Mathias Bölinger: Der Hightech-Gulag. Chinas Verbrechen gegen die Uiguren
Mathias Bölinger berichtet über die Situation der uighurischen Bevölkerung in Xinjiang. Für unseren Rezensenten handelt es sich um ein eindrückliches Buch, dem es auch aufgrund der Schilderung von Betroffenen gelinge, die digitale Überwachung in der Öffentlichkeit und die kulturelle „Zerstörung“ ebenso zu vermitteln wie die in den Umerziehungslagern ausgeübte psychische und körperliche Unterdrückung. Das Ausmaß der Repressionen erfüllt laut Bölinger den Tatbestand des Genozids. Die technische Dimension der Lager werde hier jedoch nicht vertieft behandelt, obwohl der Buchtitel dies nahelegen könnte.
Eine Rezension von Christoph Nuschko
Menschenrechtsverletzungen, kultureller Genozid[1], erzwungene Assimilation und Umerziehungslager. Über die Situation der Uiguren in der chinesischen Region Xinjiang ist bereits vieles durch investigativen Journalismus in der Öffentlichkeit bekannt geworden. Jedoch liegt ein dunkler Schleier auf allen Hinweisen und der wirklichen Situation in der Region – getragen durch eingeschränkte Meinungsfreiheit, strenge Zensur und Kontrolle der Medien durch die Zentralregierung.
In seinem Buch „Der Hightech Gulag – Chinas Verbrechen gegen die Uiguren“ schafft es Mathias Bölinger durch diesen Schleier und vermittelt einen aussagekräftigen Überblick über die tatsächliche Situation. Dies gelingt ihm besonders, indem er vorhandene Informationen und Dokumente auswertet, kontextualisiert und durch Interviews ergänzt. Die befragten Personen geben Einblick in die Geschehnisse, mit denen sich die muslimischen Minderheiten konfrontiert sehen.
Muslimische Geschichte in Xinjiang
Es sind Kasach*innen, Kirgis*innen, Hui-Chines*innen, Muslim*innen weiterer Ethnien, aber besonders Uigur*innen, die im Zentrum der Repressionen in Xinjiang und Bölingers Buch über die Verbrechen Chinas gegen die uighurische Bevölkerung stehen. Zur Einordnung der heutigen Situation der Uiguren und des von China erhobenen Anspruchs auf Besitz und Kontrolle der Region wird die Geschichte der Bevölkerung „Turkestans“ dargestellt, in dessen Ostteil sich erst spät die Idee des Volks der Uiguren herausgebildet habe. Dieser Einblick in die jahrhundertalte Vorgeschichte der Uiguren zeigt verschiedene Herrschaften, Einflüsse sowie kulturelle Traditionen, die in Xinjiang wirkten und bis heute ihre Spuren hinterlassen haben. Dies ist besonders deshalb relevant, weil der Autor den historischen Hintergrund der Ansprüche der Volksrepublik Chinas und die damit verbundene Frage von Legitimität beleuchtet.
So konnte China bereits während der Herrschaft der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.) sowie im siebten und achten Jahrhundert Gebiete dieser Region erobern, als dort noch die Vorfahren der heutigen Turkvölker lebten (38). Während kurze Herrschaftsphasen chinesischer Machthaber die Legitimität Chinas in der Region unterstreichen sollen, wird von Bölinger besonders auch die Zeit beschrieben, in der China für fast 1.000 Jahre keine Herrschaft ausübte und andere Volksgruppen die Geschicke der Region kontrollierten. So vollzog sich in dieser Zeit die Islamisierung der verschiedenen Turkvölker, was die heutige chinesische Führung mit zahlreichen Maßnahmen aus der Region austreiben möchte. Im 18. Jahrhundert geschah laut Bölinger der erste Völkermord Chinas, begangen am mongolischen Stamm der Dsungaren, als alle männlichen Personen ermordet und die weiblichen Stammesmitglieder versklavt wurden (43). Die Frage des Völkermords diskutiert der Autor auch auf die heutige Situation bezogen, aber dazu später mehr.
Nach einer langen Periode in Zentralasien, als man sich eher als Bewohner*in einer Stadt oder Sprecher*in einer Sprache identifizierte, habe man – gefördert durch Russland – allmählich damit begonnen, sich als Ethnie zu identifizieren (52). Dies mündete 1933 in dem Versuch, einen eigenen Staat, die „Republik Ost-Turkestan“, unter Führung der turksprachigen Bevölkerung zu gründen. Niedergeschlagen durch einen regionalen Hui-chinesischen Warlord endete die Republik nach nur drei Monaten und die Machtstruktur in der Region änderte sich erneut. In ganz China habe sich ein Spannungsverhältnis zwischen der Vorstellung eines chinesischen Volkes mit verschiedenen Ethnien sowie der eines Han-Volkes gebildet, das seine Vorherrschaft sichern müsse.
Radikalisiertes Misstrauen gegenüber den Turkvölkern Westchinas
Diese beiden Ideen spielen laut Bölinger seit der Gründung der Volksrepublik China eine Rolle in der Politik der kommunistischen Führung, obwohl die Vorherrschaft der Han-Chinesen seit der Regierungszeit Maos eine immer dominantere Stellung einnimmt (73, 130). Die Zusammenhänge zwischen den Geschehnissen in der Volksrepublik China und der Welt werden im Buch immer wieder in den Kontext der Region Xinjiang gesetzt: die Kulturrevolution, islamistische Anschläge in der Welt und eine Gewaltwelle in Xinjiang sowie besonders die Zeit nach 9/11. All die Konflikte zwischen der Regionalbevölkerung und den die Mehrheit bildenden Han-Chines*innen, die auch in Gewalt ausarteten, hätten bis heute dazu geführt, dass sich die kommunistische Parteiführung dazu gezwungen gesehen habe, ihre Vormachtstellung in der Nationalitätenfamilie Chinas mit Mitteln der Unterdrückung durchzusetzen. Die lang aufgebaute und Anfang des 20. Jahrhunderts gefundene Identität der Uiguren werde durch den Abbau von uighurischen Denkmälern und Mausoleen uighurischer Herrscher zerstört. Die Zerstörung der Kultur zeichne sich heute auch besonders durch das Unterbinden der Religionsausübung der muslimischen Bevölkerung und der Manifestierung von Mandarin als vereinheitlichende Sprache aus.
Genozid an der muslimischen Bevölkerung
Die schnell und unorganisiert aufgebauten Umerziehungslager zeugten wenig von einer lang geplanten Aktion, aber die in den Schul- und Verwaltungsbauten errichteten Lager nähmen an Radikalität schnell zu und in den Bedingungen rasch ab. Nachdem zuerst politische Bildung vermittelt werden sollte, würden Wärter angehalten, bei flüchtigen Personen auch tödliche Schüsse abzugeben (160). Auch Strafen würden härter und strenger, die Ernährung der Insass*innen sei unzureichend (176). Als Instrument, um die Han-Chinesen weiter als Mehrheitsbevölkerung auch in der Xinjiang Region zu etablieren, habe sich zur physischen Ansiedlung von Han-Chinesen auch die radikale Methode der Geburtenkontrolle der Uigur*innen, Kasach*innen und weiterer muslimischer Ethnien hinzugesellt. Zwangssterilisierungen würden in den Lagern, aber auch außerhalb der unmenschlichen Haft seitens der staatlichen Behörden praktiziert (184).
Genau dies erfüllt laut Bölinger mehrere Tatbestände des Völkermords: die Verursachung körperlichen und seelischen Leids; Lebensbedingungen, die körperliche Zerstörung herbeiführen; Geburtenverhinderung. Dass sich diese Maßnahmen nicht auf einen kleinen Teil der Bevölkerung beziehen, zeigten die Zahlen und Hochrechnungen der Inhaftierten. So habe sich die Situation sowohl quantitativ bezüglich des Ausmaßes als auch qualitativ hinsichtlich der Methoden verschlimmert, sodass seit 2017 zwischen 7 und 15 Prozent der erwachsenen Nicht-Han-Bevölkerung zeitweise in den Lagern gefangen gehalten wurden: ungefähr zwischen 900.000 und 1,8 Millionen Menschen (161).
All dies führte zu der Situation, der sich die Bevölkerung heute gegenübersieht, die der Autor als „Zerstörung“ bezeichnet. Kultureller Genozid[2] ist hierbei ein Begriff, der bereits in den Medien genutzt wird, während der Begriff des Völkermords unter anderen von Vertreter*innen aus Regierungskreisen der USA direkt verwendet wird (30). Bölinger nimmt Bezug auf die Definition der Vereinten Nationen und sieht hier klare Anzeichen, dass die Tatbestände des Völkermords erfüllt sind (31). Besonders die eindrücklichen Interviews und Zeug*innenbefragungen im Zusammenspiel mit der Auswertung und Einordnung von geleakten Dokumenten aus der chinesischen Politik und Verwaltung schaffen es, den Eindruck des Völkermords durch die Beschreibungen realer Vorkommnisse zu erhärten.
Die technologische Dimension der Repression
Die technologische Dimension der Umerziehung und Unterdrückung der muslimischen Minderheiten wird im Buch lediglich oberflächlich geschildert. Zwar erwähnt Bölinger die Nutzung technischer Möglichkeiten des Staates, wie die muslimischen Minderheiten im Alltag überwacht werden. Jedoch fehlt hier eine genaue Beschreibung, wie die technischen Mittel auch innerhalb der Umerziehungslagern genutzt werden, um die Insass*innen mit dem Gedankengut der Zentralregierung zu indoktrinieren. Somit lässt der Autor es an den entscheidenden Erläuterungen missen, warum die Umerziehungslager als „Hightech-Gulag“ bezeichnet werden können. Die benannten technischen Aspekte der Unterdrückung beziehen sich eher auf die Auswahl der Personen als auf die Situation in den Umerziehungslagern selbst (173). Denn während zur allgemeinen Überwachung der Bevölkerung technische Mittel wie Gesichtserkennung, QR-Codes an Haustüren oder Auswertung von Mobiltelefonen genutzt würden (25-27), befänden sich die Lager in alten Schulen (15), Gefängnissen (154) oder sogar in einer ehemaligen Geburtsklinik (175). Auch die Lagerhaft selbst charakterisiere sich durch konservative Methoden: Frontalunterricht mit Lehrbüchern zum Lernen von Mandarin oder zur ideologischen Erziehung (178), Singen von propagandistischen Liedern (21) und körperliche Repressionen wie Hunger, Gewalt wie Folter oder medizinische Eingriffe zur Sterilisierung (182). So wirkten die Umerziehungslager eher wie die aus der Sowjetunion bekannten Gulags, wo mit Propaganda und körperlichen Repressionen eine Ideologie vermittelt werden soll.
Bölinger beschreibt somit die technischen Mittel zur Überwachung, jedoch bleibt die Darstellung in gewissem Maße oberflächlich. Die genannten Technologien – von der Gesichtserkennung bis zur biometrischen Erfassung – werden als zentrale Elemente des Überwachungsapparates dargestellt, aber es fehlt eine tiefere Auseinandersetzung mit der genauen Implementierung und den technischen Details der Systeme. In dieser Hinsicht könnte der Begriff "Hightech-Gulag" noch klarer mit einer detaillierteren Schilderung der technologischen Infrastruktur und deren spezifischen Auswirkungen auf die Insass*innen untermauert werden. Das Fehlen einer detaillierteren Analyse der praktischen Anwendungen dieser Technologien in den Lagern könnte als Schwäche des Buches angesehen werden, da es nicht die volle Dimension der digitalen Kontrolle innerhalb der Umerziehungslager aufzeigt.
Fazit
Seit 2017 immer mehr Informationen von den westlichen Medien hinsichtlich der Turkvölker und insbesondere der Uiguren veröffentlich wurden, hat sich das Situationsbild in der chinesischen Region Xinjiang fragmentarisch zusammengefügt. Bölinger schafft es, besonders mit der Befragung von Zeug*innen, welche selbst Erfahrungen hinsichtlich der Umerziehungslager gemacht haben, diese öffentlich gewordenen Informationen weiter zusammenzusetzen und das Bild zu komplettieren. Es wird genau geschildert, auf welche Weise die muslimische Bevölkerung überwacht, für die Umerziehungslager ausgewählt und physisch sowie körperlich unterdrückt wird. Dadurch erhalten die Leser*innen einen fundierten Einblick, wie der Unterdrückungs- und Umerziehungsapparat Chinas in Xinjiang funktioniert. Jedoch muss hier auch erwähnt werden, dass es dem Autor nur teilweise gelingt, die technische Dimension der Umerziehungslager zu beschreiben, während der Titel „Hightech-Gulag“ diesbezüglich eine Erwartungshaltung erzeugt. Das Buch eignet sich trotzdem für Personen, die wissen wollen, unter welchen Umständen die Uigur*nnen und weitere Mitglieder der Turkvölker in der Region Xinjiang leben müssen und unterdrück werden. Dies ist nicht zuletzt vor dem Hintergrund der bekannt gewordenen Nachrichten rund um Wirtschaftskonzerne wie VW[3] relevant, die eine Niederlassung in der Region betrieben haben und sich mit kritischen Menschenrechtsberichten konfrontiert sehen und beispielsweise in den USA Probleme bei der Einfuhr ihrer Autos aufgrund des Warenursprungs und des dort geltenden Uyghur Forced Labor Prevention Act haben. Diese Lektüre bietet auch Akteur*innen aus Politik und Wirtschaft eine fundierte Möglichkeit, um sich über die Situation der Uigur*innen und weiterer muslimischen Minderheiten in China und der Region Xinjiang zu informieren.
Anmerkungen:
[1] Zenz, Adrian (2019): Es handelt sich um kulturellen Genozid, in: Tagesschau, online unter: https://www.tagesschau.de/investigativ/ndr/china-cables-uiguren-103.html [letzter Zugriff unter 24.11.2019]
[2] Zenz, Adrian (2019): a. a. O.
[3] Lamby-Schmitt, Eva (2023): VW hält an Werk in Uiguren-Region fest, in: Tagesschau, online unter: https://www.tagesschau.de/wirtschaft/unternehmen/volkswagen-xinjiang-uiguren-101.html [letzter Zugriff unter 28.02.2023]
Demokratie und Frieden
Externe Veröffentlichungen
Adrian Zenz / 24.11.2019
The New York Times
Rachel Benaim / 08.07.2014
IPG-Journal
Gudrun Wacker / 06.07.2009
SPIEGEL Online
Patricia von Hahn / 01.09.2004
China Aktuell
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