Auch wenn es die akademische Soziologie nach wie vor für eine Überschreitung des ihr methodologisch Möglichen hält: der Bedarf an sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen ist unverkennbar und es gibt eine Reihe beachtenswerter Modelle, die auf Orientierungsprobleme einer von zunehmender Entgrenzung und zugleich steigender Verflechtung geprägten modernen Gesellschaft Antworten mit sozialwissenschaftlichen Mitteln zu geben versuchen. Zu diesen gehört - neben etwa Giddens, Sennett oder Beck - auch der in St. Gallen lehrende Soziologe Peter Gross, dessen 1994 erschienene "Multioptionsgesellschaft" (Frankfurt a. M.) sich mit der widersprüchlichen Gegenwartsdynamik von Optionssteigerung und Traditionsvernichtung auseinandersetzt. Die Autoren des Sammelbandes, die "alle auf die eine oder andere Weise wissenschaftsbiographisch mit der Entstehung und der Rezeption des Buches [der Multioptionsgesellschaft] verbunden sind" (8), greifen Thesen von Gross auf und suchen sie an unterschiedlichen Gegenständen anzuwenden. Übrigens befassen sich die Beiträge ebenso mit jenen Merkwürdigkeiten akademischer Rezeptionspraktiken, die dazu führten, dass Gross' Studie nur minimale Resonanz im Fach selbst gefunden hat. Inhalt: Zur Attraktivität und Aktualität der Multioptionsgesellschaft (7-21). 1. Steigerung und Zerstörung: Thomas S. Eberle: Are the Great Warriors dying? Aborigines in der Multioptionsgesellschaft (25-42); Franz-Xaver Kaufmann: Weltverlust und Lebenskunst (43-55); Ulrich Beck: Der hässliche Bürger (57-68); Achim Brosziewski: Innovation und Erfahrung. Über Generationen und die Zeiten der Gesellschaft (69-80). 2. Transformation und Triebkraft: Thomas Olk: Bürgerengagement und aktivierender Staat - zwei Seiten einer Medaille? (83-97); Rolf Heinze / Christoph Strünck: Bürgerschaftliches Engagement inmitten von Markt und Staat (99-111); Bernhard Badura: Bürgerorientierungen als Reformziel im Gesundheitswesen (113-123); Eckart Pankoke: Netzwerke und Lernprozesse: Komplexitätsmanagement als Kunst des Möglichen (125-140); Anne Honer: "In dubio pro morbo": Medizinische Dienstleistungen zwischen technischen Optionen und ethischen Ligaturen (141-150). 3. Fluchten, Zwischenwelten, Exodus-Phantasien: Hubert Knoblauch: Ekstatische Kultur. Zur Kulturbedeutung der unsichtbaren Religion (153-167); Olaf Zorzi: Abenteuer, wohin man blickt - Bemerkungen zur Ethnographie (in) der Moderne (169-182); Ronald Hitzler: Existenzbastler als Erfolgsmenschen. Notizen zur Ich-Jagd in der Multioptionsgesellschaft (183-197); Daniel Diemers: Die Multioptionsgesellschaft im Cyberspace (199-212); David Bosshart: Spektakuläre Multioptionalität. Philosophische Bemerkungen zur Spektakelökonomie (213-226). 4. Grenzen im Grenzenlosen? Laszlo A. Vaskovics: Familiale Entwicklungsverläufe in der Multioptionsgesellschaft (229-244); Elisabeth Beck-Gernsheim: Von der Bastelbiographie zur Bastelkultur - über binationale Paare und Migranten-Familien (245-261); Manfred Garhammer: Kontingenzmanagement und Fatalismus - Zeitinstitutionen und Unsicherheit in der spätmodernen Arbeitswelt (263-277); Peter Atteslander: Verliert sich das Private? (279-291); Christoph Maeder: Bürger oder Kunde? Missratende Optionen des "New Public Management" (293-308). 5. Quo vadis? Thomas Luckmann: Sinn in Sozialstruktur (311-325); Emil Walter-Busch: Optionen und Illusionen moderner Zeitdiagnostik (327-345); Armin Nassehi: Odysseus, die Sirenen und die Taue der Moderne. Eine Meditation über die "Multioptionsgesellschaft" (347-361); Michael Sukale: Alles und Nichts. Zur Sozio-Theologie der Multioptionsgesellschaft (363-378).