/ 31.05.2013

Hans Herbert von Arnim
"Der Staat sind wir!" Politische Klasse ohne Kontrolle? Das neue Diätengesetz
München: Knaur 1995; 187 S.; 12,90 DM; ISBN 3-426-80079-9V. Arnims brisante Analyse und Kritik des 1995 geplanten Diätengesetzes für den Bundestag hatte großen Einfluß darauf, daß der Bundesrat im Oktober einen im Vormonat von einer parteiübergreifenden Mehrheit im Bundestag beschlossenen Entwurf noch zu Fall gebracht hat. Dies war nur durch ein verstärktes öffentliches Engagement möglich. Schon das Manuskript war Grundlage von v. Arnims Pressekonferenzen im September 1995 und stand den Autoren der "Zeit" und des "Spiegel" zur Verfügung. Der Verlag schickte das außergewöhnlich schnell hergestellte Buch den Ministerpräsidenten der Länder zu; der Bund der Steuerzahler sandte es vor der Verabschiedung im Bundestag an alle MdB - was auf ein unterschiedliches Echo traf. Während erstere sich teilweise ausdrücklich beim Autoren für die Informationen bedankten, wurde v. Arnim aus den Reihen des Bundestages öffentlich als "populistischer Demagoge" (G. Scheu) beschuldigt. "Unter dem Deckmantel der Wissenschaftlichkeit werden spekulative Berechnungen präsentiert." (R. Süssmuth)
Worum geht es? V. Arnim hat die Öffentlichkeit vor allem auf zwei Aspekte aufmerksam gemacht, die beinahe unbemerkt geblieben wären. Der eine betrifft das Verfahren im frühen Stadium lange vor dem Beschluß des Bundestages und dem Veto des Bundesrates: Mitte Juni letzten Jahres hatten R. Süssmuth und U. Klose der Öffentlichkeit einen Entwurf für eine Parlaments- und Diätenreform vorgestellt, der auf Ergebnissen der Rechtstellungskommission des Ältestenrates beruhte. Zwei Wochen später wurde ohne Information der Öffentlichkeit jedoch nicht dieser, sondern ein anderer Entwurf in die erste Lesung im Bundestag eingebracht, über den im September abgestimmt werden sollte - was v. Arnim sachlich "Irreführung der Öffentlichkeit" (13) nennt. Der andere Aspekt betrifft den Gesetzentwurf inhaltlich, denn "in der neuen Vorlage wurde noch einmal kräftig draufgesattelt". Sah die alte Fassung noch eine Erhöhung der Entschädigung in vier Stufen auf knapp 14.000 DM vor, beinhaltete der neue Gesetzentwurf eine Erhöhung in sechs Stufen auf ca. 16.500 DM (20 f.). V. Arnim untersucht ebenso die geplanten Bestimmungen über die Altersversorgung. Die Aussage der Bundestagspräsidentin Süssmuth, mit dem Entwurf würden die Altersbezüge um 27% sinken, erweist sich als realitätsfernes Zahlenspiel: Die Renten werden prozentual nach der Entschädigung berechnet. Zwar wurde dieser Prozentsatz im neuen Entwurf gesenkt; dafür wären allerdings die Entschädigungen und damit faktisch auch die Altersbezüge insgesamt gestiegen. "Hier zeigen sich die Umrisse eines Diätenskandals, der (mindestens) zwei Seiten hat: die gewaltige Erhöhung der Renten amtierender (und ehemaliger) Abgeordneter [...], und die systematische Camouflage dieses Tatbestands." (59)
Der Autor stellt im weiteren die Notwendigkeit einer Diätenerhöhung in Frage und kritisiert die Undurchsichtigkeit des Entwurfs. Es wurden in ihm weder für die Entschädigung noch für die Altersrente Beträge genannt, und "ihre Errechnung [...] bereitet selbst dem professionellen Gesetzesinterpreten schier unüberwindliche Probleme." Die Kopplung an die Richterbesoldung widerspreche zudem dem "Diätenurteil" des Bundesverfassungsgerichts von 1975, dem Gebot einer für die Öffentlichkeit transparenten Regelung; dieses Problem wollte man umgehen, so v. Arnim, indem man zur Neuregelung gleich die Verfassung (Art. 48 GG) änderte - womit eine öffentliche Kontrolle nicht mehr gegeben wäre (67 f.).
Das Buch entstand innerhalb von nur zwei Monaten in Hinblick auf die bevorstehende Beschlußfassung des Bundestages. Dafür ist es erstaunlich übersichtlich und genau. Demonstriert wird nicht nur die Notwendigkeit institutioneller und öffentlicher Kontrolle; gezeigt wird auch, daß Wissenschaft sich in Politik einmischen muß.
Aus dem Inhalt: 1. Einleitung: Irreführung der Öffentlichkeit und Ausschaltung der Kontrollen?; 2. Vorgeschichte: Wie ein Gesetz vorbereitet und ein anderes verabschiedet wird; 3. Dechiffrierung: Was das Gesetz wirklich besagt; 4. Mythos und Wahrheit: Der angebliche Einkommensrückstand; 5. Argumente für und wider den vorgesehenen Diätensprung; 6. Entfesselung des Parlaments: Wie die politische Klasse versucht, sich jeder Kontrolle zu entledigen; 7. Zusammenfassung der Ergebnisse und abschließende Würdigung; 8. Vorschläge: Eine bessere Alternative.
Stefan Lembke (SL)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.321 | 2.21 | 2.22
Empfohlene Zitierweise: Stefan Lembke, Rezension zu: Hans Herbert von Arnim: "Der Staat sind wir!" München: 1995, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/642-der-staat-sind-wir_449, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 449
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M. A., Politikwissenschaftler.
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