlforschung werden auch am Ende dieses Kapitels aufgegriffen, wenn es darum geht, eine konkrete individuelle Wahlentscheidung zu erklären. Hier thematisiert Bierling in aller gebotenen Knappheit das Parteiidentifikationsmodell, das Modell der rückwirkenden Stimmabgabe, das Valenz- bzw. Wertigkeitsmodell, das Raum- und schließlich das Richtungs-Modell, um zu bilanzieren: „Alle Modelle weisen auf wichtige Faktoren hin und sind nicht grundsätzlich richtig oder falsch, sondern in verschiedenen Phasen der amerikanischen Politik unterschiedlich aussagekräftig“ (136).

In diesem Abschnitt werden auch Phänomene wie das Stimmensplitting sowie dessen fast vollständiges Verschwinden berücksichtigt: Das Wahlverhalten in den unterschiedlichen Wahlen (zum Beispiel in Präsidentschafts- und Kongresswahlen) gleiche sich immer stärker an. In den 1970er-Jahren habe die entsprechende Korrelation 0,54 betragen, im Jahr 2016 sei dieser Wert (zum Beispiel bei den Demokraten) auf 0,97 gestiegen, das heißt nahezu jede*r Demokrat*in wählte alle Bewerber*innen der eigenen Partei (vgl. 136f.). Wechselwähler gebe es in der US-amerikanischen politischen Welt so gut wie keine mehr.

Hinzu kommen – auch in diesem Kapitel – mehrere sinnvolle Abbildungen, etwa die eines Musterstimmzettels, eine Darstellung des Kosten-des-Wählens-Index, der die Hürden der Wahlabgabe in den unterschiedlichen Bundesstaaten in den Blick nimmt, eine Übersicht der Wahlbeteiligung im Zeitverlauf und eine Landkarte mit dem Ergebnis der 2020er-Wahl im Wahlleutegremium (Electoral College). Auch eine Übersicht der Gesamtkosten US-amerikanischer Wahlen sowie ein Schaubild über das Verhältnis von umkämpften und nicht umkämpften Bundesstaaten in Präsidentschaftswahlen im Zeitverlauf ist zu finden.

Präsident, Gerichte und die Zukunft der US-Demokratie

Mit dem Präsidenten („Aufstieg zur dominanten Regierungsgewalt“, 139) wird im sechsten Kapitel der zentrale Akteur der Exekutive in den Fokus genommen. Der Abschnitt über den Präsidenten wird anschließend durch einen Abschnitt zur Bürokratie („Vollzugsorgan oder tiefer Staat“, 166) ergänzt. Danach steht unter der Überschrift „Konfrontations- statt Kompromissmaschine“ (184) die Arbeit des Kongresses im Mittelpunkt des Interesses. Ein eigenes Kapitel zum Supreme Court findet sich nicht, diese zentrale Instanz wird zusammen mit dem gesamten Rechtssystem der Vereinigten Staaten im Kapitel „Die Gerichte“ thematisiert („Vom Schiedsrichter zum Mitspieler“, 215). Der Titel des Buches findet sich als Kapitelüberschrift dort wieder, wo Bierling auf die föderale Struktur der amerikanischen Verfassungsordnung zu sprechen kommt (vgl. 238).

Etwas apokalyptisch ist das finale Kapitel überschrieben: Im Abschnitt „Todeskampf oder Neubelebung“ (260) spannt Bierling den großen inhaltlichen Bogen auf und fokussiert sich auf Zukunftsfragen der Demokratie in den Vereinigten Staaten. Dabei unterscheidet er zwischen Änderungen der Verfassung, gesetzlichen und prozeduralen Reformen wie etwa der Reform des Electoral College (wenn dessen Abschaffung nahezu unmöglich sei), der Schuldengrenze und des Filibusters im Senat sowie der politischen Elite und der Gesellschaft insgesamt (vgl. 261 ff.).

Insgesamt zählt dieses letzte Kapitel zu den am knappsten ausgefallenen Passagen des Buches. So ausführlich, detailliert und problemorientiert die vorherigen Kapitel gestaltet sind, am Ende des Buches hätte man sich als interessierte*r Leser*in einen breiteren und fundierteren Ausblick gewünscht. Aber augenscheinlich sind die aktuellen Herausforderungen des politischen Systems der Vereinigten Staaten so massiv, dass sich einfache Lösungsvorschläge verbieten - zumal die Hürden teilweise recht hoch sind, wie Bierling betont. Zentrale Aspekte etwa des Wahlsystems sind in der Verfassung verankert, und um diese zu ändern, benötigte man nicht nur Zwei-Drittel-Mehrheiten in beiden Kammern des Kongresses, sondern auch die Zustimmung von drei Viertel der 50 Bundesstaaten. Von daher ist es vermutlich kein Zufall, dass bislang in über 230 Jahren US-amerikanischer Geschichte nur knapp zwei Dutzend Zusatzartikel (Amendments) verabschiedet worden sind.

Mehr als ein klassisches Einführungswerk

Bierling hofft auf die Wähler*innen selbst. Ihm zufolge sei die „Mehrheit der Bevölkerung […] gemäßigter, als Polarisierungsunternehmer und Parteiaktivisten annehmen“ (274). Mit einem Abschied Trumps von der politischen Bühne würden die Trumpist*innen nicht verschwinden, aber sie verlören ihren „Leitwolf, Einpeitscher und [ihr] Sprachrohr“ (270). Seit dem 5. November 2024 wissen wir, dass Trump sich vorerst nicht aus der Politik verabschiedet, sondern vielmehr vier weitere Jahre im Weißen Haus verbringen wird. Aber laut Bierling könnte das Heranwachsen einer neuen Generation von politischen Akteuren dazu führen, dass Gemeinsamkeiten eher in den (gemeinsamen) Mittelpunkt gestellt werden könnten als die im Buch hinlänglich beschriebenen Konflikte.

Bierling bietet mit diesem Buch einen deutlichen Mehrwert gegenüber den klassischen Einführungswerken in das politische System der Vereinigten Staaten, die allzu oft sehr schematisch gestaltet sind. Zum einen gelingt es ihm, mit den Institutionen und den Akteuren zwei Hauptforschungsstränge der Politikwissenschaft miteinander zu verbinden, zum anderen füllt er die verfassungsrechtlichen Grundlagen mit zahlreichen empirischen Befunden aus der aktuellen Entwicklung US-amerikanischer Politik aus. Entstanden ist so ein Buch, in dem Bierling gut begründete Urteile fällt und das sich auf absehbare Zeit als unverzichtbar für alle erweisen wird, die die aktuellen Polarisierungsdynamiken in den USA nachvollziehen und das politische System der Vereinigten Staaten in nahezu allen Details kennenlernen möchten. Ein ausführlicher Anmerkungsapparat, ein detailliertes Quellenverzeichnis sowie ein Register ergänzen die Arbeit und laden zugleich zur weiteren (und vertieften) Beschäftigung mit US-amerikanischer Politik ein.



DOI: https://doi.org/10.36206/REZ25.4
CC-BY-NC-SA
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