Margareta Mommsen: Das Putin-Syndikat. Russland im Griff der Geheimdienstler
In Russland herrsche ein verborgenes Netzwerk, schreibt Margareta Mommsen, in dem die politischen und ökonomischen Interessen der regierenden Eliten des Landes ausgehandelt würden. Die Spitze der Machtpyramide aus informellen Gruppen nennt sie das „Putin-Syndikat“. Dieser realen Machtkonstellation seien die formellen Institutionen der gleichzeitig bestehenden Scheindemokratie, etwa das Parlament und das Ministerkabinett, untergeordnet. Rezensent Hannes Adomeit stimmt ihren zentralen Thesen zu, hätte sich allerdings deren Verknüpfung mit Aspekten der russischen Außenpolitik gewünscht.
Wie es sich für eine deutsche Forscherin gehört, definiert Margareta Mommsen ihren Kernbegriff. In Russland, schreibt sie, herrsche ein verborgenes Netzwerk von mächtigen Männern, in dem die politischen und ökonomischen Interessen der regierenden Eliten des Landes ausgehandelt würden. Die Spitze der Machtpyramide aus informellen Gruppen nennt sie das „Putin-Syndikat“. An diese reale Machtkonstellation seien die formellen Institutionen der gleichzeitig bestehenden Scheindemokratie angedockt, etwa das Parlament und das Ministerkabinett. Diese seien jedoch bei der Ausübung der politischen Macht dem geheimen Syndikat untergeordnet.
Das entstandene Herrschaftssystem mit der besondere Rolle Putins sei schon in der ersten Amtszeit des Präsidenten mit dem Begriff des „Systems Putin“ charakterisiert worden. Und schon am 31. Januar 2000, als Putin nach seinem steilen Aufstieg als Leiter des Inlandsgeheimdienstes FSB und danach als Ministerpräsident „geschäftsführender Präsident“ war, habe der US-amerikanische Journalist William Safire zentrale Merkmale eines ganz neuen Phänomens in der Politik erkannt, die des „Putinismus“. Er habe dieses beunruhigende Phänomen als eine „neue Art des Personenkults“, als Tendenz zur „Unterdrückung der Wahrheit“ und als „Wiederaufleben von Russlands Machtanspruch“ beschrieben (8-9). In der Folgezeit hätten sich die Merkmale dieses Phänomens weiter ausgeprägt.
Putinismus wurde in unterschiedlichen Mischungen als „neopatrimonial“, „neofeudal“, „sultanistisch“, „oligarchisch“, „systemimmanent korrupt“, „kleptokratisch“, „staatsbürokratisch“, „polittechnologisch“, „videokratisch“ und „telepopulistisch“ bezeichnet. Im Einklang mit dem Untertitel ihres Buches hält Mommsen die Beschreibung des russischen Soziologen Lew Gudkow für besonders relevant. Für ihn sei der Putinismus „ein besonderes posttotalitäres Herrschaftssystem, in dem die Geheimpolizei die Macht zur Befriedigung der privaten Interessen bürokratischer Klans und staatlicher Unternehmen ausübt“ (8). Zustimmend zitiert sie auch den im Februar 2015 ermordeten oppositionellen Politiker Boris Nemzow, der auf die „hypertrophe Rolle der Geheimdienste und der Bürokratie“ (9) hingewiesen hatte.
In dem Buch werden entwicklungsgeschichtliche, ideenhistorische und systemanalytische Ansätze verknüpft. Es gliedert sich in sechs Kapitel. Im ersten geht es um die Zeit „Von Jelzin zu Putin: Wie der Kreml zur Geisel der Geheimdienste wurde“ (1991-2000). Ein Schwerpunkt ist dabei der Nachweis, dass der Putinismus aus dem undemokratischen und korrupten System Jelzin herauswuchs. Die Autorin zeigt, dass bereits bei der Wiederwahl Jelzins 1996 die neuen Herrschaftsmethoden der Polittechnologie getestet wurden. Weiter wird der Übergang von der von den Kritikern als „romantische“ und als „Ausverkauf russischer Interessen“ gebrandmarkte Phase euro-atlantischer Orientierung unter Außenminister Andrei Kosyrew zu euro-asiatischen und national-patriotischen Leitbildern beschrieben.
Im zweiten Kapitel mit dem Titel „Das System: Starker Präsident und informeller Pluralismus (2000-2007)“ richtet sich das Augenmerk auf die weitere Herausbildung des Putinismus und die von den Spin Doctors des Kremls ins Spiel gebrachten Erläuterungen des Systems als „gelenkte“, „souveräne“ und „östliche“ Demokratie. Als innere Herausforderungen an das Herrschaftssystem werden die Geiselnahmen im Dubrowka-Theater in Moskau im Oktober 2002 und in einer Schule im nordkaukasischen Beslan im September 2004 bezeichnet, zu den externen werden die NATO-Osterweiterung und die „Farbenrevolutionen“ gerechnet.
Das dritte Kapitel beschäftigt sich mit dem „Tandem Putin-Medwedew und der Krise des Putin-Syndikats (2008-2012)“. Mommsen zeigt auf, dass die Manipulationen und Fälschungen bei den Duma-Wahlen im Dezember 2011 und den Präsidentschaftswahlen im März 2012 zu Demonstrationen von Zehntausenden von Menschen führten, die ein „Russland ohne Putin“ wollten. Der Kreml, so die Autorin weiter, reagierte auf die Legitimationskrise des Systems mit verstärkter Repression zur Abwehr pro-westlicher, demokratischer, liberaler, rechtsstaatlicher und autonomer zivilgesellschaftlicher Strömungen und mit anti-westlicher, national-patriotischer Mobilisierung.
Im vierten Kapitel werden die „Konservative Wende, nationale Mobilisierung und der Ukrainekonflikt (2012-2014)“ behandelt. Die Annexion der Krim und die Militärintervention Moskaus in der Ost-Ukraine werden in den Zusammenhang der Reaktion des Syndikats auf die Legitimationskrise gestellt. Der Wandel Putins zu einem anfangs scheinbar überzeugten Europäer zu einem „Eurasier“ mit all den entsprechenden Konzepten wie der „Russischen Idee“, der „Russischen Welt“ und ihrer institutionellen Verankerung in der „Eurasischen Union“ sowie die enge Zusammenarbeit mit der Russisch-Orthodoxen Kirche werden dabei analysiert.
Das fünfte Kapitel, das die zeitlich orientierte Darstellung verlässt, ist auf den „Unrechtstaat und seine Opfer (seit 2004)“ fokussiert. Zur Beweisführung werden Fallbeispiele herangezogen, so die Chodorkowski-Prozesse, der Fall Magnitski, das Massaker in Kuschtschowskaja sowie die Morde an Anna Politkowskaja, Alexander Litwinenko und Boris Nemzow.
Das sechste und letzte Kapitel ist dem „Späten Putinismus: Personenkult und Weltmachtanspruch“ gewidmet. Die vorher herausgearbeiteten Systemelemente der konservativen Wende werden noch einmal hervorgehoben. Dazu zählt Mommsen die weitere Stärkung der Macht und des Einflusses der Silowiki, die Gründung einer Nationalgarde (Rosgwardia), eine Geschichtspolitik mit der Betonung auf glorreiche militärische Siege und die Fortsetzung der anti-westlichen, national-patriotischen Kampagne. Als neue Elemente der Legitimierung des Herrschaftssystems seien die Demonstration militärischer Stärke und die globalstrategische Weitsicht des Präsidenten hinzugekommen. Was allerdings fehle, seien jedwede Anstrengungen zur Einleitung eines grundlegenden Reformprozesses.
Insgesamt hat die Autorin einen gut recherchierten und lesbaren Überblick über die wichtigsten Entwicklungen in Russland geliefert und diesen in einen brauchbaren systemtheoretischen Rahmen des „Putin-Syndikats“ und des „Putinismus“ eingeordnet. Der Rezensent stimmt mit der Hauptthese über die Herausbildung eines Systems, in dem die Geheimdienste eine wichtige, wenn auch nicht unbeschränkte Rolle spielen, überein. Infolgedessen sind die nachfolgenden Bemerkungen eher als Vorschläge für Ergänzungen denn als Kritik zu verstehen.
Erstens ist es zwar offensichtlich, dass der Schwerpunkt auf der Analyse der innenpolitischen Entwicklung liegt, aber von der russischen Außenpolitik ist auch die Rede. Was fehlt, ist die Behandlung der Frage, wie diese beiden Dimensionen der Politik miteinander verbunden sind, was Vorrang hat und wie dieser sich konkret auswirkt.
Was ebenfalls fehlt, ist zweitens eine Zuordnung der Politik des Kremls zu dem, was in Russland manchmal immer noch als „Nahes Ausland“ bezeichnet wird, also der postsowjetische Raum. Zu untersuchen gewesen wäre dabei die Frage, ob dieser von Moskau als eigene Einflusssphäre beanspruchte Raum wegen der engen Verbindung zur russischen Innenpolitik nicht als eine Art Zwischenstück zwischen den beiden Dimensionen – der Innen- und der Außenpolitik − betrachtet werden muss.
Eingehender hätte drittens der Versuch einer Antwort auf die Frage ausfallen können, wie und warum Putin „vom Europäer zum Eurasier wurde“. Zuallererst hätte man fragen können, ob Putin denn je in dem von der Autorin verstandenen Sinn „Europäer“ war. Dann hätte man auf die von westlichen Kritikern Putins geteilten Anschauungen eingehen können, seine europa- und NATO-freundlichen sowie insgesamt pro-westlichen Äußerungen in den ersten beiden Amtszeiten als Präsident seien lediglich Ausdruck der Schwächeposition gewesen, in der sich Russland befand. Diese fanden demnach erwartungsgemäß ihr Ende, als sich das Land nach Ansicht seiner Machtelite zur „ernst zu nehmenden Großmacht“ wandelte. Noch grundsätzlicher ist die Frage, ob es sich bei Putins Abkehr vom Westen um eine für Russland typische, schon in vergangenen Jahrhunderten feststellbare „Pfadabhängigkeit“ handelt, der zufolge an Europa orientierte Reformanstrengungen in der Wiederauflage von Autoritarismus und Repression enden.
Vielleicht gibt es auf diese Fragen keine endgültigen und beweisbaren Antworten, interessant wäre es aber gewesen, sie aufzuwerfen.
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