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/ 03.06.2013
Peter Fischer

Reform statt Revolution. Die Gemeinsame Verfassungskommission von Bundestag und Bundesrat

München: Forschungsgruppe Deutschland am Centrum für angewandte Politikforschung 1995 (Schriftenreihe der Forschungsgruppe Deutschland 5); 141 S.; brosch., 16,80 DM; ISBN 3-9804530-0-6
Fischer kann für sich in Anspruch nehmen, als erster eine wissenschaftliche Arbeit zur Gemeinsamen Verfassungskommission (GVK) vorgelegt zu haben. Auf der Grundlage eines umfassenden Quellenstudiums untersucht er Akteure, Strukturen, Arbeitsweise, Funktion und "Ergebnisfindung" der paritätisch aus Bundestags- und Bundesratsmitgliedern besetzten GVK. Von den mehr als zwei Dutzend Beratungsgegenständen wählt Fischer die kontroversen Themenkomplexe Europa und Föderalismus, Bürgerbeteiligung/Plebiszite und Staatsziele für eine detaillierte Analyse. Es gelingt ihm zu verdeutlichen, daß entgegen dem in Artikel 5 des Einigungsvertrags formulierten Auftrag die Arbeit der GVK weniger durch Fragen der inneren Einheit Deutschlands, als durch solche des europäischen Einigungsprozesses bestimmt war, zumal diese wegen der anstehenden Ratifizierung des Maastrichter Vertrags besonders dringlich erschienen. Anders als bei Plebisziten und Staatszielbestimmungen verliefen hier die Konfliktlinien zwischen den Ländervertretern bzw. den Vertretern der Landesregierungen und denen des Bundes. Dabei befanden sich die Länder in einer ungleich günstigeren Verhandlungsposition: mit der vereinzelt auch explizierten Drohung, den Maastrichter Vertrag im Bundesrat scheitern zu lassen, konnten sie maßgebliche Mitwirkungsmöglichkeiten in Fragen der Europäischen Union durchsetzen. Im Ergebnis gelang es ihnen, "zum ersten Mal seit 1949 auf dem Wege der Verfassungsänderung die Rechte der Länder im bundesstaatlichen Gefüge zu stärken" (104) und damit eine Re-Föderalisierung der Verfassungsordnung zu bewirken. Bei der Einführung von Plebisziten und Staatszielbestimmungen in das Grundgesetz verlief die Debatte durchweg entlang den parteipolitischen Fronten. Die Regierungsparteien profitierten bei ihrer ablehnenden Haltung von der für Beschlüsse erforderlichen Zweidrittelmehrheit. Diese machte einen Konsens der beiden großen Fraktionen erforderlich, der lediglich beim Staatsziel Gleichberechtigung von Mann und Frau und - gegen den massiven Widerstand der damaligen CDU/CSU-Fraktionsführung - beim Staatsziel Umwelt erreicht werden konnte. Obwohl sie das umfangreichste Paket an Grundgesetzänderungen geschnürt hat, läßt Fischer keinen Zweifel daran, daß die Bedeutung der GVK kaum über die eines gewöhnlichen parlamentarischen Ausschusses hinaus ging. Im wesentlichen mit der Erörterung von Reformvorschlägen und der Vorabklärung befaßt, war sie gleichermaßen der Einflußnahme von Bundesregierung und Fraktionsführungen ausgesetzt. Ihre ohnehin begrenzten Gestaltungsmöglichkeiten wurden noch zusätzlich durch informelle Absprachen, etwa zwischen dem Bundeskanzler und den Ministerpräsidenten, beschnitten. Fischers kenntnisreiche und lesenswerte Studie überzeugt vor allem dort, wo sie die Beratungen der GVK im Kontext des bundesdeutschen Parlamentarismus analysiert. Gerade im Vergleich zu der 1996 erschienenen Arbeit von Helge-Lothar Batt zur Grundgesetzreform nach der deutschen Einheit können allerdings auch einzelne Schwächen nicht übersehen werden. So macht sich etwa die fehlende Auseinandersetzung mit der verfassungspolitischen Literatur bemerkbar, wenn mit Bezug auf die Arbeit der GVK irrtümlich von "Verfassungsgebung" (114) die Rede ist. Dem entspricht der problematische Titel der Arbeit: Spätestens durch das im Einsetzungsbeschluß formulierte beschränkte Mandat der Verfassungskommission war eine "Revolution" im Sinne einer Verfassungsschöpfung ausgeschlossen. Überraschen muß angesichts des Titels um so mehr, weshalb der Verfasser zu dem Ergebnis gelangt, daß auch eine "Verfassungsreform im engeren Sinne" (117) nicht zustande gekommen ist.
Michael Edinger (ME)
M. A., wiss. Mitarbeiter, Sonderforschungsbereich 580, Universität Jena (www.uni-jena/svw/powi/sys/edinger.html).
Rubrizierung: 2.3212.32 Empfohlene Zitierweise: Michael Edinger, Rezension zu: Peter Fischer: Reform statt Revolution. München: 1995, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/2094-reform-statt-revolution_2547, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 2547 Rezension drucken
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