/ 11.06.2013
Dominic Kohnen
Die Zukunft des Gesetzesvorbehalts in der Europäischen Union. Zur Rolle des Bundestages in den Angelegenheiten der Europäischen Union
Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1998 (Nomos Universitätsschriften: Recht 257); 193 S.; brosch., 69,- DM; ISBN 3-7890-4832-1Rechtswiss. Diss. Jena; Gutachter: P. Huber. - Kohnen zeigt, dass die Europäische Union (EU), in der Primär- und Sekundärrecht im Wesentlichen durch die im Rat versammelten Vertreter der Regierungen gesetzt wird, bereits so viele Rechtssetzungskompetenzen an sich gezogen hat, dass der Bundestag seine ihm vom Grundgesetz zugewiesene Gesetzgebungsrolle in vielen Bereichen nicht mehr ausfüllen kann. Wenn aber der Bundestag im europäischen Rechtssetzungsprozess zugunsten eines "weitreichenden Exekutivvorbehalts" (66) an Gewicht verliert und damit auch das innerdeutsche Kompetenzgefüge zugunsten der Exekutive verschoben wird, dann fragt sich, ob dies noch dem - durch die Ewigkeitsgarantie des Art. 79 Abs. 3 GG geschützten - Prinzip vom allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes genügt.
Kohnen konstatiert eine wachsende Bedeutung des demokratisch motivierten Parlamentsvorbehalts (im Vergleich zum Freiheit und Eigentum sichernden klassisch-rechtsstaatlichen Eingriffsvorbehalt). Im Bereich der Auswärtigen Gewalt gelte: Je mehr außenpolitisches Handeln der Exekutive "in seinen Auswirkungen wie staatliches Handeln in der Innensphäre wirkt, desto größer muß die Intensität parlamentarischer Absicherung sein" (44).
Die inhaltliche Mitwirkung des Bundestages an der Setzung europäischen Primärrechts durch Verabschiedung eines Übertragungsgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 GG muss laut Kohnen weit über das bloße Vetorecht, das Art. 59 Abs. 2 GG bei Zustimmungsgesetzen zu gewöhnlichen völkerrechtlichen Verträgen gewährt, hinausgehen. Art und Umfang der geforderten Gestaltungsmöglichkeiten des Bundestages bei europäischen Vertragsverhandlungen bleiben indes unkonkret: "Dieses Ergebnis mag zwar unpraktikabel erscheinen. Es ist indes verfassungsrechtlich grundgelegt, so daß Praktikabilitätserwägungen nur eine marginale Rolle spielen dürfen." (111) Für Kohnen "ist es jedoch der Bundestag selbst, der über das Ausmaß seiner Entmachtung durch die europäische Sekundärrechtssetzung befindet" (180). "Je eher sich nämlich das Übertragungsgesetz als parlamentsbestimmt herausstellt, desto weniger hohe Anforderungen sind an die Beteiligung des Bundestages im Prozeß europäischer Rechtssetzung zu stellen." (126) Grenze dieser Selbstentmachtung sei nur eine völlige Entstaatlichung des Grundgesetzes oder die Duldung einer europäischen Kompetenz-Kompetenz. Das Europäische Parlament könne das aufgrund der exekutivischen Rechtssetzung vorhandene Demokratiedefizit kaum lindern: Skepsis gegenüber der Tiefe seiner demokratischen Legitimation aufgrund des Fehlens z. B. einer europäischen Öffentlichkeit und Meinungsbildung sei angebracht. Eine vollständige Aufgabe des Parlamentsvorbehaltes zugunsten eines entsprechend demokratisierten Europäischen Parlaments sei aber ohnehin nicht zulässig; eine derartige Entstaatlichung verbiete Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlich. Träger der Hoheitsgewalt könnten allein die Staatsvölker der Mitgliedstaaten sein; der Rat mit den durch die jeweiligen nationalen Parlamente kontrollierten Regierungsvertretern "muß daher - wie bislang - das Hauptrechtssetzungsorgan der Union sein" (154).
Für Kohnen zwingt der Gesetzesvorbehalt die deutschen Vertreter im Rat bei der europäischen Sekundärrechtssetzung, entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip - welches im Sinne des nationalen Parlamentsvorbehaltes wirke - eher Richtlinien als Verordnungen zu fördern, und diese auch wenig eng auszugestalten. Falls sich im Rat eine Mehrheitsentscheidung abzeichnet, die einem geäußerten Wunsch des Bundestages widerspricht, sieht Kohnen für den deutschen Vertreter im Rat eine "Verfassungspflicht" (181), sich auf den Luxemburger Kompromiss zu berufen und damit die Entscheidung zu blockieren.
Konkret fordert der Autor eine verbesserte Geschäftsordnung des Bundestages, die dem Ausschuss für Angelegenheiten der EU verstärktes Gewicht gegenüber den Fachausschüssen gibt. In seiner Gesamtbewertung bewegt sich Kohnen trotz kritischer Ansätze aber im Bereich der affirmativen herrschenden Meinung, wie sie im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichtes artikuliert wurde. Neben der rechtswissenschaftlichen Erforschung der politisch hochinteressanten Kernfrage bietet der gut lesbare Band nützliche Zusammenfassungen der einschlägigen staats- und europarechtlichen Grundlagen.
Inhaltsübersicht: 1. Das Verfassungsprinzip vom Vorbehalt des Gesetzes: I. Die Stellung des Bundestages im Gefüge der Verfassung; II. Funktionen des Bundestages; III. Gesetzgebungsfunktion und Vorbehalt des Gesetzes; IV. Der Vorbehalt des Gesetzes in auswärtigen Angelegenheiten. 2. Bundestag und Europäische Integration: I. Die Verlagerung von Parlamentskompetenzen auf die Exekutive im Zuge der Europäischen Integration; II. Integrationsgewalt des Parlaments als Ausgleich für die Kompetenzeinbußen; III. Das Ausmaß der Modifikation des Vorbehaltsprinzips im Zuge der Europäischen Integration. 3. Der Vorbehalt des Gesetzes als Maßstab europäischer Rechtssetzung: I. Die offene Staatlichkeit des Grundgesetzes; II. Die verhältnismäßige Zuordnung der Verfassungsprinzipien.
Andreas Beckmann (AB)
M. A., Doktorand, Institut für Sozialwissenschaften, Bereich Politikwissenschaft, Universität Kiel.
Rubrizierung: 2.321 | 3.7
Empfohlene Zitierweise: Andreas Beckmann, Rezension zu: Dominic Kohnen: Die Zukunft des Gesetzesvorbehalts in der Europäischen Union. Baden-Baden: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/11618-die-zukunft-des-gesetzesvorbehalts-in-der-europaeischen-union_13814, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 13814
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M. A., Doktorand, Institut für Sozialwissenschaften, Bereich Politikwissenschaft, Universität Kiel.
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