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Sebastian Pink, Johannes Schmidt: Das Wetter ist politisch – Starkregen, Hochwasser und Flut vor der Bundestagswahl 2021

06.08.2023
1 Ergebnis(se)
Autorenprofil
Lucas Neuling, M.A.
Bild: Hermann Traub, Pixabay. Die Studie erschien in: Z Politikwiss 33, 1–27 (2023). https://doi.org/10.1007/s41358-023-00342-w.

Wie hat das verheerende Unwetter Mitte Juli 2021 in Deutschland die Bundestagswahl beeinflusst? Dieser Frage stellen sich Sebastian Pink und Johannes Schmidt in ihrer Studie. Sie untersuchen, welche Parteien (CDU, SPD, Grüne) von der Dankbarkeit (oder dem Unmut) der Wähler profitierten. Lucas Neuling hat die Vorgehensweise und Ergebnisse für uns besprochen. (nb)


Eine Studienbesprechung von Lucas Neuling

Die beiden Autoren – jeweils im Bereich der politischen Soziologie zu verorten – leiten ihren Artikel mit den Unwettern etwa zwei Monate vor der Bundestagswahl 2021 ein. Sie verweisen auf deren immense Folgen, welche mit 184 Todesopfern und einer Schadenshöhe von 17 Milliarden Euro zur schlimmsten Flutkatastrophe in Deutschland seit 70 Jahren avancierte (2). Unter dem Verweis auf die Bundestagswahl 2002, deren Wahlausgang ebenfalls extrem vom vorangegangen Hochwasser zugunsten des „man in charge“ Gerhard Schröder entschieden wurde, formulieren die beiden Autoren ihr übergeordnetes Erkenntnisinteresse wie folgt: „Wie hat diese verheerende Naturkatastrophe die Bundestagswahl beeinflusst?“ (2). Vor allem um der Fragestellung – gerade im Vergleich zu 2002 – eine neue Dimension zu verleihen, weisen die Autoren darauf hin, dass sich die politische Situation dahingehend unterschied, dass die Amtsinhaberin, Angela Merkel, 2021 nicht zur Wiederwahl antrat. Aus diesem Grund benennen die Autoren ihr Forschungsinteresse in folgender Frage: „Wem drücken betroffene Menschen mit ihrer Stimme Dankbarkeit für Unterstützung und Krisenmanagement aus, wenn amtierende politische Entscheidungstragende nicht zur Wiederwahl stehen?“ (3).

Bereits im nächsten Satz stellen Pink und Schmidt die These auf, dass in der beschriebenen Situation seitens der Betroffenen „die Ministerpräsident*innen als Personen in der nächstniedrigeren politischen Verantwortungsebene“ (3) rekrutiert werden. Als grundlegende methodische Vorgehensweise erläutern die Autoren den Test ihrer Hypothese mittels dazu zum Einsatz kommender ,Difference-in-Differences‘-Panel-Regressionsmodelle (3) und benennen die beiden Testhypothesen, wonach entweder die CDU/CSU als Partei der amtierenden Bundeskanzlerin oder die SPD als Partei von Vizekanzler und Finanzminister Olaf Scholz vom Krisenmanagement ihrer Amtsträger*innen profitieren (3). Parallel, jedoch nicht in direktem Kontext zur Fragestellung, prüft die Analyse ebenfalls die Hypothese, ob die Partei Bündnis 90/Die Grünen infolge dieser spürbaren Folgen des Klimawandels Wahlgewinne erzielt (3). Die Autoren betonen die Wichtigkeit dieser spezifischen Frage, da sie voraussagen, dass Extremwetterereignisse auch zukünftige Wahlen beeinflussen könnten. Der Artikel beinhaltet somit zwei parallele Fragestellungen, obwohl die zweite mit einer einzelnen Hypothese der ersten nicht mit gleichem Aufwand gegenübersteht.

Im zweiten Kapitel beschreiben die Autoren die meteorologischen sowie geografischen Folgen des Tiefdruckgebietes „Bernd“ im Juli 2021 (4 f.). Einen besonderen Fokus legt die Beschreibung, neben den medizinischen und technischen Hilfen, vor allem auf die finanziellen Unterstützungen seitens der Länder Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Bayern und Sachsen sowie dem Bund.

Das dritte Kapitel widmet sich der theoretischen Fundierung der Analyse sowie der Hypothesen (5 ff.). Ihre grundlegende Annahme bauen Pink und Schmidt klar nachvollziehbar auf dem Theorem der „voter gratitude“ auf, wonach Wahlergebnisse in betroffenen Gebieten eine Art der Dankbarkeit oder auch Abstrafung der politischen Amtstragenden darstellen. Aus den empirischen Beispielen der deutschen Bundestagswahl 2002, nordamerikanischen Gouverneurs- oder Kommunalwahlen sowie italienischen Kommunalwahlen lässt sich ableiten, dass die Dankbarkeit vor allem Amtstragenden zugutekommt, da sie der Bewertung unterliegen, wie sie ihren Ressourcen-Zugang nutzen, woraus sich zukünftige Handlungsweisen erwarten lassen (6). Anschließend bemerken die Autoren, dass dieser Mechanismus für ihre Untersuchung eine Herausforderung darstellt, da sich selbiger vor allem auf Wiederwahl-Prozesse bezieht (7). Im Folgenden stellen Pink und Schmidt ihre drei Haupthypothesen vor, wonach die Wählenden ihre Wahldankbarkeit entweder der Partei der Bundeskanzlerin (H1), des Vizekanzlers und Finanzministers (H2) oder der Ministerpräsident*innen (H3) zugutekommen lassen (7 ff.).

Die im vierten Abschnitt strukturiert dargestellte Operationalisierung der Datenauswertung (11 ff.) löst zunächst einmal das Problem der Ämterhäufung pro Partei. So wird H1 hauptsächlich in Gemeinden des SPD-geführten Landes Rheinland-Pfalz und H2 in Gemeinden der Unionsgeführten Länder Nordrhein-Westfalen, Bayern sowie Sachsen geprüft. Für die Grünen-Hypothese (H4) entfällt ein derartiger Interaktionsfaktor, da die Bündnisgrünen in keinem der Bundesländer das Amt der Ministerpräsident*in besetzen. Insgesamt umfasst die Analyse 93 vom Starkregen betroffene Gemeinden der vier genannten Länder.

Mit Blick auf die empirischen Ergebnisse (16 ff.) offenbaren sich deutliche Korrelationseffekte zugunsten der Hypothesen drei und vier. Die Resultate der Regression offenbaren einen Bonus für die Partei der Ministerpräsident*innen. Die Union gewann in den Gemeinden von Nordrhein-Westfalen, Bayern und Sachsen im Mittel 2,6 Prozent im Vergleich zur vergangenen Bundestagswahl 2017 hinzu, während sie in Rheinland-Pfalz 4 Prozent verlor. Der Bonus des „man in charge“ betrug also insgesamt 6,6 Prozent . Für die SPD ergab sich ein Bonuswert von 3 Prozent. Für die Union analysierten die Autoren ebenfalls eine Korrelation zwischen Schäden und Stimmzuwachs, der bei der SPD nicht auftrat. Daraus folgt ebenso eine klare Verfehlung der Hypothesen eins und zwei, da Union und SPD in den komplementär geführten Ländern keine Gewinne verzeichneten und somit keinerlei Bonus aus dem Amt der scheidenden Bundeskanzlerin und des Vizekanzlers/Finanzministers hervorging. Die vierte Hypothese, die einen Stimmzuwachs der Grünen vorhersagte, erfuhr eine Bestätigung, da die Grünen im Mittel 3,2 Prozent in den Gemeinden hinzugewannen. Da hier jedoch jegliche Gegenprüfung – beispielsweise zum generellen Stimmenzuwachs der Grünen – fehlt, scheinen die Ergebnisse nur eingeschränkt aussagekräftig.

In der abschließenden Diskussion (18 ff.) kommen Pink und Schmidt zu dem Schluss, dass bei Naturkatastrophen die politischen Entscheidungstragenden einer Bewertung der betroffenen Wählenden unterliegen. Beim Fehlen amtierender Wiederwahlkandidierenden rücken dabei automatisch die Ministerpräsident*innen in den Fokus. Neben einer vorsichtigen Prognose, dass auch weiterhin eher Bündnis 90/Die Grünen von etwaigen Ereignissen profitieren werden, weisen die Autoren auf die regionalen Besonderheiten hin. Etwas zu prognostisch stellen sie die These auf, dass eine Verschiebung der Starkregenfälle von Rheinland-Pfalz auf das Saarland für die dort regierende CDU womöglich den Ausgang der Bundestagswahl entscheidend beeinflusst hätte und die Grünen durch ihre fehlende Landesliste benachteiligt gewesen wären.

 

CC-BY-NC-SA
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