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Rezension / 23.07.2019

BREXIT. Eine Bilanz

Wiesbaden, Springer 2019

Der 23. Juni 2016 bilde eine historische Zäsur in der Geschichte der Europäischen Union, denn es sei ein Prozess eingeleitet worden, „der langwierig, schmerzhaft und streitbeladen sein“ wird, dessen Folgen schwer abzuschätzen sind, schreibt Rudolf G. Adam. Der Brexit werfe nicht nur ökonomische und institutionelle Probleme auf, sondern berge auch das Potenzial, „Großbritannien und den Kontinent politisch-psychologisch auseinander oder sogar gegeneinander zu treiben“. Insofern sei er als Auslöser eines weitreichenden politischen Transformationsprozesses zu sehen.

Der 23. Juni 2016 bildet eine historische Zäsur in der Geschichte der Europäischen Union. Mit rund 52 zu 48 Prozent stimmte eine hauchdünne Mehrheit der britischen Bevölkerung für den Austritt Großbritanniens aus dem europäischen Gemeinschaftsprojekt. Was zuvor undenkbar schien, wurde nun bittere Realität. Die Nachricht vom Austritt löste eine ähnliche Fassungslosigkeit aus wie die Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten. Der Brexit war und ist eines der beherrschenden politischen Themen: Seit der frühere Premierminister David Cameron im Januar 2013 ein Referendum über den Verbleib des Königreiches in der EU offiziell ankündigte, vergeht kein Tag, an dem der Brexit nicht Gegenstand der medialen Aufmerksamkeit ist – was in Teilen der Öffentlichkeit durchaus als Drangsal empfunden wird. Inzwischen ist diese Entscheidung zu einem dermaßen unüberschaubaren Konvolut aus Fakten und widersprüchlichen Meinungen angewachsen, dass ein verständlicher Überblick nahezu unmöglich erscheint. Mit „Brexit. Eine Bilanz“ legt der ausgewiesene Großbritannienkenner Rudolf G. Adam – langjähriger deutscher Diplomat, Journalist und Autor –, nun die erste umfassende Überblicksdarstellung zum Thema Brexit vor.

Gleich zu Beginn macht der Autor seine Einschätzung der Lage deutlich: „Der Brexit hat einen Prozess eingeleitet, der langwierig, schmerzhaft und streitbeladen sein wird. Seine Folgen sind schwer abzuschätzen. Es wird ein raues Erwachen mit ernüchternden Momenten geben. Der Gegenseite die Schuld zuzuschieben, wenn sie die eigenen Wunschvorstellungen nicht erfüllen, liegt nahe, ist aber gerade deshalb gefährlich. Der Brexit wirft nicht nur ökonomische und institutionelle Probleme auf. Er hat das Potenzial, Großbritannien und den Kontinent politisch-psychologisch auseinander oder sogar gegeneinander zu treiben.“ (VI) Der Brexit ist also weit mehr als eine außenpolitische Herausforderung, er ist ein Auslöser eines weitreichenden politischen Transformationsprozesses, dessen Auswirkungen unabsehbar sind. Adam beschreibt den Anspruch seines Buches daher folgendermaßen: „Umso wichtiger ist es, die Vorgänge, die zu dieser Entwicklung geführt haben, zu verstehen. Wer den Kurs künftiger Ereignisse kalkulieren möchte, ist gut beraten, die Strömungen, Stürme und Klippen zu kennen, die in der Vergangenheit den Kurs Großbritanniens bestimmt haben.“ (VII)

Der Autor gliedert seine Darstellung in vier ausgewogene Abschnitte: Zunächst erfolgt eine historische Darstellung der Beziehungsdynamik zwischen Großbritannien und Kontinentaleuropa seit dem Zweiten Weltkrieg. Bereits hier wird deutlich, dass der Brexit auf eine lange Vorgeschichte aufbaut und eine Vielzahl von Argumenten bereits in den 1950er- und 1960er-Jahren präsent waren. Der zweite Abschnitt konzentriert sich auf die Regierungszeit David Camerons zwischen den Jahren 2010 und 2016 sowie den grundlegenden Problematiken, anhand derer die Idee des Brexit konkrete Konturen annahm und schließlich in einer Volksbefragung mündete. Hier werden zudem die beiden Kampagnen Remain und Leave analysiert. Im dritten Abschnitt geht es um die anschließende Regierungszeit Theresa Mays, ihre Bewertung des Votums, die Organisation und die Ergebnisse der Austrittsverhandlung sowie die Problematik der Mehrheitsbeschaffung im Parlament. Adams Darstellung erstreckt sich bis zur jüngsten Abstimmungssituation im Januar 2019, deren verfahrene Lage schließlich zum Rücktritt Mays führte – dieser ist jedoch selbst nicht Gegenstand der Erörterungen. Im vierten Abschnitt schließlich erfolgt eine Einordnung des Brexits im Lichte derzahlreichen möglichen Szenarien über die sozialen, politischen und ökonomischen Folgen für Großbritannien, Irland, die EU und Deutschland.

Adam macht in seiner Darstellung deutlich, dass die Ausgangsposition Großbritanniens im Vergleich zum Rest Europas grundverschieden war. Auf der einen Seite befand sich die stolze Siegernation, welche noch über wichtige Bestandteile ihres Commonwealth verfügte, auf der anderen Seite ein Kontinentaleuropa, dessen jahrhundertealte Auseinandersetzungen in weitgehender Zerstörung endeten. Diese Basisdichotomie ist der Ausgangspunkt für das zwiespältige Verhältnis des Königreiches zum sich formierenden europäischen Projekt. Während für dieses eine ungebrochene Kontinuität an politischem und ökonomischem Machtanspruch bestand, gründete sich der Rest Europas in einem innovativen Friedensprojekt politisch und ökonomisch neu.

Detailliert beschreibt Adam, wie die britische Politik zwar kontinuierlich um eine Position zur EU rang, aber ihre Ambivalenz schwankend zwischen Attraktion und Repulsion letztlich nie auflösen konnte. Auch mit dem Beitritt 1975 änderte sich nichts an dieser Grundhaltung, der zufolge „die EU […] bis heute primär als Mittel zur Förderung nationalen Eigennutzes betrachtet“ (19) wird. Es ist daher wenig verwunderlich, dass sowohl Anspruchshaltung als auch Unverständnis für die politische Bedeutung des europäischen Projektes sowie die schwelende innerparteiliche Auseinandersetzung langsam aber stetig eine Abwehrhaltung evoziert, die schließlich in Camerons Referendum kulminiert. Der Autor zeichnet sehr kenntnisreich nach, wie sich die problematischen Eigenheiten der politischen Elite des Landes teils mit Unkenntnis der europäischen Gegebenheiten, teils mit Unverständnis ihrer politisch-ökonomischen Bedeutung verquickt und so letztlich einem Nationalismus den Weg bereitet haben, der im Brexit seine ideologische Überhöhung findet. Nur vor diesem Hintergrund werden die vielen hässlichen Episoden des Brexits – ob es sich nun um Camerons arrogantes Auftreten bei den europäischen Partnern handelt, der übertriebenen und faktisch falschen Propaganda der Leave-Kampagne um Boris Johnson oder Mays hilfloses Agieren im Ringen um eine Austrittsperspektive – letztlich verständlich.

Adam liefert mit seinem Buch eine Darstellung der Ereignisse, dabei löst er seinen Anspruch voll ein. Detailreich und kundig formuliert der Autor einen spannenden Überblick, gestützt durch zahlreiche Quellen und persönliche Gespräche mit Entscheidungsträgern. Dabei beleuchtet er den Brexit von verschiedenen Seiten, wobei die Innenperspektive der britischen Politik den Fokus bildet, aber dennoch die Situation der EU und insbesondere Irlands differenziert abgebildet wird. Ihm gelingt es damit, eine überaus komplexe Thematik in einer Weise darzustellen, die – vielleicht zum ersten Mal – eine fundierte Beurteilung des Brexits erlaubt und damit einen wichtigen Beitrag zur Versachlichung der Debatte leistet. Gleichwohl scheut sich der Autor nicht, die offenkundigen Pathologien der bisherigen Brexit-Politik als solche anzusprechen, ohne dabei seine differenzierte Position aufzugeben. Entgegen der langläufigen Meinung, der Brexit sei ein Wahlunfall, lautet sein Fazit daher: „Der Brexit kam nicht aus heiterem Himmel. Seine Wurzeln reichen bis in die Nachkriegszeit zurück, seine Folgen werden ebenso lang zu spüren sein. Alle Argumente, die heute für den Brexit zu hören sind, lassen sich fast wortgleich über sechzig Jahre zurückverfolgen – und sie werden noch in sechzig Jahren zu hören sein. Der Brexit wird auf Jahrzehnte das politische und wirtschaftliche Leben im Vereinigten Königreich bestimmen.“ (259) Mit Blick auf den neuen Premierminister Boris Johnson ist der Brexit noch lange nicht in kalkulierbare Bahnen gelenkt. Dennoch leistet Adams Buch einen überaus wichtigen Beitrag zum Verständnis dieser Zäsur – welche auch die Politikwissenschaft noch lange beschäftigen wird.

 

CC-BY-NC-SA
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