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/ 22.05.2014
Marianne Birthler

Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben. Erinnerungen

Berlin: Hanser 2014; 398 S.; 22,90 €; ISBN 978-3-446-24151-0
Zu den starken Eindrücken, die diese Autobiografie hinterlässt, gehört die universelle und für alle Gesellschaften, die eine Diktatur überwunden haben, zentrale Erkenntnis, „dass die verschlossenen Archive ein größeres Gefahrenpotential für den gesellschaftlichen Frieden darstellen als geöffnete“ (364). Die Behörde des/der Bundesbeauftragte(n) für die Stasi‑Unterlagen hat mittlerweile Vorbildfunktion auch für andere europäische Länder, zeigt ihre Arbeit doch, dass es nicht um Rache, sondern um Aufklärung geht, um Hilfe für Opfer der Diktatur, die ihr Leben verstehen wollen, um Schutz davor, dass die alten Spitzel neue Positionen ergattern, aber auch davor, dass jemand falsch beschuldigt wird. Dass die Behörde als Erfolgsgeschichte zu verstehen ist, ist auch der DDR‑Bürgerrechtlerin Marianne Birthler zu verdanken, die Joachim Gauck 2000 als Bundesbeauftragte nachfolgte und bis 2011 im Amt blieb. Bei der Lektüre ihres Buches erschließt sich, warum gerade sie dafür geeignet war (obwohl sie ihr Leben sehr bescheiden schildert und immer nur verhalten stolz auf das Erreichte ist): Schon als Schülerin widerstand Birthler dem Druck zur Konformität, als sie – öffentlich vor die Wahl gestellt – sich für die Kirche und damit gegen die FDJ entschied. Später bewahrte sie ihre Kinder vor dem staatlichen Kindergarten und vermied jede Anpassung an das SED‑Regime, erst durch den Rückzug ins Private, dann durch ihre Arbeit in der Kirche. Auch anhand dieses einen Lebensweges zeigt sich noch einmal, dass nur die dezentral organisierte evangelische Kirche in der DDR in der Lage war, einen gesellschaftlichen Freiraum zur Verfügung zu stellen. Birthler gehörte zur Initiative Frieden und Menschenrechte, die sich früh und sehr deutlich gegen das System positionierte, wurde in der letzten DDR‑Volkskammer Sprecherin von Bündnis 90 und dann Bundestagsabgeordnete. Als Bildungsministerin in Brandenburg setzte sie Maßstäbe mit einem progressiven Arbeitszeitmodell für Lehrer zur Vermeidung von Kündigungen und mit der Einführung des Unterrichtsfaches LER. Mit der ihr ganz eigenen Konsequenz repräsentiert(e) sie sicher nicht die Mehrheit der Ostdeutschen. Ihre Autobiografie vermittelt aber Hinweise darauf, wie selbstbestimmt ein Leben auch unter starken politischen Zwängen sein kann.
Natalie Wohlleben (NW)
Dipl.-Politologin, Redakteurin pw-portal.de.
Rubrizierung: 2.32.3142.3152.352.324 Empfohlene Zitierweise: Natalie Wohlleben, Rezension zu: Marianne Birthler: Halbes Land. Ganzes Land. Ganzes Leben. Berlin: 2014, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/37107-halbes-land-ganzes-land-ganzes-leben_45427, veröffentlicht am 22.05.2014. Buch-Nr.: 45427 Inhaltsverzeichnis Rezension drucken
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