Shannon K. O’Neill: The Globalization Myth. Why Regions Matter
Weshalb bedeutet Globalisierung vor allem Regionalisierung? Und wem hat sie aus welchen Gründen was gebracht? Shannon K. O’Neill ist all dem nachgegangenen und hat hierzu bestehende Studien, Statistiken und Untersuchungen ausgewertet. Dabei stehen Europa, Nordamerika und Asien im Mittelpunkt ihrer Untersuchung. Rainer Lisowski hat das Buch für uns gelesen: Herausgekommen sei eine Analyse, die mit ihren Handlungsvorschlägen vor allem auf US-amerikanische Leser*innen und Leser sowie politische Entscheidungsträgerinnen und -träger ausgerichtet scheint.
Es lohnt sich, die Hauptthesen des Buches „The Globalization Myth“ von Shannon K. O’Neill zu kennen, zumal das Buch hervorragend geschrieben ist. Ob man hingegen das ganze Werk zwingend gelesen haben muss, steht auf einem anderen Blatt. Vor allem, weil der Inhalt eigentlich nicht ausreicht, um damit knapp 170 Seiten zu füllen. Ein längerer Journal-Beitrag hätte es auch getan.
O’Neills Buch beinhaltet zwei Kernthesen. Die erste lautet: Das, was wir landläufig Globalisierung nennen und worunter wir – des Wortes wegen – eine weltumspannende Erfassung und Integration der Volkswirtschaften aller Kontinente verstehen, stelle im Wesentlichen eine Regionalisierung dar. „Yet this conventional narrative largely misses the geographic limits of the majority of international commerce” (3). Die traditionell starke „Triade“ von drei großen Wirtschaftsblöcken – Nordamerika, Europa und Ostasien – sei in den vergangenen dreißig Jahren noch stärker geworden und vor allem habe sich die wechselseitige ökonomische Durchdringung und Integration durch eine Neuausrichtung nachbarschaftlicher Zulieferungsketten innerhalb der Blöcke selbst vertieft.
Die zweite lautet: Nordamerika hinke verglichen mit Europa in der regionalen Integration hinterher. Die zwischen den USA, Mexiko und Kanada eingeführte Handelszone NAFTA wurde zwar Anfang der 1990er-Jahre geschaffen, aber danach hätten die staatlichen Akteure sich zurückgezogen und, anders als die Politik in Europa, keine Anstrengungen unternommen, für eine tatsächliche Kohäsion zu sorgen: keine ambitionierte Infrastrukturpolitik und keinerlei Versuche wirtschaftliches Gefälle zwischen den Ländern abzubauen. Stattdessen habe man sich bei wirtschaftlichen Krisen gegenseitig die Schuld zugeschoben und NAFTA für den Niedergang der eigenen Wirtschaft mitverantwortlich gemacht. O’Neill argumentiert: Das Gegenteil sei der Fall! Nachbarschaftliche Kooperation und Integration stärke alle Beteiligten.
Das Buch startet mit dem relativen Niedergang der US-amerikanischen Wirtschaft. Die Autorin blickt anhand realer Beispiele auf den „rust belt“ der USA und versucht zu verdeutlichen, dass weniger die – als Verlagerung von Jobs nach China verstandene – Globalisierung schuld an der Misere vieler US-amerikanischer Industrien sei als vielmehr ihre mangelhafte regionale Integration in den NAFTA-Raum. O’Neill bezeichnet dies als die „costly consequences of the United States’ limited regionalization” (2). Wieso eine stärkere regionale Integration nützlich wäre, versucht sie mit Zahlen zu belegen. Während das durchschnittliche Importprodukt aus China einen Anteil von 4 Prozent an Zulieferungsgütern aus den USA hat, steigt dieser Wert bei Importgütern aus Mexiko auf 40 Prozent und bei kanadischen auf 25 Prozent (12). Die Kernaussage lautet also: Eine stärkere Regionalisierung käme in allen drei Ländern der eigenen Wirtschaft zugute – und der der Nachbarn. So zeigt es auch das Beispiel Europa: In Berlin verkaufte Peugeots seien voll mit in Deutschland hergestellter Technik. Schon eingangs erkennt man, wie stark O‘Neill sich später gegen eine „America first“-Handelspolitik des Wirtschaftsdemagogen Donald Trump aussprechen wird. Was die USA ihrer Meinung nach tun sollten? Mehr regionale Integration im NAFTA-Raum wagen und mehr Geld für grenzüberschreitende Infrastruktur, Investitionen in Training und Bildung sowie den Abbau regionaler Disparitäten bereitstellen. Mit zahlreichen Unternehmensbeispielen aus allen denkbaren Branchen versucht die Autorin, diese Grundthesen zu unterstreichen.
Wer sich ein wenig mit der Wirtschaftsgeschichte des 20. Jahrhunderts befasst hat, dem liefert beispielsweise das erste Kapitel zu den sich vertiefenden Wertschöpfungs- und Zulieferungsketten wenig Neues. Die Geschichte des Containers und sinkender Frachtraten wird ebenso nacherzählt wie die sinkende Entwicklung der Telekommunikationskosten. An Beispielen wie IKEA wird verdeutlicht, wie stark Unternehmen die wirtschaftliche Integration nutzen können, um günstigere Produkte auf mehr Märkten anzubieten. Die Geschichte des starren Bretton-Woods-Systems wird ebenso beleuchtet wie die entfesselnde Wirkung von Thatcherismus und Reaganomics. Fraglich ist aus ihrer Sicht, ob die landläufige Meinung einer „multipolareren Welt“ oder dem „rise of the rest“, von dem Fareed Zakaria[1] oftmals spricht , denn auch tatsächlich zutreffen würde.
Das Europa-Kapitel zeichnet mit groben Strichen die Entwicklung des europäischen Binnenmarktes nach und scheint vor allem darauf ausgerichtet zu sein, einer US-amerikanischen Leserschaft das Entstehen und die Funktionsweise des Binnenmarktes zu erklären. Am Beispiel von Unternehmen wie Carrefour wird erklärt, wie sehr diese insbesondere von dem, durch Jacques Delors‘ Initiativen gestärkten, Binnenmarkt ab 1986 profitiert haben (47 ff.). Weitere Beispiele wie die von Nestlé, IKEA, ZARA oder Sanofi unterstreichen ihre Grundthese: Der Wille Europas, einen gemeinsamen Binnenmarkt durch Infrastrukturen, Kohäsionsmittel, einheitliche Regulierungen und politische Absprachen zu schaffen, wirkte sich günstig auf dessen Unternehmen aus – und alle Länder und Branchen hatten einen Nutzen davon. Gerade die Infrastrukturen scheinen ihr dabei wichtig: Autobahnen, Eisenbahntrassen, Häfen – überall erkennt sie den politischen Willen Europas, sich zu koordinieren, zu vernetzen und abzusprechen. Und einen ebensolchen Mangel am Willen zum Gemeinsamen kritisiert sie später im Fall von Nordamerika.
Der staatliche Wille zur Zusammenarbeit fehlt allerdings oftmals auch in der zweiten von ihr untersuchten Region: Asien (allerdings mit einer wichtigen Ausnahme). Bereits die Überschrift drückt dies aus: „Regionalism through Business“. In den asiatischen Unternehmen – Anfangs in Japan, später auch in Südkorea, Taiwan und Singapur, noch später dann in China – erkennt sie die Treiber einer wachsenden ökonomischen Integration. Viele asiatische Unternehmen hätten das Beispiel japanischer Konzerne imitiert, Zulieferungen an den eigenen Heimatmarkt unter Ausnutzung des gravierenden Lohngefälles in Asien zu organisieren. Politische Gebilde wie ASEAN, die bekanntlich eben keine Europäische Union sein will, hätten wenig dazu beigetragen. Die wichtige Ausnahme stellt für sie die Entwicklungspolitik der asiatischen Länder dar. Diese sei den Schritten der Unternehmen gefolgt und hätte vornehmlich in Infrastrukturen der weniger entwickelten asiatischen Länder investiert (72, 86). Ein Muster, das sich auch heute bei der chinesischen Seidenstraßeninitiative wiederfinden lässt. Entsprechend gelte auch für China das Bild: „[…] China was importing more goods from its neighbors that from the United States and Europe combined” (83). Sorge sollte den Asiatinnen und Asiaten aus ihrer Sicht aber bereiten, dass sie bei länderverbindenden Infrastrukturen weiterhin Europa hinterherhinken („shallow ports and unpaved roads“, 92) und zudem ungelöste Territorialdispute – zum Beispiel im südchinesischen Meer – den Frieden und die Stabilität in der Region bedrohen. Ihr Fazit: „Asia’s economies remain much more heterogeneous than North America’s or Europe’s, a complex mix of rich and poor, large and small, closed and open. Political and military divides persists, as do a host of commercial tensions. […] Nevertheless, Asia has knitted itself together. Regional trade is far more tightly bound than in North America and is catching up with Europe” (94).
“Compared to Europe and Asia, North America’s regionalism has remained shallow” (97). Schon der Einstieg in das Kapitel über die regionale wirtschaftliche Integration Nordamerikas macht deutlich, wen O’Neill hier in der Verantwortung sieht: Die Politik. Nachdem die NAFTA ins Leben gerufen worden war, kümmerten sich die Regierungen der drei Länder nicht mehr um eine tatsächliche Kooperation, wie Europa sie aus Sicht von O’Neill vorlebt. Wenngleich Zölle abgebaut wurden, bestünden bürokratische, regulatorische Hürden weiterhin fort (sie nennt dies „a tyranny of small regulatory differences“, 110) und die alle drei Länder verbindenden Infrastrukturen seien niemals ernsthaft ausgebaut worden. Ursprünglich für solche Verkehrskorridore gedachte Gelder wurden vielmehr im zähen Budgetprozess des US-Kongresses so lange umgewidmet, dass sie den Wahlkreisen gut vernetzter Abgeordneter zu Gute kamen (111). NAFTA selbst erhielt nie eine Zentrale, ein Team, eine wie auch immer geartete Institutionalisierung. Bei wichtigen, alle drei Länder betreffenden Politikbereichen wie Migration, Bildung oder Sicherheit kam es zu keiner nennenswerten Zusammenarbeit (96 f., 100, 110). NAFTA blieb so letztlich ein reines Handelsabkommen und konnte nie das Potenzial entfalten, das die EU hob. Die Autorin argumentiert: Genau deshalb sei Nordamerika vom „China-Shock“, dem Beitritt der Volksrepublik zur Welthandelsorganisation, viel härter getroffen worden als die europäische Produktion: „Crises united Europe. They have driven North America apart. As the China Shock hit, and the blame game for the lost plants, jobs, and hollowed-out communities grew, the United States turned on its neighbors.” (124) NAFTA wurde fälschlicherweise gar die Schuld am Niedergang der eigenen Wirtschaft gegeben.
Das fünfte Kapitel zieht dann die „Sieben-Meilen-Stiefel“ an. Im Galopp werden wirtschaftliche Muster beleuchtet, die man wohl „mega trends“ nennen würde: smarte Produktion, demographische Entwicklung, Klimawandel, Industriepolitik, Pandemie – mit breiten Strichen versucht die Autorin den US-Leserinnen und -lesern zu verdeutlichen, was dies alles für die US-Wirtschaft bedeutet. Dabei lautet ihre Interpretation stets: Wir benötigen mehr Regionalisierung à la EU (129-154).
Das letzte Kapitel ist ein Aufruf, eine andere Außenwirtschaftspolitik in den USA zu verfolgen. Die Kapitelüberschrift fasst den Kern bereits zusammen: „more NAFTA, less America first“. Stets nur auf den eigenen Vorteil zu schielen, sei zu kurzfristig gedacht. Anstatt sich etwa an den Kosten einer neuen Brücke zwischen Detroit und Windsor, Ontario, zu beteiligen, willigten die USA erst dann zum Brückenbau ein, als Kanada entnervt die gesamten Kosten übernahm. „Penny-wise, pound-foolish“ nennt O’Neill dieses Verhalten (163) und versucht mit Zahlen zu untermauern, wie sehr die US-Wirtschaft von einer verstärkten regionalen Integration profitieren würde.
Vom Charakter her ist das Buch eine Art ausgedehntes Policy-Paper mit praktisch ausgerichteter Analyse und Handlungsvorschlägen für politische Akteure. Methodisch handelt es sich hierbei vor allem um eine Auswertung bestehender Studien, Statistiken und Untersuchungen. Diese sollten an einigen Stellen vielleicht etwas sorgfältiger erklärt werden. Beispielsweise zeigen die Grafiken auf den Seiten 6 und 7 die Verteilung der industriellen Produktion auf Asien (50 Prozent), Europa und Nordamerika (40 Prozent) auf. Kleinere Unstimmigkeiten, dass etwa die Werte Europas als „Europe and Central Asia“ aufgeschlüsselt sind, müssten aber besser erläutert werden.
Kurz zum Formalen: Das Buch hat etwa 170 Seiten und ist in sechs Kapitel gegliedert. Nach der Einleitung, die für eilige Leserinnen und Leser das Wesentliche auf knapp 15 Seiten zusammenfasst, wird zunächst die erste Grundidee vorgestellt: Es seien vor allem die neu ausgerichteten Zulieferungsketten (supply chains) gewesen, die für eine verstärkte regionale Integration in die Wirtschaftsräume Nordamerikas, Europas und Ostasiens gesorgt haben (17-37). Die drei dann folgenden Kapitel verdichten die Aussagen bezogen auf alle drei Räume: Europa (38-68), Asien (69-94) und Nordamerika (95-128). Das fünfte Kapitel argumentiert, warum die nächste Phase der Globalisierung mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder eine Phase der vertieften Regionalisierung sein wird (129-154). Das letzte Kapitel wiederum erteilt Ratschläge in Richtung USA, welche Außenwirtschaftspolitik verfolgt werden sollte (155-169).
Die Monographie richtet sich somit erkennbar an ein US-amerikanisches Publikum. Vor allem bei den Vergleichen zwischen der regionalen Integration in Europa und Nordamerika wird dies deutlich. Wer sich in den vergangenen Jahren mit der Entwicklung der Weltwirtschaft befasst oder auch nur den Wirtschaftsteil einer Zeitung studiert hat, wird von den meisten Informationen des Buches nicht sonderlich überrascht sein. Wie eingangs erwähnt, lohnt es sich aber, die beiden Hauptthesen zu kennen.
Anmerkung
[1] Fareed Zakaria: The Post-American World. And the rise of the rest. London, Penguin Books 2009.
Demokratie und Frieden
Rezension / Vincent Wolff / 27.07.2020
Colin Crouch: Der Kampf um die Globalisierung
Die Globalisierung werde laut Colin Crouch insbesondere von rechten politischen Kräften zu Unrecht kritisiert. Denn tatsächlich biete sie einige Vorteile, vor allem die Entwicklungsländer profitierten von ihr, etwa dank gesunkener Transportkosten und verbesserter Kommunikationssysteme. Ohne die Globalisierung wäre ein „Großteil der Welt heute um einiges ärmer, das Ausmaß der illegalen Einwanderung größer“ und die „Beziehungen zwischen Staaten feindseliger“. Aber sie müsse gestaltet werden und dabei sei die politische Linke, grüne und sozialdemokratische Parteien, in besonderem Maße gefordert.
Weiterführende Links
Kiel Centre for Globalization
Das KCG forscht interdisziplinär zur Verbreitung globaler Lieferketten als wichtigem Aspekt der Globalisierung.
Externe Veröffentlichungen
Shannon K. O’Neil, James M. Lindsay / 18.10.2022
Council on Foreign Relations
Michael Bayerlein / 01.07.2022
Ifw Kiel