/ 12.06.2013
Rolf Schieder
Wieviel Religion verträgt Deutschland?
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001 (edition suhrkamp 2195); 214 S.; kart., 9,50 €; ISBN 3-518-12195-2Vielen Theologen scheint inzwischen der Gegenstand ihrer Wissenschaft abhanden gekommen zu sein. Stattdessen beschäftigen sie sich gern mit der empirischen Realität von Kirche und Welt. Unter der Hand sind sie zu Soziologen geworden, der Wissenschaft von der Gesellschaft und dem Zusammenleben der Menschen, das auch innerhalb der Religionsgemeinschaften untersucht werden kann. Sie legen dabei häufig präzise Analysen vor, doch die Schlüsse, die sie aus ihnen ziehen, entbehren oft des theo-logische...
Rolf Schieder
Wieviel Religion verträgt Deutschland?
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2001 (edition suhrkamp 2195); 214 S.; kart., 9,50 €; ISBN 3-518-12195-2Vielen Theologen scheint inzwischen der Gegenstand ihrer Wissenschaft abhanden gekommen zu sein. Stattdessen beschäftigen sie sich gern mit der empirischen Realität von Kirche und Welt. Unter der Hand sind sie zu Soziologen geworden, der Wissenschaft von der Gesellschaft und dem Zusammenleben der Menschen, das auch innerhalb der Religionsgemeinschaften untersucht werden kann. Sie legen dabei häufig präzise Analysen vor, doch die Schlüsse, die sie aus ihnen ziehen, entbehren oft des theo-logischen Fundaments.
Schieder widmet sich in seinem Essay dem Dreiecksverhältnis zwischen Religion(en), Politik und Staat, weniger dem Verhältnis zwischen Kirche(n) und Staat. Bereits der Titel des Buches weckt falsche Erwartungen und in mancher Hinsicht auch Befürchtungen, es könnte hier eine Kosten-Nutzen-Rechnung für Religion in einem Gemeinwesen aufgemacht werden. In der Einleitung fragt der evangelische Theologe danach, "was für Religionen (Deutschland) braucht und verträgt, und welche zivilreligiösen Kriterien haben wir zur Hand, um die Religionen zu beurteilen?" (9) Nur wenige Seiten später wendet er sich mit Bezug auf Schleiermacher jedoch gegen die Funktionalisierung und Reduzierung von Religion (13) sowie ihre "Instrumentalisierung für eine sogenannte Werteerziehung" (55). Ungewöhnlich ist auch der Begriff der Religionspolitik, unter der Schieder zivilreligiöse Aktivitäten des Staates versteht, die im Kern wiederum der Religionsfreiheit dienen sollen. Der Autor tritt für einen prinzipiellen Pluralismus auf dem Feld der Religionen und Weltanschauungen ein und stellt diesen der laizistischen Verdrängung, der säkularisierungstheoretischen Beerbung und der wertevermittelnden Orientierung gleichermaßen entgegen (155).
Eine seiner Thesen lautet, dass die Beschränkung von Religion auf die etablierten Kirchen nicht mehr möglich sei (7). Welche Folgen es hat, wenn der Staat in seiner "Religionspolitik" keine gleichwertige Institution als Partner hat, wird in dem Kapitel über "Die Deutschen und die Muslime" deutlich. Islamischer Religionsunterricht verantwortet in Deutschland, wenn er denn angeboten wird, überwiegend der türkische Staat. "Hier zeichnet sich der Trend ab, den Einfluß der Religionsgemeinschaften zu minimieren und den des Staates zu maximieren" (167). Religionsgemeinschaften ohne verbindliche Institutionen haben es besonders schwer. Schieder weist ebenso darauf hin, dass die Kirchen als Institutionen, aber auch für die individuellen, privaten Glaubensvorstellungen unverzichtbar sind, da diese "nur in der Auseinandersetzung mit der kollektiven, auf Verpflichtung zielenden, institutionalisierten Religion entstehen" könnten (67).
Der Autor ist zwar um starke Thesen nicht verlegen, sein Essay erzeugt dennoch ein wenig Ratlosigkeit. Einerseits steht er dem Staat als Wertevermittler ablehnend gegenüber, andererseits möchte er eine Zivilreligion in der Bundesrepublik befördern. Das führt zu missverständlichen Formulierungen wie der, dass die staatliche Religionspolitik nicht dazu diene, die Religion zu privatisieren, sondern sie zu zivilisieren (17).
Es ist unklar, welche Perspektive der Autor einnimmt, die eines Theologen kann es nicht sein, denn die Wahrheitsfrage, die von den Religionen nicht nur gestellt, sondern auf ihre je eigene Weise auch beantwortet wird, spielt in seiner Argumentation keine Rolle. Verbindliche Antworten auf die Fragen nach dem Woher, Wohin und Wozu zu unterdrücken, um Konflikte zu vermeiden, ist ein Anliegen des liberalen Staates, dem sich Schieder verpflichtet fühlt. Vielleicht fasst die Anmerkung zum Protestantismus sein Anliegen am besten zusammen, der die Kraft des Christentums nicht an der Stärke des Gottesdienstbesuchs messe, "sondern an der Vernetzung und Verästelung christlicher Gehalte mit gesellschaftlichen Strukturen" (20). Das könnte allerdings ebenso gut eine Definition der Säkularisierung sein. Gerade die Säkularisierungsthese lehnt Schieder aber ab und fordert, das Forschungsinteresse von Säkularisierung auf Modernisierung umzustellen, wo die Religionen keineswegs nur Opfer, sondern selbst Akteure seien (48).
Inhalt: 1. Das religionspolitische Problem; 2. Religionsinflation und Religionspolitik; 3. Säkularisierung oder Modernisierung der Religion?; 4. Religionsdefinitionen und Religionszuschreibungspraktiken; 5. Von Aurelius Augustinus bis Jean-Jaques Rousseau; 6. Zivilreligion in Amerika; 7. Zivilreligion in Deutschland; 8. Die Deutschen und die Juden; 9. Die Deutschen und die Muslime; 10. Die Deutschen und die Christen; 11. Religionspolitische Optionen; 12. Die Zivilisierung und Modernisierung der Religion als gesamtgesellschaftlicher Prozeß.
Henry Krause (HK)
Dipl.-Politologe, Referatsleiter, Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, Dresden.
Rubrizierung: 2.35
Empfohlene Zitierweise: Henry Krause, Rezension zu: Rolf Schieder: Wieviel Religion verträgt Deutschland? Frankfurt a. M.: 2001, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/13371-wieviel-religion-vertraegt-deutschland_16022, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 16022
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Dipl.-Politologe, Referatsleiter, Sächsische Landeszentrale für politische Bildung, Dresden.
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