Samuel Salzborn: Angriff der Antidemokraten. Die völkische Rebellion der Neuen Rechten
Samuel Salzborn spiegelt die Debatten um den Rechtspopulismus mithilfe eines (in aufklärerischer Absicht) „bewährten“ Begriffsapparates, schreibt Georg Kamphausen. Allerdings sei fraglich, ob sich mit Begriffen wie Neue Rechte, Neofaschismus, völkische Rebellion etc., die aus der Asservatenkammer intellektueller Debatten stammten, die gegenwärtigen politischen Bewegungen sowie der offensichtliche Zerfall des etablierten Parteiensystems beschreiben lassen. Auch sollte der rechtspopulistische Unsinn besser nicht durch eine ideengeschichtlich korrekte Herleitung „geadelt“ werden.
In der Menge der Informationen, mit denen wir uns konfrontiert finden, nehmen die Informationen über diejenigen Teile der Wirklichkeit, zu denen wir keinerlei erfahrungsvermittelten Zugang haben, rasch zu. Die Ausdehnung unserer medialen Informiertheit ist historisch beispiellos. Aber es ist die Informiertheit einer erfahrungsverarmten Zuschauersubjektivität. Das bedeutet, so Hermann Lübbe, dass die soziale Reichweite unserer praxisvermittelten Weltkenntnis schrumpft. In der Beschreibung unserer Wirklichkeit reagieren wir darauf mit einem Arrangement weit gefasster Begriffe, die ziemlich beliebig vom Inhalt her angefüllt werden können, in der Beurteilung dieser Beschreibungen zumeist mit emotionalen Leerhülsen. Wer aber bestimmt nun die Bedeutsamkeit, die Reichweite sowie den empirischen Gehalt jener Begriffe, deren wir uns bei der Beschreibung unserer gesellschaftlichen und politischen Wirklichkeit bedienen?
Der Verfasser ist ganz offensichtlich der Ansicht, dass Intellektuelle gleichwelcher Couleur die entscheidenden Stichwortgeber im politischen Raum sind. Dass man den Begriff des Intellektuellen dabei breiter fassen muss als dies bislang der Fall war, also neben dem Feuilleton auch Fernsehmoderatoren und Blogger umfasst, versteht sich heute von selbst. Dennoch stellt sich die Frage: Woher beziehen alle diese Konstrukteure von Wirklichkeitsbeschreibungen ihre begrifflichen „Instrumente des Denkens“ (Max Weber)? Samuel Salzborn spiegelt die gegenwärtigen Debatten um den sogenannten Rechtspopulismus vor dem Hintergrund eines (in aufklärerischer Absicht) „bewährten“ Begriffsapparates. Das ist gar nicht als Kritik gemeint, sondern soll nur auf den höchst problematischen Umstand hinweisen, dass Begriffe wie Neue Rechte, Neofaschismus, völkische Rebellion etc. aus der Asservatenkammer intellektueller Debatten stammen, die unter Umständen weder die (neuen, gegenwärtigen) politischen Bewegungen noch den ganz offensichtlichen Zerfall des etablierten Parteiensystems zu beschreiben in der Lage sind. Wie gesagt, auch der Rezensent weiß hier kein probates Mittel, möchte aber vorab darauf hinweisen, dass das alte Rechts-links-Schema zwar einen bekenntnisartigen Reflex erzeugt, aber wenig geeignet erscheint, die institutionellen, mentalen, kulturellen und ideenpolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in den Blick zu nehmen.
Sind also die Anhänger der AfD Antidemokraten und wenn ja, betreiben sie eine „völkische Rebellion“? Und was die Sache selbst betrifft: Handelt es sich um ein neues Phänomen, eine neue Bewegung oder um die publizistisch und öffentlichkeitswirksam erzeugte Aufmerksamkeitssteigerung mit Blick auf ein in den meisten sogenannten Volksparteien schlummerndes Potenzial ressentimentgetriebener Wutbürger, denen man zur besten Sendezeit und vermittels einer differenzvernichtenden Vertalkung des politischen Gesprächs eine eigene Bühne bietet? Der Autor hat recht: Die Medien sind nicht alleine schuld am Aufkommen und an der Verbreitung rechtspopulistischer, rassistischer und nationalistischer Argumente. Richtig ist aber auch: Die Verhöhnung der parlamentarischen Demokratie, die Personalisierung und Eventisierung von Politik, das Trommelfeuer des Anti-Institutionalismus, eine ruinöse Bildungspolitik, die den „Affekt gegen den Verstand“ (11) mobilisiert und Meinungen schon für Urteile hält, hat das dummdreiste Geschwätz von Menschen befördert, die eine Chance sehen, sich aus dem Windschatten ihrer eigenen Bedeutungslosigkeit herauszubewegen.
Ich stimme dem Autor in fast allen „Herleitungen“ des Rechtsextremismus und der „völkischen Ideologie“ zu. Aber darf man ernsthaft glauben, dass der durchschnittliche Wähler der AfD, der nationalprotestantische Flügel der FDP, die ultrakonservativen Wähler der CSU (die genau so wenig „konservativ“ sind wie die „Linken“ fortschrittlich) sowie viele europakritischen Anhänger der Linken ihren „romantischen“ Volksbegriff auf Johann Gottfried Herder gründen? Darf man den wirren Unsinn, der heute unkommentiert in den Medien verbreitet wird, durch eine ideengeschichtlich korrekte Herleitung gleichsam „adeln“? Das ist nicht als Kritik an einem lesenswerten Buch gemeint. Aber was vermag der Hinweis auf Aufklärung und Vernunft angesichts einer auf die Fähigkeit zum Konsum reduzierten „Weltanschauung“ auszurichten? Sehr gut gefallen haben mir daher das Kapitel über die virtuellen Verschwörungswelten und die identitäre Mobilisierung von Affekten sowie die Anmerkungen zum sozialen „Bodensatz“ der „Antidemokraten“. Aber die Frage bleibt: Was tun?
Repräsentation und Parlamentarismus