/ 04.06.2013
Martin Sebaldt
Organisierter Pluralismus. Kräftefeld, Selbstverständnis und politische Arbeit deutscher Interessengruppen
Opladen: Westdeutscher Verlag 1997; 512 S.; kart., 84,- DM; ISBN 3-531-12970-8Politikwiss. Habilitationsschrift Passau; Erstgutachter: H. Oberreuter. - Sebaldt will z. T. konkurrierende theoretische Ansätze zusammenführen und diese "synergetische Theoriebildung mit einer umfassenden empirischen Bestandsaufnahme des Wirkens deutscher Interessengruppen und Verbände" (13) verknüpfen (die Begriffe "Verbände", "Gruppen", "Interessengruppen" werden dabei offenbar synonym verwandt). Unter Sebaldts in Kapitel II angekündigtem "Grundriß eines theoretischen Rahmens" (37) darf nicht ein eigener Theorieansatz verstanden werden, vielmehr werden hier gängige Ansätze vorgestellt. Die Fragestellung für die empirischen Untersuchungen lautet: Wie ist es um die Kräfteverhältnisse, das Selbstverständnis und die politische Arbeit der deutschen Interessengruppen bestellt? Zur Beantwortung des ersten Aspekts - Kräfteverhältnisse zwischen den Interessengruppen - hat Sebaldt als empirische Grundlage die Lobbylisten des Deutschen Bundestages verwendet. Im Ergebnis präsentiert der Autor eine Bestandsaufnahme der bundespolitisch aktiven Verbände zwischen 1974 bis 1994, geordnet nach Politikfeldern und Funktionssektoren (Kapitel III). Es folgt die Analyse des Selbstverständnisses von Verbänden (Kapitel IV). Dazu hat der Autor eine schriftliche Umfrage unter Spitzenfunktionären von Verbänden sowie 24 "Leitfadeninterviews" mit ausgewählten Verbandsvertretern in Bonn durchgeführt. Die teilweise wenig überraschenden Ergebnisse: Verbandsfunktionäre verstehen sich als Dienstleister, die die Interessen ihrer Mitglieder gegenüber den politischen Entscheidungsträgern vertreten. Sie haben z. T. klare Gemeinwohlvorstellungen, sehen oft aber gerade ihr interessenspezifisches Handeln als gemeinwohlfördernd - laut Sebaldt ganz im Sinne Fraenkels (238 f.). Auch die empirischen Informationen zum dritten Untersuchungsaspekt - politische Einflußarbeit - beruhen auf der Umfrage und den Interviews. Die Beziehungen zwischen Verbänden, Medien und politischen Entscheidungsträgern sind danach von Tauschgeschäften geprägt, stark routiniert und professionalisiert, wie man an der intensiven Öffentlichkeitsarbeit ablesen kann. Interessant ist, daß ausgesprochen verbandsnahe Parlamentarier oft als nicht förderlich, ja sogar als kontraproduktiv angesehen werden, weil sie Trotzreaktionen bei den Fraktionskollegen hervorrufen (374 f.).
Aufgrund der empirischen Ergebnisse bestätigt Sebaldt im folgenden die Hauptthesen der in Kapitel II eingeführten theoretischen Ansätze, nach denen ein Trend zur Dienstleistungs-, aber auch zur Risikogesellschaft besteht (384 ff.). Den Komplex der Verbändekritik, die angesichts der gut organisierten Partikularinteressen die Durchsetzung von schlechter organisierten allgemeinen Interessen gefährdet sieht, übergeht Sebaldt allerdings allzu leichtfertig. Eine "Herrschaft der Verbände" sei ein "Horrorszenario", das die Verbandsvertreter "gar nicht recht nachvollziehen könnten" (384) - was nicht gerade verwundert. Sebaldts eigene Stellungnahme erscheint geradezu blauäugig: "Organisierter Pluralismus impliziert eben auch, daß eine 'Herrschaft' von Interessengruppen nicht realisierbar ist. Die politische Praxis pluralistischer Demokratien bildet ein wirkungsvolles Korrektiv, um derlei Machtungleichgewichte, wenn nicht im Keime zu ersticken, so doch wirkungsvoll zu begrenzen" (384) - eine Behauptung, die weder theoretisch noch empirisch belegt wird und somit nur als Meinungsäußerung stehenbleiben kann.
Inhaltsübersicht: I. Organisierter Pluralismus: Zur Einführung in den Gegenstand; II. Kräftefeld, Selbstverständnis und politische Arbeit organisierter Interessen: Grundriß eines theoretischen Rahmens; III. Organisierter Pluralismus in der Bundesrepublik Deutschland: Das Kräftefeld der Interessengruppen von 1974-1994; IV. Organisationsziele und Handlungsmaximen: Das Selbstverständnis deutscher Interessengruppen und ihrer Funktionäre; V. Organisierte Interessen und Zentrales Politisches Entscheidungssystem: Grundlagen, Formen und Charakteristika bundespolitischer Arbeit deutscher Interessengruppen; VI. Organisierter Pluralismus in Deutschland: Zusammenfassung der zentralen Forschungsergebnisse und Folgerungen.
Stefan Lembke (SL)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.331
Empfohlene Zitierweise: Stefan Lembke, Rezension zu: Martin Sebaldt: Organisierter Pluralismus. Opladen: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/5404-organisierter-pluralismus_7081, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 7081
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M. A., Politikwissenschaftler.
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