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/ 03.06.2013
Rolf Lamprecht

Vom Mythos der Unabhängigkeit. Über das Dasein und Sosein der deutschen Richter

Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1995; 253 S.; brosch., 68,- DM; ISBN 3-7890-3933-0
Die richterliche Unabhängigkeit basiert nach Lamprecht auf tradierten Grundüberzeugungen; richterliche Entscheidungen sind - im Gegensatz zu Entscheidungen von Exekutive und Legislative - weitgehend vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen. Es fehle ein "Diskurs im Recht" im Sinne des kritischen Rationalismus: die "dialektische Befassung mit dem eigenen Tun - mit den rationalen und irrationalen Kräften, die jede Wahrheitsfindung beeinflussen und den Gedanken an Abhängigkeit aufkommen lassen." Richter allerdings, zu deren "hervorstechenden Merkmalen die Selbstgewißheit gehört", weichen dem Diskurs aus (21). Lamprecht möchte diesen Diskurs in Gang bringen. Er plädiert für die Rückbindung der richterlichen Macht an den Souverän durch den öffentlichen Diskurs. Das skandalöse Mannheimer Urteil gegen den Neofaschisten G. Deckert im Herbst 1994 hat die richterliche Unabhängigkeit ins Scheinwerferlicht gerückt: "Aus dem Reservat, in dem die Richter wohl behütet agieren durften, wurde unversehens eine Quarantäne, die - von außen gesehen - viele Gesunde, aber auch eine ungewisse Zahl von ansteckenden Krankheiten beherbergt." (33) Die These von der grenzenlosen Unabhängigkeit ist falsifiziert worden. Die demokratische Legitimität des unabhängigen richterlichen Handelns in Theorie und Verfassungswirklichkeit ist der rote Faden bei der Erörterung unterschiedlicher Themenbereiche: Möglichkeiten der Sanktionierung von Urteilen durch öffentliche Urteilsschelte oder die noch nie angewendete Richteranklage; parteipolitische Einflüsse bei der Ernennung von Richtern; Ämterpatronage und Korruption; Kriterien der richterlichen Eignung; das Auseinanderfallen von Entscheidungs- und Sachkompetenz; Gründe für fehlende Selbstreflexion bei Richtern; Rechtspositivismus und überpositives Recht. Lamprecht fordert die Ablösung des richterlichen Unabhängigkeits-Mythos zugunsten einer offenen, diskursiven Politisierung der Rechtsprechung. Er erörtert in einer klaren Sprache eine Vielzahl aktueller Beispiele aus der Praxis und setzt sie souverän in einen Zusammenhang mit rechtstheoretischen bzw. rechtsphilosophischen Positionen. Überzeugend wird veranschaulicht, daß sich Rechtsprechung nicht im luftleeren Raum abspielt, sondern zu einem großen Teil ein Politikum ist und zwangsläufig auch als ein solches behandelt werden sollte.
Stefan Lembke (SL)
M. A., Politikwissenschaftler.
Rubrizierung: 2.3232.21 Empfohlene Zitierweise: Stefan Lembke, Rezension zu: Rolf Lamprecht: Vom Mythos der Unabhängigkeit. Baden-Baden: 1995, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/718-vom-mythos-der-unabhaengigkeit_526, veröffentlicht am 01.01.2006. Buch-Nr.: 526 Rezension drucken
CC-BY-NC-SA
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