/ 05.06.2013
Jürgen Friedrichs / M. Rainer Lepsius / Karl Ulrich Mayer (Hrsg.)
Die Diagnosefähigkeit der Soziologie
Opladen: Westdeutscher Verlag 1998 (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie: Sonderheft 38); 453 S.; kart., 89,- DM; ISBN 3-531-13297-0Sozialwissenschaften finden in der Öffentlichkeit schon lange nicht mehr die Aufmerksamkeit wie noch in den 70er und 80er Jahren. Sie seien - so heißt es neuerdings vielfach - weder zu brauchbaren Prognosen (wie im Fall des Zusammenbruchs der sozialistischen Regime) noch zu plausiblen Gesellschaftsdeutungen in der Lage. Nicht zuletzt von derartigen publizistischen Stimmungen inspiriert befaßt sich - aus Anlaß ihres 50jährigen Bestehens - das Sonderheft der KZfSS mit dieser für die Sozialwissenschaften konstitutiven Frage: Kann an Soziologie als Fachwissenschaft legitimerweise die Erwartung gerichtet werden, sie solle maßgeblich zum Selbstverständnis und zur Orientierung gegenwärtiger Gesellschaften beitragen? Darüber besteht innerhalb der Soziologie (und analog innerhalb der Politologie) schon aus methodologischen Gründen keine Einigkeit, denn Sozialwissenschaftler scheinen dieser Orientierungsfunktion nur nachkommen zu können, wenn sie sich von den fachlichen Leitwerten (kausaler) Erklärung und genereller empirischer Überprüfbarkeit der Aussagen zu lösen bereit sind. Die Herausgeber machen aus ihrer skeptischen Einschätzung hinsichtlich des soziologischen Prognose- und Diagnosevermögens jedenfalls keinen Hehl. Als Defizit erscheine dies jedoch nur im Spiegel wissenschaftsexterner - primär journalistischer - Erwartungen (vgl. 27); die Leistungsfähigkeit des Faches bemesse sich vielmehr an soziologieinternen Standards. Vielleicht machen es sich die Herausgeber für die Zwecke einer Standortbestimmung der Soziologie mit dieser Grenzziehung zu einfach - und nicht alle vertretenen Autoren folgen ihnen darin (z. B. Vester, Geißler, Meulemann). Ebenso hat die deutlich markierte Grenzziehung gegenüber der Politologie nicht nur eine "gewisse Künstlichkeit" (Kaase [39]), sie ist auch - namentlich im Beitrag Scheuchs (64, 72) - nicht frei von Verzerrungen (Politologie als "Demokratiewissenschaft"?). Davon abgesehen jedoch bietet der Sammelband vor allem in drei der fünf soziologischen Teilbereiche (Soziale Ungleichheit, Wertewandel/Integration, soziale Bewegungen) kompetente und kritische Reflexionen des Forschungsstandes.
Inhalt: Jürgen Friedrichs / M. Rainer Lepsius / Karl Ulrich Mayer: Diagnose und Prognose in der Soziologie (9-31). I. Politische Ordnung: Max Kaase: Die Bundesrepublik: Prognosen und Diagnosen der Demokratieentwicklung in der rückblickenden Bewertung (35-55); Erwin K. Scheuch: Das politische System der Bundesrepublik. Der Wandel des Gegenstandes und seiner Erforschung (56-77). II. Soziale Ungleichheit: Walter Müller: Erwartete und unerwartete Folgen der Bildungsexpansion (81-112); Horst Kern: Proletarisierung, Polarisierung oder Aufwertung der Erwerbsarbeit? Der Blick der deutschen Industriesoziologie seit 1970 auf den Wandel der Arbeitsstrukturen (113-129); Hanns-Georg Brose: Proletarisierung, Polarisierung oder Upgrading der Erwerbsarbeit? Über die Spätfolgen "erfolgreicher Fehldiagnosen" in der Industriesoziologie (130-163); Michael Vester: Was wurde aus dem Proletariat? Das mehrfache Ende des Klassenkonflikts: Prognosen des sozialstrukturellen Wandels (164-206); Rainer Geißler: Das mehrfache Ende der Klassengesellschaft. Diagnosen sozialstrukturellen Wandels (207-233). III. Wertewandel und Integration: Wolfgang Jagodzinski: Das diagnostische Potential von Analysen zum religiösen Wandel (237-255); Heiner Meulemann: Wertwandel als Diagnose sozialer Integration: Unscharfe Thematik, unbestimmte Methodik, problematische Folgerungen. Warum die wachsende Bedeutung der Selbstbestimmung kein Wertverfall ist (256-285); Rosemarie Nave-Herz: Die These über den "Zerfall der Familie" (286-315); Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny: Die Integration ethnischer Minoritäten (316-339). IV. Soziale Bewegungen: Ute Gerhard: "Illegitime Tochter". Das komplizierte Verhältnis zwischen Feminismus und Soziologie (343-382); Ilona Ostner: Soziale Ungleichheit, Ressentiment und Frauenbewegung. Eine unendliche Geschichte? (383-403); Dieter Rucht: Ökologische Frage und Umweltbewegung im Spiegel der Soziologie (404-429). V. Informationsgesellschaft: Rudolf Stichweh: Die Soziologie und die Informationsgesellschaft (433-443).
Thomas Mirbach (Mir)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
Rubrizierung: 2.2 | 1.2 | 2.23 | 2.3 | 2.27
Empfohlene Zitierweise: Thomas Mirbach, Rezension zu: Jürgen Friedrichs / M. Rainer Lepsius / Karl Ulrich Mayer (Hrsg.): Die Diagnosefähigkeit der Soziologie Opladen: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/7196-die-diagnosefaehigkeit-der-soziologie_9614, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 9614
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Dr., wiss. Mitarbeiter, Lawaetz-Stiftung Hamburg, Lehrbeauftragter, Institut für Politische Wissenschaft, Universität Hamburg.
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