/ 05.06.2013
Andrea H. Schneider
Die Kunst des Kompromisses: Helmut Schmidt und die Große Koalition 1966-1969
Paderborn u. a.: Ferdinand Schöningh 1999; 307 S.; kart., 58,- DM; ISBN 3-506-77957-5Diss. Frankfurt a. M. - Die Autorin befaßt sich mit der Frage, "wie es gelang, die Große Koalition innerhalb der SPD tragfähig zu machen, wie sich die Zusammenarbeit der SPD mit den Unionsparteien manifestierte und wie sich die SPD gegenüber ihrem Koalitionspartner versuchte durchzusetzen" (10). Dabei geht sie sowohl historisch-chronologisch als auch analytisch vor und schließt auf der Basis ihrer Ergebnisse auf die allgemeine Funktionsweise der Großen Koalition. Im Mittelpunkt ihrer Untersuchung steht der damalige SPD-Fraktionsvorsitzende Schmidt, dessen Meinungen, Strategien und politisches Handeln sie unter anderem auf der Grundlage des Depositum Helmut Schmidt im Archiv der Sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung analysiert. Daß sich die Analyse schwerpunktmäßig mit der Innenpolitik befaßt, erklärt die Verfasserin vor allem mit der Bedeutung des innenpolitischen Reformpotentials der Koalition.
Schneider will die Große Koalition zwar als "parlamentarischen Sonderfall" (17) verstanden wissen, wendet sich jedoch gegen eine Charakterisierung als Zwischenphase oder Übergangsphänomen , weil diese Interpretation zu kurz greift (258 ff.). Die Autorin, die das Verhältnis zwischen Regierung und Parlament der fünften Legislaturperiode erstmals aufgrund des vollständigen Aktenmaterials aus der SPD-Bundestagsfraktion untersucht, unterscheidet drei Phasen der Großen Koalition. Einer ersten Phase der schnellen Umsetzung der in der Regierungserklärung festgelegten Programmpunkte folgte ab dem Sommer 1967 eine Phase neuer Herausforderungen und der Abkühlung zwischen den Regierungsparteien. Die letzte Phase war gekennzeichnet von Schmidts und Barzels dominierendem Einfluß auf die Zusammenarbeit der Koalitionspartner. Hinsichtlich der politischen Machtverteilung in der Großen Koalition limitiert Schneider die Bedeutung des zur Koordinierung zwischen den Koalitionspartnern dienenden Kreßbronner Kreises als der "geheimen Nebenregierung" auf diese letzte Phase (93). Um die Funktionsweise des Bundestages genauer zu untersuchen, werden Willensbildungs- und Entscheidungsstruktur des Parlaments am Beispiel dreier Reformvorhaben dargestellt: die Gesetze zur Mitbestimmung, zur Wahlrechtsänderung und die Notstandsverfassung, die alle von Schmidts besonderem Engagement begleitet wurden (104 ff.).
Als Ergebnis ihrer Analyse konstatiert Schneider unter anderem eine Machtverschiebung weg von der Regierung hin zum Parlament, vor allem aufgrund einer Emanzipation der Fraktionen wie auch der einzelnen Abgeordneten gegenüber den Parteien und der Regierung (261) durch Institutionalisierung und extensive Auslegung der parlamentarischen Kontrollinstrumente (228). Eine weitere Folge der Großen Koalition stellt die politische Entwicklung Helmut Schmidts zu einem in den Augen von Partei und Öffentlichkeit denkbaren Kanzlerkandidaten dar (281). Besonders hervorzuheben ist die intensive Auseinandersetzung der Verfasserin mit der thematisch relevanten Literatur, die einen hervorragenden Einblick in die Forschungslage zur Großen Koalition gewährt.
Inhalt: II. Der lange Weg zur Großen Koalition: 1. Das Ende der Regierung Erhard; 2. Die neue SPD nach Godesberg; 3. Erste Gespräche über die Bildung einer großen Koalition; 4. Das Experiment "Große Koalition"; 5. Die Entwicklung Helmut Schmidts bis zur Bildung der Großen Koalition. III. Das Machtgeflecht: 1. Partei und Fraktion; 2. Im Amt des Fraktionsvorsitzenden; 3. Der Kreßbronner Kreis. IV. Die Suche nach dem Kompromiß: 1. Die geplante Reform des Wahlrechts; 2. Mitbestimmung; 3. Notstandsgesetzgebung. V. Die Reformen der Großen Koalition - Kompromisse schaffen Ergebnisse: 1. Die Wirtschafts- und Finanzpolitik; 2. Die Sozial- und Innenpolitik; 3. Die Außen-, Sicherheits- und Deutschlandpolitik. VI. Große Koalition ohne Ende? Parlamentarische Funktionsfähigkeit einer großen Koalition: 1. Legitimation des Koalitionsbündnisses; 2. Der Bundestag als Kontrollorgan der Regierung; 3. Konflikte und Krise der Regierung Kiesinger/Brandt; 4. Wahl des Bundespräsidenten und des Bundestagspräsidenten; 5. Wahlkampf und Bundestagswahl 1969. VII. Fazit: 1. Die Große Koalition - Mehr als ein Übergangsphänomen?; 2. Die Lehre vom Kompromiß - Stabilität trotz Großer Koalition; 3. Die heimliche Regierung - Rainer Barzel und Helmut Schmidt; 4. Helmut Schmidt - Vom Experten zum Kanzlerkandidaten.
Leslie Piert (LP)
Rubrizierung: 2.331 | 2.313 | 2.3 | 2.322
Empfohlene Zitierweise: Leslie Piert, Rezension zu: Andrea H. Schneider: Die Kunst des Kompromisses: Helmut Schmidt und die Große Koalition 1966-1969 Paderborn u. a.: 1999, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/8518-die-kunst-des-kompromisses-helmut-schmidt-und-die-grosse-koalition-1966-1969_11219, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 11219
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