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Interview / 19.04.2018

Der Entwicklungspfad zur klimafreundlichen Energieversorgung. Das Akademienprojekt „Energiesysteme der Zukunft“ präsentiert Vorschläge

Sektorkopplung könne der Schlüssel für ein klimafreundliches Energiesystem sein. Zu diesem Ergebnis kommt das Akademienprojekt „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS), eine Initiative der deutschen Wissenschaftsakademien. Darin fordern sie einen Kurswechsel in der Energiepolitik. Deutschland habe in den vergangenen Jahren zwar als „Vorreiter“ in der Energiewende gegolten, so Eberhard Umbach, Co-Leiter der ESYS-Arbeitsgruppe „Sektorkopplung“ in einem Interview. Aktuell sei es aber hierzulande um die Energiewende nicht gut bestellt. Unsere Energieversorgung basiere noch immer zu 80 Prozent auf fossilen Energieträgern.

 Die Erkenntnis, dass Strom Elektroautos antreiben kann, ist schon seit Langem bekannt. Im September 1897 präsentierte die Firma Kühlstein diesen Jagdwagen als elektrisches Fahrzeug auf der ersten Internationalen Automobil-Ausstellung in Berlin. Foto: Wikimedia Commons Die Erkenntnis, dass Strom Elektroautos antreiben kann, ist schon seit Langem bekannt. Im September 1897 präsentierte die Firma Kühlstein diesen Jagdwagen als elektrisches Fahrzeug auf der ersten Internationalen Automobil-Ausstellung in Berlin. Foto: Wikimedia Commons https://commons.wikimedia.org/wiki/File:K%C3%BChlstein_Jagdwagen.jpg

 


Herr Prof. Umbach, das Akademienprojekt „Energiesysteme der Zukunft“ (ESYS) hat die Stellungnahme „Sektorkopplung“ veröffentlicht. Aus welchem Anlass?


Deutschland galt in den vergangenen Jahren als „Vorreiter“ in der Energiewende. Wir haben die Erneuerbaren stark ausgebaut und den Grundstein für die Entwicklung klimafreundlicher Technologien gelegt. Aktuell ist es hierzulande um die Energiewende aber nicht gut bestellt. Denn trotz der bundesweit knapp 30.000 Windräder und 1,6 Millionen Photovoltaikanlagen basiert unsere Energieversorgung immer noch zu 80 Prozent auf fossilen Energieträgern. Eine Folge: Die Treibhausgasemissionen verharren seit Jahren auf hohem Niveau, das Erreichen der Klimaziele rückt in weite Ferne. Mit diesen Entwicklungen haben wir uns in unserer Arbeitsgruppe intensiv auseinandergesetzt. In einem interdisziplinären Team mit Vertreter*innen aus den Technik-, Natur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften haben wir Lösungsvorschläge erarbeitet, um die Energieversorgung langfristig klimafreundlich, sicher und bezahlbar zu gestalten. Auf der Basis unserer Ergebnisse fordern wir ein Umdenken in der Klimapolitik – anders können wir die Energiewende nicht stemmen. Eines ist dabei klar geworden: Wenn wir heute nicht anfangen, drastisch umzusteuern, werden wir bereits in zehn, ganz sicher aber in dreißig Jahren die Scherben der Klimaschutzpolitik zusammenkehren müssen – oder es wird extrem teuer.


Wie sind Sie genau in Ihrer Arbeitsgruppe vorgegangen?


Zunächst haben wir untersucht, wie die Energieversorgung heute aufgestellt ist: Welche Energieträger werden wo verwendet, wo wird am meisten CO2 ausgestoßen, welche Ineffizienzen gibt es? Was passiert, wenn wir die Entwicklungen der zurückliegenden Jahrzehnte fortschreiben? Daraus wurde klar: Wenn wir so weitermachen wie bisher, werden wir alle Klima- und Umbauziele sehr deutlich verfehlen! Um aufzuzeigen, wie wir diese Ziele noch erreichen können, haben wir mögliche Technologien für die Energieversorgung der Zukunft identifiziert und bewertet. Dazu haben wir Expertendiskussionen geführt und Energieszenarien aus anderen Studien miteinander verglichen. Zusätzlich haben wir in eigenen Modellrechnungen Abhängigkeiten und Zusammenhänge wichtiger Parameter untersucht. Denn je nachdem, welches CO2-Minderungsziel man zugrunde legt und welche Technologien eingesetzt werden, ergeben sich andere Anforderungen an die Energieversorgung. Diese Ergebnisse haben wir in der Analyse „Sektorkopplung“ – Untersuchungen und Überlegungen zur Entwicklung eines integrierten Energiesystems veröffentlicht.

Die Stellungnahme „Sektorkopplung“ – Optionen für die nächste Phase der Energiewende baut darauf auf. Darin skizzieren wir konkrete Entwicklungspfade für ein Energiesystem, das die bestehenden Klimaschutzziele mit möglichst geringen Kosten erreicht und gleichzeitig versorgungssicher bleibt. Unseren Betrachtungen liegt ein Zeithorizont bis 2050 zugrunde, das heißt wir zeigen langfristige Perspektiven für die Energieversorgung auf.


Sie sprachen von Energieträgern – dazu zählen Kohle, Gas, Strom, Erdöl oder auch Wasserstoff. Welche Energieträger werden die Energieversorgung der Zukunft prägen?


Ein zentrales Ergebnis unserer Stellungnahme lautet: Strom, der vorwiegend aus Windkraft- und Photovoltaikanlagen stammt, wird zum dominierenden Energieträger. Wir empfehlen, ihn wo immer möglich direkt zu nutzen, da Strom aus technischer Sicht sehr effizient und flexibel einsetzbar ist. So kann Strom zum Beispiel Elektroautos oder Wärmepumpen antreiben.

Die Folge: Der Strombedarf aus erneuerbaren Quellen würde enorm steigen, und Windkraft- sowie Photovoltaikanlagen müssten sehr stark ausgebaut werden. Unsere Berechnungen zeigen, dass ihre Kapazität bei gleichem Energieverbrauch gegenüber heute auf ein Fünf- bis Siebenfaches anwachsen müsste. In Anbetracht der teils erheblichen Widerstände gegen den Ausbau von Windanlagen oder Stromnetzen stellt dies die Gesellschaft vor große Herausforderungen. Doch wie kann der Ausbau begrenzt werden? Vor allem, wenn es uns gelingt, Energie effizienter zu nutzen als bisher und massiv Energie einzusparen. Zusätzlich müssen wir aber auch die Potenziale der alternativen erneuerbaren Energien heben: Der gezielte Einsatz von Bioenergie, Solarthermie und Geothermie kann dazu beitragen, dass weniger Windkraft- und Solaranlagen errichtet werden.


Grafik 1: Ausbau der erneuerbaren Energien

36 Umbach GrafikAusbau EE

Langfristig werden wir zudem nicht ohne synthetische Brenn- und Kraftstoffe aus Biomasse oder regenerativ erzeugtem Strom auskommen. Ihre Vorteile: Sie sind gut speicherbar und können zum Beispiel im Schiff- und Flugverkehr verwendet werden, wo rein elektrische Lösungen nicht möglich oder unwirtschaftlich sind. Wasserstoff kommt dabei eine besondere Rolle zu, weil er viele Funktionen im Energiesystem einnehmen kann, zum Beispiel in Industrieprozessen, bei der Wärmeversorgung in Gebäuden oder als Kraftstoff im Verkehr. Außerdem kann Wasserstoff wieder in Strom oder in weiteren Schritten in Methan und flüssige Kraftstoffe umgewandelt werden.

Neben Strom wird Gas voraussichtlich zum zweiten zentralen Energieträger der Zukunft. Für die Übergangsphase eignet sich vor allem natürliches Erdgas, langfristig kommen Biogas und synthetisches Gas in Betracht.


Kommen wir nun zu den einzelnen Sektoren. Welche Entwicklungspotenziale sehen Sie dort?


Wir haben in unserer Stellungnahme Treiber identifiziert, um die Mobilität, Wärmeversorgung und Industrieprozesse klimafreundlicher zu machen. Denn während regenerative Quellen bereits knapp 30 Prozent zur Bruttostromerzeugung in Deutschland beitragen, spielen sie in den anderen Sektoren bisher kaum eine Rolle. Die Herausforderung besteht also darin, nicht nur die Stromversorgung, sondern auch die Wärmebereitstellung und den Verkehr auf erneuerbare Energien umzustellen. Nur dann kann unsere Energieversorgung langfristig klimaneutral werden.

Im Gebäudebereich gibt es dafür zwei Hebel: weniger Energie verbrauchen, zum Beispiel durch bessere Wärmedämmung, und emissionsärmere Technologien einsetzen. Wir sehen die Notwendigkeit, bis zum Jahr 2050 fast den gesamten Gebäudebestand zu sanieren. Die bisherigen Sanierungsquoten von etwa 0,8 Prozent pro Jahr reichen dafür bei Weitem nicht aus. Außerdem müssten die spezifischen CO2-Emissionen der Heizungstechnologien auf etwa ein Drittel des heutigen Wertes sinken. Neben Wärmepumpen als Schlüsseltechnologie sind Solarthermie und zentrale Kraft-Wärme-Kopplungs-Anlagen dafür geeignet.

In der Industrie kann neben dem Einsatz von Biogas die Elektrifizierung von Wärmeprozessen dazu beitragen, dass weniger CO2 ausgestoßen wird. Wir empfehlen Wärmepumpen für Prozesse mit Temperaturen bis 200 Grad Celsius, bei höheren Temperaturen wird es schwieriger. Eine große Herausforderung für die Industrie ist zudem, ihre Abläufe an die volatile Stromerzeugung anzupassen. Hybridsysteme aus Strom und Gas können helfen, die Stromnutzung zu flexibilisieren.

Der Verkehrssektor bildet aktuell das Schlusslicht der Energiewende. Dies ließe sich ändern, wenn mehr effiziente Antriebe und mehr Erneuerbare eingesetzt würden. Unsere Ergebnisse zeigen, dass mit grünem Strom angetriebene Elektrofahrzeuge in Zukunft unverzichtbar werden. Hybrid-Fahrzeuge mit Elektro- und Verbrennungsmotoren können den aktuell noch vorhandenen Nachteil der geringen Reichweite ausgleichen. Für den Schwerlast- und Fernverkehr sehen wir verschiedene Möglichkeiten. Wasserstoff, synthetisches Erdgas, synthetische Kraftstoffe oder elektrische Oberleitungen haben aus heutiger Sicht das Potenzial, die Mobilität klimafreundlicher zu machen.

Grafik 2: Energieverbrauch für Verkehr


36 Umbach Grafik Verkehr

 

Wo sehen Sie die größten Herausforderungen für die künftige Energieversorgung?


Die Einspeisung aus Windkraft- und Photovoltaikanlagen ist abhängig vom Wetter und schwankt deshalb stark. Flexibilität wird daher künftig zu einem zentralen Kriterium. Um die volatile Stromerzeugung auszugleichen, brauchen wir Kurz- und Langzeitspeicher. Neben Pumpspeichern und Batterien, die einen Teil der kurzzeitigen Schwankungen abpuffern, werden flexible Elektrolyseanlagen zur Herstellung von Wasserstoff immer wichtiger. Einen idealen Langzeitspeicher gibt es in Deutschland schon: das Erdgasnetz mit den dazugehörigen Kavernen- und Porenspeichern.

Eine weitere große Herausforderung liegt darin, die Versorgungssicherheit langfristig jederzeit garantieren zu können. Zwar ist das deutsche Energiesystem bisher äußerst zuverlässig. Doch was passiert künftig in mehrwöchigen wind- und sonnenarmen Perioden? Für diese Zeiten brauchen wir Reservekapazitäten, um die Versorgung in allen Wetterlagen und zu allen Jahreszeiten abzusichern. Mit voraussichtlich knapp 100 Gigawatt wird deren Umfang etwa dem heutigen konventionellen Kraftwerkspark entsprechen. Aus unserer Sicht eignen sich dafür emissionsarme Gaskraftwerke, flexible Kraft-Wärme-Kopplungsanlagen oder Brennstoffzellen. Kohlekraftwerke werden hingegen keine Rolle mehr spielen.


In ihrer Studie vergleichen Sie die Energiewende mit der deutschen Wiedervereinigung. Wie teuer wird sie denn, und wie lässt sie sich steuern?

Die Energiewende hat ihren Preis. Wollen wir das Energiesystem von fossilen auf überwiegend klimaschonende Energieträger umstellen, rechnen wir mit Mehrkosten von etwa 60 Milliarden Euro pro Jahr für ein CO2-Reduktionsziel von 80 Prozent – bei ungünstigen Bedingungen sogar mehr. Das entspricht etwa zwei Prozent des heutigen deutschen Bruttoinlandsprodukts.

Um erfolgreich zu sein und unnötige Mehrkosten zu vermeiden, brauchen wir aber unbedingt sehr viel klügere Rahmenbedingungen. Als zentrales Steuerungselement sprechen wir uns für einen einheitlichen, wirksamen CO2-Preis aus. Nur dann kann sich regenerativ erzeugter Strom am Markt gegen fossile Energieträger durchsetzen. Wir schlagen vor, das europäische Emissionshandelssystem auf alle Sektoren auszuweiten und zusätzlich einen Preiskorridor oder zumindest einen Mindestpreis festzulegen. Gelingt dies nicht, könnte eine europaweite oder nationale CO2-Steuer eingeführt werden. Diese Maßnahmen müssten sozial und wirtschaftsfreundlich abgefedert werden und zu einem Abbau des umfangreichen Regelwerks und der Energiesteuern führen. Dann könnten sie dazu beitragen, dass Unternehmen und Verbraucher eher in klimafreundliche Technologien investieren und damit der Sektorkopplung die Tür öffnen.

 

Erstveröffentlichung in: THEMEN:magazin, Heft 6, Dezember 2017: „Das Energiesystem ganzheitlich und zügig umbauen“

 

CC-BY-NC-SA
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Information

Um den Umbau der Energieversorgung zu unterstützen, haben die Wissenschaftsakademien 2013 die Initiative „Energiesysteme der Zukunft“ ins Leben gerufen. Expert*innen unterschiedlicher Disziplinen haben sich in einem dreijährigen Projekt den Herausforderungen der Energiewende gewidmet. Diese Initiative wird in einer zweiten Projektphase unter Federführung der Deutschen Akademie der Technikwissenschaften fortgesetzt. In interdisziplinären Arbeitsgruppen erarbeiten mehr als 100 Expert*innen Handlungsoptionen für den Weg zu einer umweltverträglichen, sicheren und bezahlbaren Energieversorgung.

 

Nationale Akademie der Wissenschaften Leopoldina / acatech – Deutsche Akademie der Technikwissenschaften / Union der deutschen Akademien der Wissenschaften (Hrsg.)
„Sektorkopplung“ – Optionen für die nächste Phase der Energiewende.
Stellungnahme, November 2017

„Die Entwicklung der deutschen Treibhausgasemissionen in den vergangenen Jahren steht im Gegensatz zum erklärten Ziel einer kontinuierlichen Absenkung – obwohl der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung fortwährend gestiegen ist. Dies ist nur eine von verschiedenen Beobachtungen, die am Anfang der Arbeitsgruppe „Sektorkopplung“ standen. Das Akademienprojekt kommt zu dem Schluss, dass die Klimaschutzziele nur erreicht werden können, wenn das Energiesystem ganzheitlich über alle Sektoren hinweg betrachtet und optimiert wird und sich die Gesellschaft dieser Aufgabe bewusst stellt.“

Die Kurzfassung der Stellungnahme findet sich hier.


zum Thema
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