/ 30.05.2013
Alfred Bodenheimer
Haut ab! Die Juden in der Beschneidungsdebatte
Göttingen: Wallstein Verlag 2012; 64 S.; brosch., 12,90 €; ISBN 978-3-8353-1244-9Die bizarre Debatte um die rituelle Knabenbeschneidung ist von den Beschneidungsgegnern mit großem moralischem Überschwang, zugleich aber auch mit einer „Bedenkenlosigkeit“ (60) geführt worden, die medizinisch, psychologisch, juristisch und historisch gleichermaßen uninformiert blieb. Bei den Juden, so sieht es der Basler Kulturhistoriker Alfred Bodenheimer, hinterließ sie vor allem „Sprachlosigkeit“ (60), „argumentative Unbeholfenheit, eigentlich Fassungslosigkeit“ (13). Zunächst zeichnet der Autor in seinem kurzen und pointierten Essay die Vorgeschichte jenes (im Anhang dokumentierten) Kölner Gerichtsentscheids nach, durch den die Debatte 2012 erst ausgelöst wurde. Unversehens und unerwartet sah sich das Judentum in Deutschland einem Prozess des „Wiederfremdwerdens“, des „Restrangements“ (16) ausgesetzt. Der „Verweis, jüdisches Leben in Deutschland würde bei einem Beschneidungsverbot unmöglich werden“, sei durchaus begründet und habe „mit dem Holocaust nichts zu tun. Dasselbe gelte auch für andere Staaten“. Gerade diese Reaktion wurde empört zurückgewiesen, sie sei „für Vertreter des Kinderschutzgedankens nicht hinnehmbar“ (45), zitiert Bodenheimer. Damit habe man indes den Juden „die Autonomie des Sprechens [...] streitig gemacht“ und das Recht, „die Parameter der eigenen Existenz auch nur im lauten Denken von gewissen Grundbedingungen religiöser Ausübung abhängig“ (46) zu machen. Ein kulturgeschichtlicher Abriss zeigt, dass die Bedeutung der Knabenbeschneidung im Judentum nicht im blutigen Initiationsritus liegt, wie oft fälschlich angenommen. Mit dem „Zustand des [...] Beschnittensein[s]“, den übrigens Leopold Zunz gegenüber dem „Akt des Beschneidens“ (38) betont hatte, habe das Judentum historisch sein Recht auf Differenz behauptet. Im „Moment der Minderheitenexistenz und der defensiven Differenz“ sieht Bodenheimer (mit Daniel Boyarin) gerade die „Qualität des Judentums“ (59). Dies verweist auf die übergeordnete Bedeutung des Konflikts, die „Frage nach dem Respekt vor dem anderen in jenen Bereichen, in denen er sich als Anderer festmachen lässt: in seinem Bedürfnis, Differenz zu markieren“, während umgekehrt nicht weniger als „die Fähigkeit einer Gesellschaft, Differenz zu ertragen“ (60), auf dem Spiel stehe.
Gideon Botsch (GB)
Dr., Dipl. Pol., wiss. Mitarbeiter, Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien Potsdam (http://www.mmz-potsdam.de).
Rubrizierung: 2.35
Empfohlene Zitierweise: Gideon Botsch, Rezension zu: Alfred Bodenheimer: Haut ab! Göttingen: 2012, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/167-haut-ab_43572, veröffentlicht am 28.03.2013.
Buch-Nr.: 43572
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Dr., Dipl. Pol., wiss. Mitarbeiter, Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien Potsdam (http://www.mmz-potsdam.de).
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