Braucht Europa Erinnerung oder braucht es Vergessen? Im Rahmen der Wiener Vorträge 2009 beschäftigt sich Aleida Assmann mit der Erinnerung und der Frage, wie diese „mobilisierende und identitätsstiftende Kraft“ (20) für die europäische Bindung eingesetzt werden kann. Vergessen, so beginnt Assmann, sei notwendig. Nach dem Zweiten Weltkrieg habe man vergessen müssen, wie z. B. de Gaulle und Adenauer, um einen neuen deutsch-französischen Anfang wagen zu können. Das Vergessen habe die Konflikte, die aus der Erinnerung an das Gräuel des Krieges permanent entstanden, gestoppt und den Blick auf eine gemeinsame europäische Zukunft eröffnet. Das Vergessen brauche, so Assmann, jedoch auch das Erinnern. So sei der Holocaust inzwischen zum Kern einer Erinnerungsgemeinschaft geworden, gefestigt mit einem europaweiten Gedenktag. Allerdings sei bis in die Gegenwart eine Zweiteilung dieser Erinnerung deutlich erkennbar. In der Region des ehemals unter sowjetischem Einfluss stehenden Osteuropas sei der Holocaust anders wahrgenommen und interpretiert worden als in Westeuropa. Und die Frage, wie sich die Erinnerung an den Stalinismus und den Holocaust miteinander verbinden lassen, um eine europäisch verbindende Sicht auf die Folgen dieser beiden Ereignisse beziehungsweise Perioden zu erarbeiten, bleibe weiterhin zu lösen. Assmann erklärt abschließend, wie wichtig die Aufarbeitung der Geschichte für einen Dialog zwischen Nationalstaaten und wie notwendig sie für die Gemeinschaft in Europa sei. Sie plädiert engagiert für die Anerkennung der Verschränkung von Geschichte und Gegenwart und betont die Notwendigkeiten eines aktiven Umgangs mit der Erinnerung bei der Gestaltung der Zukunft Europas.