Rames Abdelhamid: Die Unübersichtlichkeit der Demokratie. Ein Dilemma spätmoderner Politik
In Anlehnung an Jürgen Habermas setzt sich Rames Abdelhamid mit dem Phänomen der Unübersichtlichkeit als ein anhaltendes Merkmal spätmoderner Politik auseinander. Er fragt, wie sich das Dilemma auflösen lässt, dass demokratische Wissensgesellschaften einerseits Komplexität und Kontingenz voraussetzen, andererseits durch jene verkompliziert werden. Neben Ursachen und Folgen der Unübersichtlichkeit geht der Autor auf die Rolle der Öffentlichkeit und des politischen Individuums ein. Um einer wachsenden Entpolitisierung zu entgehen, hält er eine gemeinsame Kompetenzsteigerung für unverzichtbar.
Das Phänomen der Unübersichtlichkeit als Stoff einer sozialwissenschaftlichen Abhandlung ist nicht neu. Bereits in den 1980er-Jahren schrieb Jürgen Habermas hierzu ein Buch (Die neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt am Main 1985), heute ist die Auseinandersetzung mit der Thematik aktueller denn je. Von der Feststellung ausgehend, dass spätmoderne Politik unübersichtlich sei und die politische Öffentlichkeit somit überlastet, untersucht Rames Abdelhamid, inwiefern sich das Dilemma, dass demokratische Wissensgesellschaften einerseits Komplexität und Kontingenz voraussetzen, andererseits durch jene verkompliziert werden, auflösen lässt.
Dazu setzt sich der Autor im zweiten Kapitel Die Beobachtung der Politik zunächst umfassend mit den für das Verständnis des Problems grundlegenden Kategorien und Begriffen auseinander: Information, Kommunikation, politisches System, politische Öffentlichkeit, Massenmedien, soziale Interaktionssysteme und öffentliche Meinung. Auf dieser Grundlage werden im dritten Kapitel (Unübersichtlichkeit) die Leitbegriffe Komplexität, hier nicht zuletzt zu verstehen als eine intransparente, uneindeutige, politisch zu organisierende Umwelt, die sich einer vollständigen Beschreibbarkeit entzieht, und Kontingenz als ein Folgeproblem des Selektionszwanges der Komplexität, also als Aufgabe, wieder Eindeutigkeit herzustellen, geklärt. Beide Begriffe als Elemente des Phänomens der Unübersichtlichkeit gehen auf Jürgen Habermas zurück.
Anschließend versucht Abdelhamid, die Quellen der Unübersichtlichkeit des Politischen zu verorten. Zu diesen Quellen gehören die funktionale Differenzierung einerseits und die Folgen multiplen Wandels und multipler Kommunikation andererseits. Welche Bedeutung Unübersichtlichkeit für die politische Öffentlichkeit hat, stellt die leitende Frage des fünften Kapitels dar. Im Fokus stehen die Auswirkungen seitens Komplexität und Kontingenz vor dem Hintergrund nicht-konventioneller Themen. Abdelhamid schlussfolgert, dass spätmoderne Demokratien wegen der zunehmenden Unübersichtlichkeit des Politischen möglicherweise keine aufgeklärte, politisch kompetente Öffentlichkeit mehr voraussetzen können und so ihre essenziellen normativen Bedingungen nicht mehr erfüllen. Im Kapitel Unübersichtlichkeit und politisches Individuum fragt der Autor, wie sich Unübersichtlichkeit auf das politische Subjekt auswirkt. Könnte das Individuum die Instanz sein, von dem eine Beherrschung oder Reduzierung der Unübersichtlichkeit ausgeht? Abdelhamid verneint dies.
Welche Optionen haben demokratische Systeme bei der zunehmenden Unübersichtlichkeit des Politischen? Abdelhamid jedenfalls bestreitet im Kapitel Perspektiven den vorübergehenden Charakter dieses Phänomens und stellt fest, dass es sich historisch entwickelt und kontinuierlich ausgeweitet hat. Vorangetrieben worden sei dieser Prozess etwa durch Reformation und Schisma, Buchdruck, das intellektuelle Programm der Aufklärung, Dialektik und Modernisierung. Nicht-konventionelle, also nicht eindeutig zurechenbare Themen, die nicht allein durch politisches Denken und Verstehen zu finden seien – Beispiel Ökologie –, verkomplizierten heute die politische Beobachtung und Urteilsbildung. Die Unübersichtlichkeit erfahre noch eine Zunahme durch Prozesse der Spätmoderne und der Globalisierung und werde als Merkmal spätmoderner Demokratien zukünftig weiter wachsen. Kann die spätmoderne Demokratie den im Buch geschilderten Folgen, wie etwa der Entpolitisierung, entgehen? Sie muss es laut Abdelhamid, wenn sie Bestand haben will. Als Antwort auf die Frage nach dem „Wie“ hält der Autor eine gemeinsame Kompetenzsteigerung, auch zu komplizierten Themen, beispielsweise in Aktionsnetzwerken, für unverzichtbar.
Dass Interessenverbände nicht zuletzt dazu dienen, Spezial/index.php?option=com_content&view=article&id=41317 einer interessierten politischen Öffentlichkeit verständlicher zu machen, kann man auch anderweitig nachlesen. Nicht zuletzt analysiert Ute Scheub dies im Rahmen ihres Plädoyers für die Integration direktdemokratischer oder bürgernäherer Entscheidungsmechanismen in den Politikbetrieb (Ute Scheub: Demokratie. Die Unvollendete. Plädoyer für mehr Teilhabe, oekom Verlag, München 2017). In seinem Buch aber reflektiert Abdelhamid die Ursachen und Folgen von Unübersichtlichkeit breiter.
Repräsentation und Parlamentarismus