/ 04.06.2013
Inge Stalder
Staatsverschuldung in der Demokratie. Eine polit-ökonomische Analyse
Frankfurt a. M. u. a.: Peter Lang 1997 (Europäische Hochschulschriften: Reihe V, Volks- und Betriebswirtschaft 2.071); 476 S.; brosch., 118,- DM; ISBN 3-631-31629-1Volkswirtschaftl. Diss. Erlangen - Nürnberg; Erstgutachter: K. D. Grüske. – Die Autorin, inzwischen Referentin im Bundesfinanzministerium, analysiert überaus fundiert und nachvollziehbar die Gründe für die den repräsentativen Demokratien offensichtlich systemimmanente Tendenz zur fortdauernden Neuverschuldung. Die Ursachen liegen ihrer Meinung nach im Zusammenwirken des finanzpolitischen Instruments der öffentlichen Kreditaufnahme mit dem politischen Umfeld im Regierungssystem, in dem es zum Einsatz kommt. Nach der Untersuchung der Staatsverschuldung aus normativer Perspektive analysiert Stalder den politischen Prozeß. Erkenntnisse der ökonomischen Theorie der Politik werden mit Hilfe ökonometrischer Methoden empirisch überprüft. Hierbei zeigt sich zum einen, daß linksorientierte Parteien ihre Popularität durch steigende öffentliche Verschuldung erhöhen können, rechtsorientierte Parteien mit Popularitätsverlusten rechnen müssen. Zum anderen stellt Stalder fest, "daß die gesamte Wählerschaft unabhängig von der politischen Couleur extrem kurzsichtig agiert" (313). Ereignisse, die weiter als ein Jahr zurückliegen, spielen für die Entscheidung der Wähler praktisch keine Rolle mehr. Neben dem Wähler scheiden auch das Parlament als Ganzes - wegen der faktischen Interessenübereinstimmung der Mehrheitsfraktionen – sowie die Opposition als Kontrollinstanzen aus. Sie kann die Regierungspolitik nur grundsätzlich kritisieren und ist darauf bedacht, sich nicht selbst unnötig unter Druck zu setzen. Die Opposition würde selbst nicht auf das strategische Instrument der Neuverschuldung verzichten und eine konsequente Konsolidierungspolitik einleiten, damit sie den Wählern gegenüber glaubwürdig bleibt (369 f.). Auch der Bundesrechnungshof ist kein effektives Kontrollorgan, weil er durch die Parlamentsmehrheit besetzt wird, ihm keine politische Bewertung zusteht und monierte Gesetzesvorhaben weder durch ein Veto blockiert noch über die Parlamentsmehrheit verhindert werden können. Schließlich sind die verfassungsrechtlichen Barrieren in Art. 115 GG weit gefaßt und damit überwindbar.
Stalder hat eine Reihe von Verbesserungsvorschlägen (397 ff.): Sie spricht sich dafür aus, in Art. 115 GG Verschuldungsgrenzen zu formulieren, die an das staatliche Ausgabenvolumen geknüpft sind. Zudem fordert die Autorin bei Bundestagsbeschlüssen eine qualifizierte Mehrheit von 60 %, um die Opposition zu beteiligen, und das Recht auf parlamentarische Kostenanfragen durch Bundestagsfraktionen hinsichtlich der eingebrachten Gesetzentwürfe. Weiterhin erwägt sie eine Volkswahl der Spitze des Rechnungshofes sowie ein Vetorecht, um seine Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit zu sichern. Als rigorosestes Mittel schlägt sie weiterhin die Verknüpfung von ausgaben- und verschuldungsrelevanten Einnahmeentscheidungen vor. Hierdurch soll die Legislative gezwungen werden, ihre Ausgaben zu senken, da sie die gegenzurechnenden Einnahmen jeweils öffentlich rechtfertigen müßte. Die Strategie der Politiker, die Kosten für die Allgemeinheit zu verschleiern, um den eigenen Nutzen zu optimieren, könnte somit nicht mehr greifen. Um die Kosten der Neuverschuldung transparent zu machen, wäre für Stalder überdies die Einführung einer proportional wachsenden Verschuldungssteuer denkbar, ohne dabei zusätzliche Einnahmen zu erzielen. Schließlich präsentiert die Autorin noch einen neuen, eigenen Vorschlag: "debt cap" (419 ff.), eine Begrenzungsregel, die das Bruttosozialprodukt und die Verschuldung eines Staates berücksichtigt und die Veränderung bei der Verschuldung in dem einen Land mit der Neuverschuldung in anderen Ländern wie den EU- oder den G7-Staaten in einen Zusammenhang setzt.
Inhaltsübersicht: I. Die Untersuchungsobjekte Staatsverschuldung und politischer Prozeß der repräsentativen Demokratie: 1. Die Staatsverschuldung aus der Perspektive ökonomischer Rationalität; 2. Ökonomische Analyse des politischen Systems in einer repräsentativen Demokratie; 3. Das Verbundprinzip als Bindeglied zwischen Staatsverschuldung und politischem Prozeß. II. Polit-ökonomische Analyse der Ursachen der fortdauernden Staatsverschuldung: 4. Durch Enttabuisierung der öffentlichen Verschuldung Veränderung ihrer Rahmenbedingungen; 5. Zeithorizont im politischen Prozeß der repräsentativen Demokratie; 6. Der Einfluß von Wahlperioden, Ideologien und Parteikoalitionen auf Budgetdefizite; 7. Schuldenillusionen und Gegenwartspräferenz als Ursache für Budgetdefizite; 8. Leistungsstaat und Anspruchsdenken als Ursache für Budgetdefizite. III. Empirische Überprüfung der theoretischen Ergebnisse der Ursachenanalyse von Budgetdefiziten: 9. Wählerverhalten angesichts staatlicher Defizite – die Popularitätsfunktion; 10. Politikerverhalten angesichts staatlicher Verschuldungsmacht – die Reaktionsfunktion; 11. Weitere Einflußfaktoren auf dem empirischen Prüfstand. IV. Handlungsbedarf in puncto Staatsverschuldung: 12. Institutionelle und konstitutionelle Grenzen der öffentlichen Verschuldung – eine kritische Bestandsaufnahme; 13. Ansätze zur Überwindung des Demokratieversagens hinsichtlich der Staatsverschuldung; Staatsverschuldung in der Demokratie – Resümee einer polit-ökonomischen und empirischen Analyse.
Stefan Lembke (SL)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.22 | 2.21
Empfohlene Zitierweise: Stefan Lembke, Rezension zu: Inge Stalder: Staatsverschuldung in der Demokratie. Frankfurt a. M. u. a.: 1997, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/4592-staatsverschuldung-in-der-demokratie_6441, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 6441
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M. A., Politikwissenschaftler.
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