/ 07.06.2013
Navid Kermani
Vergesst Deutschland! Eine patriotische Rede
Berlin: Ullstein 2012 (Ullstein Streitschrift); 47 S.; geb., 3,99 €; ISBN 978-3-550-08021-0Ein redlicher Patriot ist nur, wer nicht vergisst, Weltbürger zu sein – so lässt sich Kermanis Plädoyer für ein Deutschland, das für ausnahmslos alle seine Bewohnerinnen und Bewohner ein Zuhause bietet, zusammenfassen. Der Schriftsteller stellt in dieser Rede, die er im Januar 2012 anlässlich der Eröffnung der Lessingtage im Hamburger Thalia Theater hielt, eine politische Kultur in den Mittelpunkt, der es an genau diesem weltoffenen Patriotismus mangelt. Konsequent durchdacht stehen so die Morde des rechtsradikalen NSU am Anfang seiner Ausführungen. Kermani ordnet diese Gewalttaten dort ein, wo sie ihre Wurzeln haben – in der deutschen Gesellschaft und mit Blick auf den Anführer des Trios Mundlos sogar in deren Mitte. In dessen Charakterisierung als ursprünglich freundlichen und gebildeten Menschen zieht Kermani explizit Parallelen zum Attentäter des 11. September 2011 Atta. Mit Lessings Einakter „Philotas“ begreift er beide als selbsternannte Helden, die meinen, sich für die richtige Sache zu opfern. Der eigentliche Skandal aber, daran lässt Kermani keinen Zweifel, liegt nicht in dieser egozentrischen Anmaßung, sondern in dem Verhalten einer Gesellschaft, die Autoren wie Sarrazin, die der Entmenschlichung ganzer Bevölkerungsgruppen das Wort reden, auf die Bestsellerlisten hebt. Und so erklärt sich Kermanis Meinung nach auch die Unfähigkeit von Verfassungsschutz und Polizei, die rechtsextrem motivierten Morde als solche zu erkennen, als „Ausdruck und Folge einer gesellschaftlichen Stimmung“ (23). Die NSU‑Täter schöpften ihre Legitimation der Gewalt, schreibt Kermani den Soziologen Wilhelm Heitmeyer zitierend, aus einem Vorrat an menschenfeindlichen Einstellungen in der Bevölkerung. Lessing aber habe in „Philotas“ die Frage beantwortet, was die Taten eines Helden ohne Menschenliebe bedeuten: Nichts.
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Rubrizierung: 2.35 | 2.37
Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Navid Kermani: Vergesst Deutschland! Berlin: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/9270-vergesst-deutschland_43257, veröffentlicht am 21.03.2013.
Buch-Nr.: 43257
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