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Rezension / 25.03.2025

Bastian Matteo Scianna: Sonderzug nach Moskau. Geschichte der deutschen Russlandpolitik seit 1990

München, C. H. Beck 2024

Wie haben die verschiedenen Bundesregierungen seit 1990 die Beziehungen zu Russland jeweils eingeschätzt und gestaltet? Bastian Matteo Scianna analysiert hierzu die Kanzlerschaften von Helmut Kohl bis zu Olaf Scholz und der Historiker ermittelt dabei drei gravierende Fehler der deutschen Russlandpolitik. Rezensent Jakob Kullik lobt das Resultat als „wohl differenzierte und analytisch schonungslose Beschreibung“ der letzten drei Jahrzehnte. Freigegebene Akten bereicherten die Untersuchung und machten sie für eine breite Leserschaft aus Geschichts-, Osteuropa- und Politikwissenschaft anschlussfähig.

Eine Rezension von Jakob Kullik

Die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und Russland unterliegen in ihrer historischen Qualität und wissenschaftlichen Bewertung wechselnden Konjunkturen. Je nach weltpolitischer Lage wurden in Berlin und Moskau strategische Einflusssphären abgesteckt, „Wandel durch Handel“ betrieben oder freundschaftliche Beziehungen zum „großen Bruder“ im Osten gepflegt. Lange galt ein guter Draht nach Moskau und zu den Herrschenden im Kreml als unentbehrliche Voraussetzung für Bonns Außen- und für Ostberlins Blockpolitik. Das wiedervereinigte Deutschland stand vor der Herausforderung, wie mit einem zerfallenen Imperium umzugehen sei, wie die Stabilität in Osteuropa gewahrt und deutsche Interessen verfolgt werden konnten. Der seit über drei Jahren tobende russische Angriffskrieg auf die Ukraine stellt nun die gesamte deutsche Russland- und Ostpolitik der letzten Jahrzehnte in Frage: War Berlin durchweg naiv und wurden die Entwicklungen in Russland übersehen oder falsch eingeschätzt? War demzufolge die gesamte deutsche Russlandpolitik von Helmut Kohl bis Angela Merkel falsch und langfristig fatal für Deutschland und Europa?

Eine Frage des Verstehens?  

Diesen Fragen geht der Potsdamer Historiker Bastian Matteo Scianna nach und verwendet dafür die griffige Metapher des „Sonderzugs nach Moskau“, der in Berlin stets bereitstand, um deutsche Interessen in und mit Russland zu verhandeln. Russland war, vor allem im Kalten Krieg, „zu wichtig, um es wie jedes andere [Land] zu behandeln“ (11). Heute müsse indes gefragt werden, ob die Bedeutung Russlands den deutschen Blick auf das Land verstellte oder dieses Urteil erst im Lichte aktueller Ereignisse gefällt wurde. Und wenn es warnende Stimmen und Bedenken politischer Entscheidungsträger gab, warum wurden diese nicht gehört und „[b]esaß man einen ‚Plan B‘“? (15).

Bevor sich diesen, heute umso drängenderen Fragen, zugewendet wird, verweist Scianna auf die Quellenlage und die Forschungslandschaft zu Russland in Deutschland. Er fragt, wo denn „die Forschungscluster oder fächerübergreifenden Drittmittelprojekte, die die deutsche Russlandpolitik in all ihren Facetten untersuchen und europäisch vergleichen“ (12) seien und stellt fest, dass „[e]ine systematische wissenschaftliche Erforschung deutscher Außenpolitik […] trotz Zeitenwende weiterhin nur in geringem Maße statt[finde]“ (ebd.). Dies ist nicht nur das Klagelied der unterfinanzierten deutschen Geschichtswissenschaft, sondern Spiegelbild einer Wissenschaftspolitik, die in den letzten Jahren nur noch wenig Wert auf historisch-politisch fundierte Länderexpertise gelegt hat. Es geht also nicht nur um historische Aufarbeitung, sondern auch um die langfristige Beschäftigung mit einem Regime, das es sich zur strategischen Aufgabe gemacht hat, die europäische Sicherheitsarchitektur neuzuordnen und die bestehenden Allianzen (NATO) rückabzuwickeln.

Insofern ist Sciannas Buch mehr als nur ein geschichtswissenschaftlicher „Zwischenbericht“ (14) zur deutschen Russlandpolitik, sondern auch ein Stück weit Gebrauchsanleitung zum Verständnis der russischen Sichtweise. Schließlich stelle die grundlegende „Frage des Verstehens“, so Stefan Creuzberger[1] der Regierung eines anderen Landes keine Trivialität oder akademisch-hermeneutische Selbstbeschäftigung dar, sondern sei stets Ausgangspunkt für mitunter schwerwiegende politische Entscheidungen. Diese verschiedenen Wege des deutschen (Nicht- bzw. Miss-)Verstehens von Russland im Bundeskanzleramt zeigt Scianna meisterhaft auf.

Kanzlerzeiten 

Das Buch gliedert sich in vier Teile, die sich chronologisch an den Kanzlerperioden von Kohl bis Scholz orientieren. Die längsten Kapitel sind dabei diejenigen zu Kohl, Schröder und Merkel, die allesamt mit einer spezifizierenden Überschrift ihrer jeweiligen Russlandpolitik bezeichnet sind. So heißt es zur Ära Kohl „Auf der Suche nach Stabilität in einem Europa vieler Zeitenwenden“, zur Regierungszeit Schröders „Die rot-grünen Jahre. Handel ohne Wandel“ und zur Ära Merkel/Steinmeier „Führung ohne Abschreckung oder Eindämmung“. Die Amtszeit von Olaf Scholz wird nur noch bis zum Jahr 2022 nachgezeichnet und passend mit „Der Blick in den Abgrund“ umrahmt. Aufmerksame Leserinnen und Leser erkennen somit bereits in den Überschriften Kern und Beurteilung der verschiedenen Russlandpolitiken.

Was Scianna durchweg überzeugend gelingt, ist die Rekonstruktion der deutschen, (ost-)europäischen und transatlantischen Ereignisgeschichte und deren Rückwirkung auf die Konzeption und Umsetzung der deutschen Russlandpolitik. Berlins Überlegungen sind somit – wie könnte es auch anders sein – stets in die Entwicklungen in Europa – Mauerfall, Ende der UdSSR, Balkankrieg, Krieg gegen den Terror, Eurokrise – eingebettet. Überdies spielen die innenpolitischen Entwicklungen in Russland – Übergangsphase Jelzin-Putin, autoritäre Züge unter Putin – und die Überlegungen der deutschen Bündnispartner, allen voran in Paris, London, Washington und Warschau, eine große Rolle. Diese ganzen Stränge werden im Buch zusammengeführt und ergeben dadurch ein multiperspektivisches und differenziertes Bild der deutschen Russlandpolitik, die keineswegs so naiv und realitätsblind war, wie sie gegenwärtig kritisiert wird.

Die schwierigen Abwägungsprozesse kann man etwa bei Kanzler Kohl nachvollziehen, wenn Scianna auf ein Russlandpapier dessen damaligen außenpolitischen Beraters Joachim Bitterlich vom November 1993 rekurriert, in dem dieser dem Kanzler eine „Blaupause für die kommenden Jahre“ (104) verfasste. In diesem werden sowohl positive innenpolitische Entwicklungen in Russland aufgezählt, aber auch deutlich neo-imperiale Züge der postsowjetischen Außenpolitik benannt: „Traditionelles russisches strategisches Denken, das weiterhin um Kategorien von ‚Einflusssphären‘ kreist, ist […] nicht von der Hand zu weisen. Hegemoniale Tendenzen in Bezug auf das ‚nahe Ausland‘ sind in Russland bis tief in reformorientierte Kreise verbreitet“ (ebd.). Kohl und sein engster Beraterkreis waren sich demzufolge bewusst, dass es mit einem postimperialen und postsowjetischen Russland, das zudem in einer tiefen Wirtschaftskrise steckte, nicht einfach werden würde. Die NATO-Osterweiterung kam im Zuge dessen sehr schnell auf die politische Agenda in Berlin, Moskau und Washington. Während Kohl laut Scianna vor der Wiedervereinigung auf „Wandel durch beharrliche Westbindung und Entspannung aus einer Position der Stärke“ (39) und danach auf Stabilität in Ost(mittel)europa setzte, musste er sich gleichzeitig mit zunehmenden russischen Klagen über die Erweiterungspolitik der NATO auseinandersetzen. Angebote an Russland für eine stärkere politische Einbindung wurden an innenpolitische Reformen geknüpft. Auch wenn dieser Kurs für das postimperiale Selbstverständnis Russlands ungewohnt und schmerzhaft gewesen sein mag, so wohnte der Kohl’schen Russlandpolitik stets das Bemühen inne, Moskau nicht zu verärgern, seine Bedenken ernst zu nehmen, diese aber nicht zur Leitplanke eigenen Handelns zu machen. In diesen Überlegungen wurden auch die ostmitteleuropäischen Staaten stets mitgedacht, was zwar deren Wünschen nach schneller NATO-Integration entgegenkam, aber wiederum Moskau verärgerte. Scianna fragt resümierend: „Kann man angesichts dessen ernsthaft behaupten, die Bundesrepublik sei einer ‚Russia first‘-Politik gefolgt, über die Köpfe der Ost- und Mitteleuropäer hinweg?“ (117). Im Gegenteil: „Man war auf keinem Sonderweg nach Moskau, sondern die deutsche Ostpolitik fuhr mehrgleisig“ (ebd.).

Anders sah die Sache bei Gerhard Schröder aus. Der Kanzler, wie Putin aus einfachen Verhältnissen stammend, setzte ganz auf eine Bilateralisierung der deutschen Russlandpolitik und strebte eine „strategische Partnerschaft“ mit Moskau an, die im Nutzen deutscher Wirtschafts- und Rohstoffinteressen gleichzeitig Stabilität für Osteuropa bringen sollte. Hier schwang auch der Anspruch mit, dass Deutschlands Rolle in Europa mehr sei „als eine Unterwerfung unter die amerikanische Politik“ (253), wie Schröder später in seinen Memoiren festhielt. Zwar revidierte Schröder zu keinem Zeitpunkt die Verankerung der Bundesrepublik im Westen, aber er reizte die Gestaltungsmöglichkeiten einer stärker den nationalen Interessen verpflichteten deutschen Außen(wirtschafts-)politik maximal aus und agierte damit ähnlich wie Charles de Gaulle. Das Pochen Moskaus auf einer Sonderstellung im postsowjetischen Raum und die ständige Kritik an der Einmischung in innere Angelegenheiten mittels politischer Stiftungen sei in Berlin – aber auch Paris – hingenommen worden (256). Dass Deutschland mit seiner anbiedernden Russlandpolitik keineswegs allein war, zeigt Scianna anhand der damaligen Debatten in anderen europäischen Hauptstädten. So folgte Großbritannien „einer ähnlichen Linie und sorgte für eine interessen-, nicht wertegeleitete Linie in der EU während der eigenen Ratspräsidentschaft 2005. […] Die Staaten West- und Südeuropas (!) gingen auf Moskau zu, sahen geflissentlich über Tschetschenien und das innenpolitische Abgleiten in die Autokratie hinweg“ (257, 269-270). Die Schröder’sche Russlandpolitik wird dadurch zwar in der Rückschau nicht besser, aber der Ländervergleich zeigt, dass es auch anderswo politische Sonderzüge nach Moskau gab, die nur unterschiedlich spät abfuhren und ebenfalls auf eine Sackgasse zusteuerten. Am Ende von Schröders Russlandpolitik bleiben nicht nur die enge Männerfreundschaft Schröder-Putin und gute Geschäfte der deutschen Wirtschaft samt hoher Energieabhängigkeit von Moskau, sondern auch der Befund, dass viel von der Spitze im Bundeskanzleramt abhing: „Von einer Verblendung oder Naivität in der Russlandpolitik zu sprechen, ginge am Kern vorbei. Die Nähe zum Kreml war kein Betriebsunfall, sondern Teil der außenpolitischen DNA Schröders“ (270). Das ist ein ebenso treffendes wie bitteres Urteil, zeigt es doch, dass die Charakterzüge eines Mannes (Schröder) trotz besseren Wissens der Faktenlage die Außenpolitik eines ganzen Landes bestimmen können.

Und Merkel? Sie „erbte“ gewissermaßen die Bilanz der engen Männerfreundschaft und musste sich mit einem autoritär gefestigten Putin herumschlagen, der sie zwar respektierte, aber auch ihre Schwächen zu nutzen verstand. Der Russlandpolitik unter Merkel, die nicht von ihr allein, sondern in bedeutendem Maße von Frank-Walter Steinmeier, Sigmar Gabriel und einer in weiten Teilen sehr russlandverständnisvollen SPD mitgeprägt und gerechtfertigt wurde, nähert sich Scianna über den historischen Vergleich mit der Appeasement-Politik. Gleich zu Beginn des Kapitels zu Merkel und Steinmeier stellt er fest: „Dieses Narrativ eines deutschen Sonderwegs und einer Appeasement-Kanzlerin greift in der Gesamtschau zu kurz. Doch es zeigte sich eine Utopie der Verflechtung im Umgang mit Russland, die zu einer Vernachlässigung der eigenen und der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit führte und Deutschland energiepolitisch auf Abwege führte“ (277-278). Merkel sei sich durch ihre Russlanderfahrung, ihre Sprachkenntnisse und ihres rationalen Wesens bewusst gewesen, wie sie Putin als Person und die Lage in Russland einzuschätzen hatte. „Sie war Realpolitikerin“ (289), so Scianna.

Drei politische Fehler mit gravierenden Nachwirkungen

Und dennoch habe sie drei Fehler mit teils gravierenden Nachwirkungen begangen. Hierzu gehört erstens die hohe deutsche Energieabhängigkeit von Russland. Beim Erdgas kamen im Jahr 2021 rund 55 Prozent aus Russland. Die strukturellen Zwänge der Energiewende und die politischen Wünsche des Koalitionspartners und der deutschen Wirtschaft hätten ein Umsteuern schwierig gemacht, auch wenn es schon damals strategisch geboten gewesen wäre. Zweitens vernachlässigte Berlin die militärische Ertüchtigung der Ukraine, die Scianna zufolge dadurch wehrlos blieb, was auch nicht durch die finanzielle und diplomatische Unterstützung zwischen 2014 bis 2022 kompensiert wurde. Und drittens sei es versäumt worden, die eigenen militärischen Fähigkeiten an die sich verändernde Sicherheitslage anzupassen. Mit einer maroden Bundeswehr, einer militärisch vernachlässigten Ukraine und einer nur widerwilligen Unterstützung der NATO-Ostflanke im Baltikum habe man keine glaubhafte Drohkulisse mit Abschreckungswirkung gegenüber Moskau aufbauen können (566). Alle drei Fehler stünden zusammengenommen „sinnbildlich für eine Utopie der Verflechtung ohne Rückversicherung“ (ebd.).

Doch bei diesem Urteil belässt es Scianna nicht, denn während die deutsche Russlandpolitik sich einer kritischen Aufarbeitung durch die Wissenschaft und Öffentlichkeit stellen muss, halten sich einige der russischen Vorwürfe und Propagandanarrative hartnäckig, unter anderem, dass Moskau seit 1992 konsequent übergangen und bis zum Beginn der Vollinvasion 2022 vom Westen gereizt wurde. Doch dies ist Scianna zufolge eine Legende, in der die destruktive Rolle Russlands seit den frühen 1990er-Jahren nicht selten (bewusst) unterbelichtet bleibt: „Die entscheidenden Gründe für die vielfachen Fehlentwicklungen sind daher nicht nur, geschweige denn primär im Westen zu suchen, sondern in Russland und auch der dortigen Bevölkerung“ (566 ff.).

Fazit

Scianna hat mit seinem Buch eine wahrlich tiefschürfende, wohl differenzierte und analytisch schonungslose Beschreibung der deutschen Russlandpolitik der letzten dreißig Jahre vorgelegt. Der Zugang zu freigegebenen Akten hat die Analyse ungemein bereichert und es für die Geschichts-, Osteuropa- und Politikwissenschaft anschlussfähig gemacht. Derzeit kann mit einiger Berechtigung von einem Standardwerk gesprochen werden – immer unter der Maßgabe künftiger Akten- und Quellenfunde, die das Wissensfundament erweitern und zu einer Neubewertung historisch-politischer Zusammenhänge führen. Zu wünschen bleibt, dass das Buch eine breite Leserschaft findet, vordergründig sollte es hierzulande von den nicht wenigen unkritischen Russlandapologetinnen und -apologeten am extremen rechten und linken Rand, aber auch von den Fundamentalkritikerinnen und -kritikern der bisherigen deutschen Russlandpolitik zur Kenntnis genommen werden.


Anmerkungen

[1] Creuzberger, Stefan (2022): Das deutsch-russische Jahrhundert. Geschichte einer besonderen Beziehung, Bonn: Rowohlt, S. 17; hier zit. nach Scianna: S. 13)



DOI: https://doi.org/10.36206/REZ25.14
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