Martin W. Schnell / Christine Dunger (Hrsg.): Digitalisierung der Lebenswelt. Studien zur Krisis nach Husserl
Manche Debatten über die Folgen der Digitalisierung vermitteln den Eindruck, in der sich abzeichnenden algorithmisch gesteuerten Gesellschaft sei kein Platz mehr für die Idee eines humanistischen Subjekts als primärer Quelle sozialer Ordnung. Von derartigen posthumanistischen Deutungsangeboten unterscheiden sich die Beiträge dieses Sammelbandes deutlich, schreibt Rezensent Thomas Mirbach. Zwar werde Digitalisierung nicht als Prozess beschrieben, der von einer Pro-oder-Contra-Entscheidung abhängt, aber der Umgang mit ihr sollte nicht als Anpassung an die durch die Digitalisierungslogik vorgegebenen Bedingungen erfolgen.
Zur Diskussion höchst unterschiedlicher Aspekte der Digitalisierung haben die Autor*innen des Sammelbandes mit Edmund Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“ eine sehr anspruchsvolle Referenz der neueren Philosophiegeschichte gewählt. Husserls Studien – entstanden in den 1930er-Jahren – zielten auf eine Rehabilitierung der (phänomenologischen) Philosophie gegenüber dem Rationalitätsanspruch der sogenannten exakten, maßgeblich auf Mathematisierung und Quantifizierungen beruhenden (Natur-)Wissenschaften. Dabei spielten die Begriffe Lebenswelt und Technisierung eine wesentliche Rolle. Vereinfacht gesprochen ist mit Lebenswelt der immer schon gegebene Horizont aller Sinnbildungen gemeint, an dem wir uns in unseren Handlungen und Kommunikationen wie selbstverständlich orientieren. Technisierung steht dann für einen Vorgang, in dem die methodischen Operationen der modernen Naturwissenschaften einen eigenständigen Realitätsgehalt gegenüber und schließlich auch auf Kosten der Lebenswelt beanspruchen und so zu deren Sinnentleerung beitragen (Husserl 1969, 45 f.).
Die Husserl‘sche Problemstellung von Lebenswelt und Technisierung ist in der Sozialphilosophie breit und kontrovers diskutiert worden (vgl. Blumenberg 1981, Habermas 1991, 34 ff., Luhmann 2017, 600 ff.). Der im Rahmen eines Projektes des Lehrstuhls für Sozialphilosophie und Ethik der Fakultät für Kulturreflexion an der Universität Witten/Herdecke entstandene Sammelband schließt daran an und versteht Digitalisierung als „die mit einer Automatisierung verbundene Transformation der Welt in quantifizierbare Daten“, die zugleich als Veränderung des menschlichen Weltverhältnisses auch einen „Angriff auf die Materialität der Lebenswelt“ darstellt (13 f.). Dieser „Angriff“ wird von dem Herausgeberduo Martin W. Schnell und Christine Dunger in seinen Effekten als ambivalenter Prozess gesehen, der neue Handlungsspielräume eröffnet und zugleich umfassende, medial vermittelte Kontrollmöglichkeiten erzeugt. Anhand der unterschiedlichen Themen, die die Autor*innen diskutieren, sollen beispielhafte Muster der Digitalisierung mit Blick auf „ihre lebensweltliche Konkretion“ befragt werden (15).
Jens Lanfer beschreibt im Kontext sicherheitspolitischer Fragen die Herausbildung von Zügen einer digitalen Lebenswelt, mit der sich die individuellen Erwartungen einer Gewährleistung von Freiheit beziehungsweise Sicherheit markant verschieben. Angesichts der Dominanz weniger großer Unternehmen im digitalen Raum bestehen für die Nutzer*innen faktisch nur wenige Chancen, der wirtschaftlich motivierten Überwachung zu entgehen. Diese Einschränkung negativer Freiheit – nämlich der Schutz vor fremder Kontrolle – scheint auf Seiten der Nutzer*innen durch Gewinne an positiver Freiheit in Gestalt einer Beteiligung an digitaler Interaktion kompensiert zu werden. Dirk Baecker entwirft in einer knappen Skizze die Vision, Digitalisierung könne die Chance eröffnen, den Kapitalismus mit seinen eigenen Mitteln zu überwinden. Er schlägt dafür eine andere Lesart der Kapitalrechnung von Soll und Haben vor, die – auf Basis der durch die Digitalisierung ermöglichten Netzwerke – die bisher dominante Rolle des Geldmediums abschwächt und stattdessen das Bild einer nachhaltigen Gesellschaft entwirft, „in der nicht nur monetär, sondern sozial, kulturell und ökologisch Soll und Haben verrechnet werden können“ (88).
Sehr detailliert beschreibt Stephan Keuschel, wie weit heute schon die Verwendung von Geodaten, mobilen Navigationsgeräten und Smartphone-Applikationen im Alltag von Verkehrsteilnehmer*innen selbstverständlich geworden ist. Derzeit ist eine offene Frage, ob damit und mit dem anstehenden Ausbau automatisierter Fahrzeugsysteme eine Entlastung der Verkehrssituation erreicht werden kann. Mit Blick auf die Dynamik der Digitalisierung zeichnet Gabriele Gramelsberger ein nahezu zu dystopisch zu nennendes Bild künftiger Entwicklungen. Führt man sich die markanten Leistungen bisheriger Digitalisierung – in der Prognostik wie in der Artefaktkultur, in der Automatisierung von Bewegungen und Wahrnehmungen – vor Augen, dann gehört es zur Logik dieser Prozesse, uns Handlungsspielräume systematisch zu entziehen und sie an Algorithmen zu delegieren. Unter Bezug auf Plessner und Luhmann entwickelt Manuela Pietraß Überlegungen zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf die Bildung; versteht man Bildung als „ein Vorgreifendes auf etwas, das nicht ist, aber wird“ (149), dann werden die Selektionsleistungen, die die Digitalisierung stets implizit vollzieht, zum Problem, sofern sie nicht mehr als bestreitbare Entscheidungen erkennbar sind.
Mit einem spezifischen digitalen Milieu – der Nutzung der E-Book-Plattform Wattpad – befasst sich Julia Genz. Sie sieht darin ein Publikationsorgan überwiegend für eine sehr junge Generation, das auf einer medial und sozial niedrigschwelligen Zugänglichkeit zur Literatur beruht und – als Teil einer „to go-Kultur“ – ein Schreiben fördert, das leicht produzierbar und konsumierbar ist (153 ff.). Ebenso für eher junge Internet-Nutzer*innen bietet die App Tinder eine verbreitete Form des Online-Dating. Auf Basis von Interviews mit einer kleinen Zahl von Nutzer*innen gelangt Bernhard Schaefermeyer zu einer eher ambivalenten Einschätzung der Effekte dieser auf Quantifizierung beruhenden Erotikkommunikation, die die Flexibilität der Partnersuche um den Preis von Oberflächlichkeit erhöht.
Mit Blick auf die Ausbreitung digitalisierter Verfahren im Gesundheitswesen heben zwei Beiträge die Bedeutung ethischer Reflexionen hervor. Martin W. Schnell konzentriert sich dabei auf die Implikationen digitaler Gesundheitskommunikationen für das Interaktionsgeschehen zwischen Helfern und hilfesuchenden Personen. Zwar verspricht Digitalisierung – wie beispielsweise onlinebasiertes Schmerzmonitoring – Effizienzgewinne in der Gesundheitsversorgung, aber durch die Reduktion auf die Übermittlung quantifizierter Daten führt sie zu einer „halbierte[n] Humanität, die nur die regel- und technikförmige Seite menschlicher Kommunikation fördert“ und alle Besonderheiten ausblendet, die die Fürsorge für eine anwesende Person ausmacht. Mit dem Einsatz von Assistenzrobotern in der häuslichen Pflege wählt Alexander Hochmuth einen engeren Fokus des Themas. Aus Sicht eines Care-Ethik-Ansatzes ist körperbezogene Pflegearbeit immer in von Achtsamkeit geprägte kommunikative Bezüge eingebettet, die Assistenzroboter nur ergänzen, nicht aber ersetzen können.
Fazit
Theoretisch besonders ambitionierte Debatten über die Folgen der Digitalisierung vermitteln zuweilen den Eindruck, in der sich abzeichnenden algorithmisch gesteuerten Gesellschaft sei eigentlich kein Platz mehr für die Idee eines humanistischen Subjekts als primärer Quelle sozialer Ordnung (vgl. Bock/Dickel 2020). Von derartigen posthumanistischen Deutungsangeboten, die sich von normativen Prämissen subjektiver Autonomie verabschiedet haben, unterscheiden sich die Beiträge dieses Sammelbandes deutlich, auch wenn der Bezug zur Husserl‘schen Diagnose einer fortschreitenden Technisierung der Lebenswelt zuweilen nur punktuell hergestellt wird. Zwar wird Digitalisierung nicht als Prozess beschrieben, der von einer Pro-oder-Contra-Entscheidung abhinge, aber der Umgang mit ihr – so die Mehrheit der Autorinnen und Autoren – sollte nicht als Anpassung an die durch die Digitalisierungslogik vorgegebenen Bedingungen erfolgen.
Literatur
Block, Katharina / Sascha Dickel (2020): Jenseits der Autonomie. Die De/Problematisierung des Subjekts in Zeiten der Digitalisierung. In: Behemoth. A Journal on Civilisation. Volume 13, Issue No. 1, S. 109-131
Blumenberg, Hans (1981): Wirklichkeiten, in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede. Stuttgart Reclam
Habermas, Jürgen (1991): Texte und Kontexte. Frankfurt a. Main Suhrkamp.
Husserl, Edmund (1969): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie. Herausgegeben von Walter Biemel. Haag Martinus Nijhoff 1969
Luhmann, Niklas (2017): Systemtheorie der Gesellschaft. Herausgegeben von Johannes F. K. Schmidt und André Kieserling. Berlin Suhrkamp
Schnell, Martin W. / Christine Dunger (2019): Digitalisierung der Lebenswelt. Studien zur Krisis nach Husserl. Weilerswist Velbrück Wissenschaft
Demokratie und Frieden
Sammelrezension
Die Digitalisierung des Kapitalismus. Wie die digitale Transformation Ökonomie und Gesellschaft verändert
Obwohl die Digitalisierung einen starken Veränderungsdruck auf alle Lebensbereiche ausübt, scheint das individuelle wie gesellschaftliche Bewusstsein darüber, dass Demokratie und Rechtsstaatlichkeit ebenso wie die persönliche Freiheit potenziell hochgradig bedroht sind, zu fehlen. In ihren Büchern „Das Kapitel sind wir“ und „Die smarte Diktatur“ diskutieren Timo Daum und Harald Welzer jeweils diese sich gerade etablierende digitale Ökonomie, die eben nicht einfach nur eine Fortsetzung des bekannten Kapitalismus darstellt, sondern weitaus umfassender wirkt. Ihre Bücher machen zugleich aber auch sichtbar, wie schwierig die Formulierung eines Gegenentwurfs zu dieser Entwicklung ist.
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