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Rezension / 31.05.2024

Ian Shapiro: Uncommon Sense

New Haven, Yale University Press 2024

Der Politikwissenschaftler Ian Shapiro geht den Fragen nach, welche Gründe für die zunehmende Entfremdung von der Demokratie verantwortlich sind und inwieweit sich die demokratischen Staaten von den Idealen der Aufklärung entfernt haben. Seine Argumentation läuft auf die Frage hinaus, in welchem politischen System Domination („Beherrschung“) am besten verhindert werden kann. Dabei verwirft er unterschiedliche demokratietheoretische Ansätze und plädiert für eine parlamentarische Demokratie mit einem starken Zweiparteiensystem. Rezensent Max Lüggert findet zwar viel Reflexionsstoff, hält die Argumentation Shapiros aber nicht für vollends schlüssig.

Freiheitlich-demokratisch verfasste Staaten stehen schon seit einigen Jahren von verschiedenen Seiten unter Druck. Neben der systemischen Konkurrenz, wie sie beispielsweise durch China oder Russland ausgeübt wird, stellen die Unzufriedenheit weiter Bevölkerungsteile und der daraus resultierende Zuspruch für populistische Bewegungen eine innere Herausforderung dar. Ian Shapiro versucht mit seinem neuen Buch zu erklären, welche Gründe es für diese zunehmende innere Entfremdung von der Demokratie gibt, an welchen Stellen sich etablierte demokratische Staaten von ihren aufklärerischen Idealen entfernt haben und welche Gegenmaßnahmen denkbar sind. Mit seinem Titel erweist Shapiro zudem eine Reminiszenz an das 1776 veröffentlichte Pamphlet „Common Sense“, in dem der amerikanische Staatsmann Thomas Paine eine für breite Bevölkerungsschichten zugängliche Argumentation für die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von der britischen Krone vortrug – ein ambitionierter Vergleich, wenn man sich die Tragweite von Paines Text vergegenwärtigt.

Shapiro führt einleitend aus, was aus seiner Sicht die maßgebliche Errungenschaft des Zeitalters der Aufklärung ist; nämlich auf ein politisches Arrangement hinzuwirken, in dem systematische Domination (Beherrschung) so weit wie möglich ausgeschlossen ist. Diese Domination besteht für den Autor immer dann, wenn persönliche Freiheit aufgrund menschlichen Handelns eingeschränkt ist, wenn (politische) Macht ungerechtfertigt missbraucht wird, wenn die Ursache dafür in kollektiven Strukturen liegt und wenn dieser Zustand grundsätzlich geändert werden kann. Die Vermeidung von Domination ist für Shapiro das vornehmliche Ziel demokratischer Politik, dementsprechend ist dieses Ziel die Grundlage der Argumente im weiteren Verlauf des Buches, in dem sowohl philosophische Grundlagen wie auch politische Praxis näher betrachtet werden.

Die Idee von Gerechtigkeit ist für den Autor eng mit der Vermeidung von Domination verknüpft, weshalb es nicht wundert, dass Autoren wie Amartya Sen oder John Rawls rezitiert werden, die grundlegende Theorien zum Thema Gerechtigkeit vorgelegt haben. Aus dem Werk von Sen wird als zentraler Bestandteil von Gerechtigkeit erwähnt, dass Menschen in der Lage sein sollten, ihre persönlichen Fähigkeiten und Potentiale voll entfalten zu können. Wenn man bedenkt, dass die Chancen dazu nicht gleich verteilt sind, landet man bei den Überlegungen von Rawls, der sich in seinen Schriften unter anderem mit der Verteilung von Chancen befasst hat und der feststellt, dass Chancen unterschiedlich verteilt sein dürfen, dass jedoch jede dieser Verteilungen eine eigene Rechtfertigung erfordert. Shapiro gibt ein Beispiel, das die von Sen und Rawls angesprochenen Punkte miteinander verbindet, nämlich die schrittweise Abschaffung der Sklaverei während des 19. Jahrhunderts. Daran zeigt Shapiro auf, wie ungerechtfertigte Domination auf politischem Wege überwunden werden kann. Der Vollständigkeit halber erwähnt er allerdings auch, dass sich dieser historische Schritt nicht von allein eingestellt hat – gleichsam aus einem automatisch in Richtung Vernunft voranschreitenden Verlauf der Geschichte – sondern, dass es hierfür nötig war, die Abschaffung der Sklaverei als ein explizites Ziel zu formulieren, entlang dessen politische und gesellschaftliche Mehrheiten mobilisiert werden konnten.

Ausgehend von der grundsätzlichen Zielsetzung, Domination zu vermeiden, widmet sich Shapiro der Frage, in welchem politischen System dies am besten gelingen kann. Dabei spricht sich Shapiro klar für ein parlamentarisches System aus, in dem sich zwei starke Parteien gegenüberstehen. Diese Position begründet er vor allem dadurch, indem er im weiteren Verlauf des Buches andere denkbare Arrangements kritisch betrachtet. Einerseits geht er auf theoretische Überlegungen wie die durch Jürgen Habermas geprägten Ausführungen zur deliberativen Demokratie ein. Dabei stimmt Shapiro der Ansicht von Habermas zu, dass politische Maßnahmen dann als legitim angesehen werden können, wenn sich Personen ohne Zwang auf sie einigen; dafür müssen Personen aber über genügend Einsicht verfügen, und Shapiro ist nicht so optimistisch, dass diese Einsicht bei allen Personen vorausgesetzt werden könne. Des Weiteren beruft sich Shapiro auf die Überlegungen von Philip Pettit, der davon ausgeht, dass progressive Politik dann ermöglicht werden kann, wenn soziale Bewegungen in den demokratischen Prozess einbezogen werden. Hier erwähnt Shapiro als Gegenbeispiel die Tea-Party-Bewegung, die sich als soziale Bewegung gegen die Präsidentschaft von Barack Obama formiert hatte und als Wegbereiter der populistischen Wende der Republikanischen Partei in Richtung der Präsidentschaft von Donald Trump verstanden werden kann.

Ebenfalls skeptisch zeigt sich der Autor gegenüber der Übertragung politischer Befugnisse an unparteiische Institutionen, die über keine direkte Kopplung mit gewählten Amts- und Mandatsträger*innen in Parlamenten oder Regierungen verfügen. Für ihn ist dies unter anderem in einer verklärenden Sichtweise auf den Obersten Gerichtshof der Vereinigten Staaten während des Vorsitzes von Earl Warren begründet, in dessen Amtszeit viele Grundsatzurteile fielen, mit denen die Bürgerrechtsbewegung der 1950er- und 1960er-Jahre gestärkt wurde. Shapiro zeigt auf, dass die eher liberale Rechtsprechung dieser Zeit in der juristischen Geschichte der Vereinigten Staaten eine Ausnahme darstellt. Parallel dazu schildert er schlüssig, dass in der Bestellung der Richter*innenposten am Obersten Gerichtshof auf Lebenszeit ein Problem besteht, weil die Verteilung politischer Gewalt somit teilweise dem demokratischen Wettbewerb entzogen ist.

Der Autor befasst sich auch mit Public-Choice-Theorien, die ab den 1990er-Jahren stärker rezipiert wurden und aus seiner Sicht die Stärkung der Exekutive befürworten, weil dadurch demokratische Systeme stärker vor vermeintlich irrationalen Parlamenten geschützt werden können. Konkret wird dabei Francis Fukuyama zitiert, der argumentiert, dass Parlamente leicht durch Interessengruppen beeinflusst werden können, und daher der Einfluss der Exekutive gestärkt werden sollte. Shapiro überzeugt dieses Argument nicht; so merkt er an, dass Regierungsbehörden ebenso gut dem Einfluss von Interessengruppen unterliegen können, zudem könne eine Stärkung von Staatsoberhäuptern mit Regierungsverantwortung eine Personalisierung von Politik befördern, die populistische Tendenzen verstärken kann.

Ein Transfer politischer Verantwortung in die andere Richtung, nämlich an das Volk durch Mittel der direkten Demokratie, ist aus Shapiros Sicht ebenfalls nicht zielführend. Mittels Referenden sei es der abstimmenden Bevölkerung zwar möglich, abschließend zu einem bestimmten politischen Thema Stellung zu nehmen; allerdings könne dabei die Berücksichtigung politischer Wechselwirkungen zu kurz kommen. Hier wird konkret der Brexit als deutliches Beispiel dafür genannt, wie im Rahmen von Referenden politische Mobilisierung entlang von einzelnen politischen Themen stattfinden könne, ohne weitere Konsequenzen zu betrachten.

Auch wenn Shapiro parlamentarischen Systemen das Wort redet, äußert er auch hier Skepsis gegenüber Koalitionsregierungen, die sich aus mehreren Parteien zusammensetzen. In solchen Konstellationen könnten Parteien ihre eigene Rechenschaft für mögliche politische Probleme abstreiten, indem sie anderen Parteien die Schuld zuweisen. Beim Blick auf das Verhalten der derzeitigen Ampelkoalition auf Bundesebene mag dieses Argument überzeugen, die pauschale Kritik an Mehrparteiensystemen übersieht jedoch, dass in den Niederlanden, der Schweiz sowie in Skandinavien Koalitionsregierungen (und manchmal sogar Minderheitsregierungen) seit Jahrzehnten die dortige politische Kultur prägen, ohne dass man diesen Ländern spezifische Probleme attestieren würde, die in Staaten mit einem Zweiparteiensystem so nicht bestünden.

Shapiro argumentiert in diesem Zusammenhang weiter, dass in zwei gegenüberstehenden großen Parteien die Art von Koalitionsfindung im Inneren stattfinden würde, die ansonsten zwischen verschiedenen Parteien geschehe und dass diese Parteien versuchten, in Richtung der politischen Mitte zu streben, um eine möglichst breite Wählerbasis zu erreichen. Die aktuelle Entwicklung in den Vereinigten Staaten liefert auch hier ein gutes Gegenbeispiel. Im Vorlauf zu den anstehenden Präsidentschaftswahlen zeigt sich besonders bei der Republikanischen – und in geringerem Maße auch bei der Demokratischen Partei – eine thematische Engführung. So werden beide Parteien nur auf die Unterstützung der Kandidaten für das Weiße Haus ausgerichtet, während abweichende Meinungen innerhalb beider Parteien immer weniger Gehör finden. Aus diesem Grund misslingt auch die Ausrichtung entlang der politischen Mitte, was sich in aktuellen Umfragen spiegelt, denen zufolge viele Wahlberechtigte weder von Joe Biden noch von Donald Trump als Kandidat überzeugt sind. Und selbst, wenn die Annäherung zweier großer Parteien in Richtung politischer Mitte gelingen sollte, besteht dabei die Gefahr, dass sich diese Parteien inhaltlich stark angleichen. Diese Situation entspricht der Situation, wie sie Colin Crouch in seiner Postdemokratie-Theorie ausgeführt hat – ein legitimer Einwand, auf den Shapiro kaum eingeht.

Betrachtet man eine Situation extremer politischer Polarisierung, so stellt sich die Frage, wie eine solche Konfrontation aufgelöst werden kann. Hier verweist der Autor auf drei Beispiele, nämlich den Nahostkonflikt, die Überwindung der Apartheid in Südafrika und das Karfreitagsabkommen zur Beendigung des Bürgerkriegs in Nordirland. Für alle Fallbeispiele führt er den Begriff des „strategisch hoffnungsvollen Handelns“ (236) ein. Dieser Begriff beschreibt Entscheidungen, die auf die Lösung eines Konflikts hinwirken sollen, die für politisch Verantwortliche auf beiden Seiten mit gemeinsamen Risiken verbunden sind, die aber von der Überzeugung getrieben sind, dass beide Seiten profitieren können, wenn ein Konflikt beigelegt wird. Einige Gemeinsamkeiten werden in allen Fallbeispielen sichtbar, nämlich die Fähigkeit politisch Verantwortlicher, gleichzeitig die Glaubwürdigkeit in ihrer eigenen Gruppe und bei ihren politischen Gegnern zu bewahren. Eine Lösung solcher Konflikte sei letztlich nicht ohne einen Vertrauensvorschuss auf beiden Seiten und auch nicht ohne ein gewisses Glück in der Nutzung historischer Chancen denkbar: Ein Grund, weshalb die Apartheid in Südafrika nicht mehr besteht, aber andererseits der Konflikt zwischen Israel und Palästina weiterhin ungelöst ist. Nichtsdestotrotz sieht Shapiro politische Anführer*innen in der Verantwortung und schließt mit einem klaren Plädoyer in diese Richtung: „Politische Führer, die sich weigern, Risiken einzugehen, um schwelende Konflikte zu lösen, erhöhen somit die Kosten und Gefahren, die jemand anderes, irgendwo anders, irgendwann in der Zukunft tragen muss“ (269).

Shapiro setzt mit seinem Buch ein klares Statement für die repräsentative, parlamentarische Demokratie. Er verweist auf die philosophischen Grundlagen ihrer Entstehung und äußert Bedenken, dass dieses System derzeit unter Druck steht. Seine Argumentation weiß allerdings nicht vollends zu überzeugen. Der Lösungsvorschlag in Form einer parlamentarischen Demokratie mit einem starken Zweiparteiensystem ist nicht ohne Einwände, wird aber von Shapiro weitgehend unkritisch vorgetragen. Zudem wird an einigen Stellen im Buch angedeutet, dass die aktuelle Unzufriedenheit mit Demokratie auch mit der ungleichen Verteilung von Vermögen und somit Lebenschancen einhergehe. Shapiro erwähnt zwar, dass es reichen Personen zunehmen gelinge, politische Prozesse in ihrem Sinne zu beeinflussen; dass auf konkrete Maßnahmen gegen diese Entwicklung im Buch praktisch nicht eingegangen wird, ist allerdings eine vertane Chance. Das Werk besteht aus vielen Argumenten, die zur Reflexion einladen, als bündig und schlüssig vorgetragene Verteidigung der Demokratie taugt es jedoch nicht ganz.

 

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