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Werner J. Patzelt: Ungarn verstehen. Geschichte – Staat - Politik

03.11.2023
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Autorenprofil
Dr. Sven Leunig
München, Langen Müller Verlag GmbH 2023

Werner J. Patzelt möchte unser Bild Ungarns korrigieren. Inhaltlich berichtet sein Buch über die Historie des Magyarenstaates, über Polarisierung und wägt Argumente sowie Kritik an einer den „wahren Volkswillen“ interpretierenden Politik durch den national-konservativen FIDESZ ab. Als Forschungsdirektor des der ungarischen Regierung nahestehenden Mathias Corvinus Collegiums (MCC) in Brüssel zeichne er dabei „ein vergleichsweise positives Bild“ des politischen Systems unter Viktor Orbán, so unser Rezensent Sven Leunig. Im Resultat sieht Leunig einen Blickwinkel auf die Politik und Kultur Ungarns, der aber nicht auf wissenschaftlichen Standards beruhe. (tt)


Eine Rezension von Sven Leunig

Werner J. Patzelt reiht sich mit seiner Monografie über Ungarn in die Reihe derer ein, die sich in den letzten Jahren mit dem Staat der Magyaren befasst haben. Und man neigt dazu, zumindest nach der Lektüre von drei Vierteln des Buches, den Begriff „Ungarnversteher“ im durchaus doppelten Sinne verwenden zu wollen, zeichnet Patzelt doch ein vergleichsweise positives Bild vor allem des politischen Systems unter Viktor Orbán. Hinzu kommt, dass Patzelt die Entstehung des verbreitet negativen Bildes des Landes zunächst vor allem den deutschen und internationalen, zum Teil auch ungarischen, Medien zuschreibt. Gegen die „linksliberal dominierte Medienlandschaft“ (31), ein Begriff, der so oder in Abwandlungen recht häufig im Buch vorkommt, scheint der Verfasser jedenfalls eine herzliche Abneigung zu hegen. Insofern geht er schlicht von einem „falschen“ – sprich, sehr kritischen - oder jedenfalls ungenauen Ungarnbild aus, das er mit seinem Werk geraderücken möchte.
Insofern widmet er nur folgerichtig die ersten fast 50 Seiten vor allem dem „Ungarnbild“ der Deutschen, das, wie er stets aufzeigen möchte, „verzerrt“ sei. Die Ungarn selbst, so erhält man den Eindruck, seien mit System und Politik eigentlich recht zufrieden – mal abgesehen von der Korruption im Lande, die die Ungarn mit großer Mehrheit (80 Prozent) auch nach 12 Jahren der Regierung Orbáns noch als „großes Problem ansehen“ (41).

Kenntnisreich, so darf man vermuten, ist in jedem Fall das sich daran anschließende, ebenso lange Kapitel zur ungarischen Geschichte, welches allerdings ob der schieren Faktenzahl auch etwas „überladen“ erscheint. Aber das dürfte sich bei einer über 1000-jährigen Historie kaum vermeiden lassen. Schon im letzten Abschnitt dieses Kapitels macht Patzelt – durchaus in Übereinstimmung mit der Forschung – deutlich, dass die Polarisierung, welche die ungarische Gesellschaft auszeichne, nicht erst unter Orbán, sondern bereits Mitte der 1990er-Jahre begann und von den seinerzeit regierenden Sozialisten tatkräftig unterstützt wurde.

Wie schon angedeutet, erhält man im Kapitel 3 über das ungarische Regierungssystem den Eindruck, alles sei in diesem Lande „zum Besten bestellt“, was angesichts der breiten Kritik, die am System Orbán nicht nur medial, sondern auch in der Forschung geübt wird, doch einigermaßen überrascht. In jedem Fall kann man diesem Abschnitt aber eine große Faktenkenntnis zubilligen – und es sind, das wird hier schon deutlich, auch nicht einzelne Systemeigenschaften, die es „illiberal“ oder gar „undemokratisch“ werden lassen. Vielmehr liege es an der andauernden „übergroßen Mehrheit“ von FIDESZ und seiner Koalitionspartnerin KNDP, die viele „Sicherungsmechanismen“ etwa im Bereich der Gewaltenteilung de facto außer Kraft setzen.

Der ausführlichen Darstellung des Regierungssystems schließt sich die Präsentation etlicher zentraler Politikfelder – von der Erinnerungspolitik über die Familien- bis zur Europapolitik – in Kapitel 4 an. Hier finden sich schon durchaus häufiger kritische Anmerkungen des Autors, wenn auch manchmal nur in Fußnoten, sei es zur Externalisierung öffentlichen Vermögens in den dem FIDESZ nahestehenden politischen Stiftungen (326) oder der Schwächung der staatlich geförderten Kulturinstitutionen durch Mittelkürzungen (369). Auch weist Patzelt offen darauf hin, dass sich die Regierung ausweislich der von Umfragen und (im Sinne der Regierung) gescheiterten Volksbefragungen hinsichtlich ihrer LGBTQ*-Politik „nicht auf eine mehrheitlich starke Unterstützung seitens der ungarischen Regierung verlassen“ könne (353).

Richtig interessant wird es aber erst in Kapitel 5 des Buches, das sich in zwei Abschnitte unterteilt. Entsprechend dem, wie Patzelt betont, „Kontroversitätsprinzip politscher Bildungsarbeit“ stellt er in Abschnitt 1 die gesammelte Kritik an Orbán und seiner Regierung dar, ohne den Leserinnen und Lesern „die politischen Ansichten oder Deutungsvorlieben des Darstellenden […] aufzudrängen“ (403). Diese löbliche Zurückhaltung überrascht zunächst fast etwas, hat man im Kapitel 1 des Buches ja nicht unbedingt den Eindruck, dass Patzelt mit seiner Meinung sonderlich hinter dem Berg hält – Stichwort Kritik an den „links-grünen“ Medien. Tatsächlich aber stellt Patzelt die Kritik an Orbán so „neutral“ und nüchtern dar, dass man schon fast den Eindruck erhält, dass er diese teilt. So zitiert er mehrfach den Orbán-Kritiker Paul Lendvai, etwa, wenn er schreibt, Orbán habe nach dessen Ansicht institutionelle Korruption in einem nicht gekannten Ausmaß zum Wuchern gebracht (421). In jedem Fall erhalten die Leserinnen und Leser in diesem Kapitel all jene Punkte genannt, die man vielleicht schon gern in Kapitel 3 über das politische System gelesen hätte – aber besser spät als nie.

Ebenso interessant und vor allem erhellend ist der zweite Abschnitt dieses Kapitels, in dem, sozusagen, die „Orbán-Verteidiger“ zu Wort kommen. Deutlich wird hier nämlich, dass diese den in der Regel Orbán vorgeworfenen Abbau demokratischer Strukturen, insbesondere hinsichtlich der „checks and balances“ und der Beherrschung des staatlichen wie privaten Mediensektors nicht etwa bestreiten. Im Gegenteil – diese Maßnahmen werden als notwendig dargestellt, um dem „wahren Volkswillen“ zur Geltung zu verhelfen. Damit entspricht das Denkmuster Orbáns, wie auch an anderer Stelle in der Forschung immer wieder betont wird, jenem des Populismus, der bekanntlich davon ausgeht, dass nur die populistischen Parteien in der Lage sind, diesen Volkswillen zu erkennen und auch umzusetzen. Fast eine Randnotiz stellt dabei dar, dass Patzelt den Begriff „Rechtspopulismus“ in seinem ganzen Werk praktisch nicht erwähnt, in jedem Fall nicht im Kontext der FIDESZ-Partei, die fast durchgängig als „konservativ-national“ bezeichnet wird.

In toto kann man feststellen, dass es sich bei dem Werk tatsächlich um einen sehr inhaltsreichen Überblick über Politik, Geschichte und Kultur Ungarns handelt, der zweifellos dazu beiträgt, das Land besser zu verstehen. Leider hält sich der Autor dabei nicht an die wissenschaftlichen Standards, denn der Emeritus der Dresdner TU verzichtet fast völlig (von längeren Zitaten abgesehen) darauf, seinen Aussagen an konkreten Quellen und einschlägiger Forschungsliteratur zu belegen und verweist stattdessen auf allgemeine Literaturangaben – das ist mehr als bedauerlich und mindert die Qualität des Werkes erheblich.

 

CC-BY-NC-SA
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