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/ 11.06.2013
Philippe Delmas

Über den nächsten Krieg mit Deutschland. Eine Streitschrift aus Frankreich

Berlin: Propyläen Verlag 2000; 224 S.; ISBN 3-549-06006-8
Delmas' Essay ist ausdrücklich als "Streitschrift" apostrophiert; nun, der Fehdehandschuh sei aufgenommen. Das Katastrophengemälde, das der ehemalige Sicherheitsberater des französischen Außenministers Dumas von der Vergangenheit und prospektiven Zukunft Deutschlands zeichnet, verdankt sich unverkennbar dem spezifisch französischen Blick. Insofern scheint die Diagnose eher etwas über den Diagnostiker auszusagen als über den "Patienten". "Die Angst vor Deutschland kehrt wieder." (11) Denn nach d...
Philippe Delmas

Über den nächsten Krieg mit Deutschland. Eine Streitschrift aus Frankreich

Berlin: Propyläen Verlag 2000; 224 S.; geb., 34,- DM; ISBN 3-549-06006-8
Delmas' Essay ist ausdrücklich als "Streitschrift" apostrophiert; nun, der Fehdehandschuh sei aufgenommen. Das Katastrophengemälde, das der ehemalige Sicherheitsberater des französischen Außenministers Dumas von der Vergangenheit und prospektiven Zukunft Deutschlands zeichnet, verdankt sich unverkennbar dem spezifisch französischen Blick. Insofern scheint die Diagnose eher etwas über den Diagnostiker auszusagen als über den "Patienten". "Die Angst vor Deutschland kehrt wieder." (11) Denn nach der Wiedervereinigung und angesichts seiner Rolle im europäischen Einigungsprozess ist Deutschland erneut zum furchteinflößenden Machtfaktor geworden, zumal seine Mittellage es ihm jetzt wieder erlaubt, sich als "Hegemonialmacht ganz Mitteleuropas" (167) zu betätigen. Was Deutschland so gefährlich macht, ist weniger "sein Wille zur Macht" als "sein Wesen selbst" (12), und dies Wesen ist vor allem durch eines gekennzeichnet: die Unfähigkeit, eine zweifelsfreie Identität auszubilden. Um diese zentrale These ranken sich alle Überlegungen des Autors, der die gesamte Geschichte bis zur Gegenwart durchforstet, um den "deutschen Sonderweg" nachzuvollziehen. Doch auf der Strecke gelangt er zu Einschätzungen, die nicht recht zueinander passen mögen: Bis 1946 gelang es Deutschland nicht, eine nationale Identität zu entwickeln; dann nahm es die ihm von den Alliierten zugewiesene an. Vorher hatte es offenbar aber seine Identität per Eroberung herzustellen unternommen, nicht zuletzt durch den Nationalsozialismus. Zugleich ist trotz der Identitätslosigkeit von einer "unverbrüchlichen Verbundenheit" (133) aller Deutschen jenseits von Raum und Zeit die Rede, welche sich im ius sanguinis und der Repatriierung ehemaliger Aussiedler zeigt. Dann gibt es noch die Ökonomie als Identitätsgrundlage, weiterhin die D-Mark, den Föderalismus (der zugleich auch identitätszerstörend ist) und die deutsche Sozialstaatlichkeit. Die Wiedervereinigung brachte die - eigentlich doch nicht existente - Identität in die Krise, obwohl sie doch gerade den von den anderen europäischen Mächten gefürchteten Machtzuwachs zur Folge hatte. Und in der europäischen Einigung zeichnete sich ein "deutsches Europa" (166) ab, obgleich Deutschland noch immer nicht weiß, was es will und was es ist - es sei denn, es macht sich das Konzept des "Verfassungspatriotismus" zu eigen, dessen philosophische Grundlage der Autor merkwürdigerweise "vom linken wie vom rechten politischen Lager" (69) geteilt sieht. So lange Deutschland jedoch mit seiner Identität hadert, führt seine Unsicherheit zu kriegerischen Aktionen. Deshalb auch befürchtet der Autor den "nächsten Krieg mit Deutschland". Diese recht eigenwillige Beurteilung des deutschen (Un-)Wesens erklärt sich aus einem Quellpunkt: dem französischen Identitätsverständnis, das mit nationaler Identität Homogenität, Zentralismus und Etatismus verbindet. Der Föderalismus ist solchem Denken schlicht ein Schrecknis; eine nationale Zugehörigkeit, die sich nicht territorialstaatlich definiert, wird zum unpolitischen Romantizismus; und die Identitätsstiftung per Kulturnation ist nichts weiter als provinziell. Der Trick dabei ist: Hier wird der französische Chauvinismus einfach als Universalismus ausgegeben, der alte Gegensatz von "Kultur" und "Zivilisation" (48) wieder belebt. Frankreich steht dabei natürlich aufseiten der Zivilisation - was nicht weiter schwer ist, wenn man darunter letztlich die Beherrschung der "Machtlogik der Nationalstaaten" (152) versteht. Auf diese Weise lassen sich auch Napoleons Eroberungs- und Vernichtungsfeldzüge als zivilisatorischer Akt deuten. Wozu aber Delmas' intensive Befassung mit dem kranken Nachbarn? Die Antwort ist einfach: Die Europäische Union bringt auch die französische Identität, die sich so sehr auf Souveränität gründet, in Bedrängnis. Da bietet es sich an, nunmehr im Verein mit dem schicksalhaft verbundenen ehemaligen "Erbfeind" die Führerschaft in der EU zu übernehmen, um deren Ausgestaltung gemäß dem amerikanischen Modell zu verhindern. Ließe man es bei den bisherigen Kräftekonstellationen, könnten die USA nämlich "der politische Garant für ein Europa sein, das der Wirtschaft ausgeliefert ist wie andere einem Laster". Wie könnte dagegen die deutsch-französische Offensive aussehen? Deutschland muss "seiner Macht einen historischen Sinn geben" (204), und dazu bedarf es seiner Domestizierung durch Frankreich. Zwar wird auch Frankreich Abschied von seinem bisherigen Souveränitätsverständnis nehmen müssen, aber da "keine Strategie, kein geopolitisches Arrangement, das Frankreich nützlich wäre, [...] sich ohne Deutschland konzipieren" (209) lässt, ist um der Selbsterhaltung willen die gemeinsame EU-Führerschaft wohl unabdingbar. Offenbar hat Delmas Frankreich dabei die Rolle des Kopfes, Deutschland die des Körpers zugedacht. Da bleibt nur zu hoffen, dass sich Deutschland nicht als so kopflos erweisen möge, einer derart radikalen Organverpflanzung zuzustimmen - zumal es so seine Identität schon wieder jemand anderem verdankt.
Barbara Zehnpfennnig (BZ)
Prof. Dr., Professur für Politische Theorie und Ideengeschichte, Universität Passau.
Rubrizierung: 4.214.222.61 Empfohlene Zitierweise: Barbara Zehnpfennnig, Rezension zu: Philippe Delmas: Über den nächsten Krieg mit Deutschland. Berlin: 2000, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/12386-ueber-den-naechsten-krieg-mit-deutschland_14797, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 14797 Rezension drucken
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