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/ 05.06.2013
Jürgen Dittberner

Neuer Staat mit alten Parteien? Die deutschen Parteien nach der Wiedervereinigung

Opladen/Wiesbaden: Westdeutscher Verlag 1997; 279 S.; kart., 38,- DM; ISBN 3-531-13085-4
Der Autor nimmt die "Baustelle Berlin" zum Anlaß, über das deutsche Parteienwesen, die Parteien und ihre Aktivisten nachzudenken: "Es ist an der Zeit, darüber zu diskutieren, wie das Berliner Parteiensystem aussehen wird und wie seine demokratische Legitimation gesichert werden kann. Es werden sich neue Schwierigkeiten auftun, aber auch in den Vorgängerstaaten schon gab es Defizite, die nun zur Erbmasse der Berliner Republik gehören." (16) Dittberner geht in fünf Schritten vor. Nach einer Gesamtbetrachtung des Wandels des Parteiensystems widmet er sich dem "Innenleben der Parteien" (Kapitel 2), und zwar genauer den Mitgliedern, den kleinen Funktionären und Kommunalpolitikern, den Landes- und schließlich den Bundespolitikern. In Kapitel 3 werden die "Aktionsfelder der Parteien" – die Parlamente, die Verwaltung und das Kabinett – untersucht. Die einzelnen Parteien als Ganze stehen in den Abschnitten von Kapitel 4 ("Altparteien") und 5 ("Neuformatierungen") im Mittelpunkt. Im Schlußkapitel setzt sich Dittberner auch speziell mit einzelnen Vorwürfen von Parteienkritikern auseinander. Wer eine "typische" Parteienanalyse mit der wissenschaftlichen Texten tendenziell inhärenten Trockenheit erwartet, geht fehl. Dittberner wählt einen gut lesbaren Stil, der manchmal eher an eine Plauderei oder Geschichtenerzählung erinnert. Besonders trägt hierzu bei, daß er mit fiktiven Figuren arbeitet. Im Abschnitt Mitglieder etwa berichtet er von dem Soziologen Peter Schnabel, der in den "achtundsechziger Jahren" in die FDP eintritt und bei einer Ortsgruppensitzung die alten, verknöcherten, nationalkonservativ gesinnten Parteioberen mit seinen gleichermaßen liberalen wie kritischen Ansichten erschreckt. Siebzig Seiten später hilft die Figur Schnabel dann bei der Behandlung der parlamentarischen Kleider(un)ordnung: "In die Wilmersdorfer Bezirksverordnetenversammlung zogen Schnabel und seine Freunde in Rollkragenpullovern ein. Das war mit der Würde des Hauses nicht im Einklang, und der Vorsteher versuchte, die Unschicklichkeit durch Überzeugung abzustellen." (103) Die Alternativen und Grünen hätten es schließlich in den 80er Jahren durchgesetzt, so Dittberner, daß "zwischen dem Outfit von Abgeordneten und der Würde des Hauses keinerlei Zusammenhänge mehr hergestellt werden" (104). Auf die bei vergleichbaren Arbeiten übliche Fülle an Fußnoten verzichtet der Autor; auch das Literaturverzeichnis fällt eher klein, etwa im Umfang einer besonders umfangreichen studentischen Hausarbeit aus. Statt Theorien, Ansätzen und etlicher Verweise auf andere Forschungsarbeiten bringt Dittberner – so scheint es - Kenntnisse besonderer Art ein. Je weiter die Leserin oder der Leser in dem Buch vorankommt, desto mehr eröffnet sich ihr oder ihm der Eindruck, da plaudert einer, der sich hier in besonderer Weise auskennt, möglicherweise Insider-Erfahrungen besitzt. Inwieweit diese Vermutung zutrifft, wird aus dem Rezensionsexemplar nicht mit hinreichender Sicherheit deutlich; die letzte Umschlagseite verrät lediglich, daß Dittberner in Potsdam Politikwissenschaft lehrt und von 1986 bis 1990 in Berlin und von 1990 bis 1992 in Potsdam als Staatssekretär fungierte. Eine entsprechende Vermutung ergibt sich aber beispielsweise aus den von ihm im Abschnitt "Parlamentarisches" (Kapitel 3) veranschaulichten "Regeln", die ein Parlamentarier lernen und verinnerlichen müsse. Dem Nutzen des Buches schaden diese Blicke in die Praxis wohl kaum, seinem Unterhaltungswert sind sie nur dienlich. Beispiel: "Du sollst frei reden. [...] Notorische Manuskriptenkleber unter den Abgeordneten werden leicht zum Gespött ihrer eigenen Helfer. Ein Abgeordneter, der sich regelmäßig Reden von den Fraktionsassistenten aufschreiben ließ, merkte nicht, daß er in einer sozialpolitischen Debatte Argumente vortrug, die seiner eigenen Überzeugung zuwider liefen. Auch die anderen Abgeordneten bekamen das nicht mit, weil sie entweder sowieso nicht zuhörten oder dem hochgezogenen Soziologen-Chinesisch nicht folgen konnten. Die Assistenten aller Fraktionen saßen hingegen in den Zuhörerrängen und feixten." (115)
Detlef Lemke (Le)
Dipl.-Politologe.
Rubrizierung: 2.331 Empfohlene Zitierweise: Detlef Lemke, Rezension zu: Jürgen Dittberner: Neuer Staat mit alten Parteien? Opladen/Wiesbaden: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/7900-neuer-staat-mit-alten-parteien_10474, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 10474 Rezension drucken
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