„Bullshit“ verdrängt Journalismus. Die Warnzeichen sind allzu lange ignoriert worden
Stephan Russ-Mohl setzt sich in seinem Artikel mit den Risiken moderner Kommunikationstechnologien auseinander und fragt nach den Ursachen für die Vertrauenskrise des Journalismus. Er konstatiert einen Wandel von der Aufmerksamkeitsökonomie zu einer Desinformationsökonomie, in der es sich für bestimmte Akteure rechnet, vor allem über die sozialen Netzwerke massiv Falschmeldungen, Konspirationstheorien und anderen „Bullshit“ zu verbreiten.
Die Informationsmedien laufen Gefahr, im Online-Zeitalter den Wettlauf mit den Propagandisten zu verlieren.
Seit Pegida-Trupps auf der Straße „Lügenpresse“ skandieren, ist der Vertrauensverlust gegenüber dem Journalismus offensichtlich – allerdings mit einem Zungenschlag, der in die Irre führt. Nur wenige Redaktionen verbreiten absichtlich Falschinformationen. Es hat andere Gründe, weshalb wir, wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel jüngst konstatierte, in „postfaktischen Zeiten“ angelangt zu sein scheinen.
Die Aufmerksamkeitsökonomie, in der wir leben, verwandelt sich zusehends in eine Desinformationsökonomie, in der es sich für bestimmte Akteure rechnet, vor allem über die sozialen Netzwerke massiv Falschmeldungen, Konspirationstheorien und anderen „Bullshit“ zu verbreiten. Im Folgenden geht es um jüngste Erkenntnisse von Medienforschern, die in der Zusammenschau Risiken und Nebenwirkungen moderner Kommunikationstechnologien erkennbar machen.
Viele Medienmacher sind wohl erst durch die schrillen Töne der neuen Rechten darauf aufmerksam geworden, wie prekär es um die Glaubwürdigkeit des Journalismus bestellt ist. Als gingen sie solche Erkenntnisse nichts an, haben sie zuvor beharrlich ignoriert, was Forscher seit Jahrzehnten konstatierten: den schleichenden Verfall des Vertrauens in die Medien. Es geht seit langem um Machtverschiebungen zwischen Journalismus, Public Relations und Propaganda, inzwischen aber auch darum, wie rasant sich in den Echokammern der sozialen Netzwerke Unfug ausbreitet, wie Algorithmen sowie Roboter, sogenannte Social Bots, dies verstärken – und wie gering derzeit die Chancen sind, durch Aufklärung dem Trend entgegenzuwirken.
Warnzeichen ignoriert
Die Alarmglocken hätten bereits schrillen müssen, als ARD und ZDF Mitte der sechziger Jahre damit begannen, in der Langzeitstudie Massenkommunikation in Mehrjahresabständen messen zu lassen, wie es um die Glaubwürdigkeit der Medienberichterstattung bestellt ist. Die ermittelten Werte zeigten bereits damals nahezu regelmäßig nach unten. Auch das berufliche Ansehen von Journalisten war und blieb in entsprechenden Allensbach-Umfragen über Jahrzehnte hinweg im Keller.
Im Rückblick ist das merkwürdig: Während viele Redaktionen von Empörungskommunikation leben und Mücken gerne zu Elefanten aufblasen, haben sie vor diesem Jahrhundertthema, das sowohl ihre eigene Existenz als auch unser demokratisches Gemeinwesen gefährdet, lange Zeit kollektiv die Augen verschlossen.
Dabei hat die Wissenschaft nicht nur Daten, sondern auch frühzeitig das Rüstzeug für deren Analyse geliefert. Kurz vor der Jahrtausendwende, also noch bevor Internet und Digitalisierung den Medienbetrieb mit aller Wucht durcheinanderwirbelten, hat der österreichische Sozialforscher Georg Franck sein Konzept der Aufmerksamkeitsökonomie publiziert. Seine Forschung zeichnete vor, wie wachsende Konkurrenz von Institutionen, aber auch von Prominenten, Politikern und Wirtschaftsführern um öffentliche Aufmerksamkeit die Gesellschaft veränderte.
Franck setzte dem materiellen einen mentalen Kapitalismus entgegen, der „närrische Züge“ trage. Er skizzierte einen zweiten Wirtschaftskreislauf, der den bisherigen Austausch von Waren und Dienstleistungen gegen Geld zunehmend überlagere, ja an Bedeutung übertreffe: Unter Bedingungen zunehmenden Wohlstands und der Saturierung materieller Bedürfnisse werde in der Aufmerksamkeitsökonomie vermehrt Information gegen öffentliche Wahrnehmung getauscht.
Weil Aufmerksamkeit knapp ist und sich in Geld oder Macht ummünzen lässt, wurde und wird immer mehr investiert, um sie zu generieren. Damit ist immerhin plausibel erklärt, weshalb heute in den USA auf einen Journalisten statistisch etwa fünf PR-Experten kommen, während vor drei Jahrzehnten das Verhältnis noch etwa ausgeglichen 1:1 betrug. Mit der Übermacht und der Professionalisierung der PR-Branche ging einher, dass sich Copy-Paste-Journalismus rapide ausbreitete. So wurde zunächst schleichend und dann immer offensichtlicher die Glaubwürdigkeit des Journalismus unterminiert.
Uwe Krüger (Universität Leipzig) arbeitet in seinem inzwischen preisgekrönten Buch „Mainstream“ für Deutschland heraus, wie unter diesen Bedingungen vermehrter PR-Fernsteuerung eine „pädagogisch-paternalistische Haltung“ der Medien in die „gefühlte Bevormundung“ der Rezipienten umschlägt. Die Medien hätten sich in einem rot-grünen Scheinkonsens einander angenähert, in den sich schließlich auch die journalistischen Parteigänger der Merkel-CDU eingeklinkt hätten: Die Stichworte seien „Multikulturalität und Vielfalt, Weltoffenheit und Toleranz, Gleichstellung und Minderheitenschutz, Antidiskriminierung und Gender Mainstreaming“.
„Enttäuschungswut“
Zugleich werde bekämpft, „was in diesem Sinne nicht politisch korrekt ist“, und dabei werde häufig zu wenig zwischen den „relativ wenigen Rechtsextremen und den relativ vielen Rechten“ differenziert. Journalisten seien zu zahlreich in Elite-Netzwerke integriert – und so habe sich beim Publikum über die Jahre hinweg eine „Enttäuschungswut“ angestaut. Die Medien scheinen „mehr Anpasser als Aufpasser, mehr Regierungsversteher als Anwalt der Regierten zu sein“, so Krüger.
Damit allein kippt allerdings die Aufmerksamkeitsökonomie noch nicht in eine Desinformationsökonomie um. Es müssen weitere Voraussetzungen erfüllt sein, damit es sich für eine Vielzahl von Akteuren wirtschaftlich oder machtpolitisch lohnt, mit Falschmeldungen, Fünftelwahrheiten und dreister Propaganda Aufmerksamkeit zu erzielen.
Im Internet sind die etablierten Massenmedien als Nachrichtenlieferanten zwar weiterhin tonangebend. Die digitale Revolution entthronte jedoch die Journalisten als Schleusenwärter des öffentlichen Diskurses. Die Zahlungsbereitschaft der Publika für Journalismus schwand, die Werbeerlöse, aus denen sich Redaktionen finanzieren lassen, schrumpften rapide. Obendrein fließen sie inzwischen überwiegend in die Kassen von Google und Facebook.
All das macht es einem bunten Volk von hochprofessionellen Spin-Doktoren sowie von oft naiven Bürgerjournalisten und Trollen – darunter nicht nur Menschen, sondern inzwischen auch Roboter – möglich, dieses Nachrichtenangebot zunehmend durch geschrotete oder gezielte Desinformation zu unterspülen. Ob es um Chemtrails geht oder darum, die Klimakatastrophe zu negieren, ob der US-Wahlkampf, die Krim-Besetzung, der IS-Terror angesagt sind oder Impfungen, Zucker- oder Drogenkonsum – zu all diesen Themen zirkulieren im Netz zählebig Falschinformationen, die keiner Überprüfung standhalten.
Freie Bahn für Unsinn
Die Algorithmen von Google, Facebook und Twitter sorgen dafür, dass die Legenden sich in den Echokammern der sozialen Netzwerke ausbreiten. Ein italienisches Forscherteam um Micaela Del Vicario, Fabiana Zollo und Walter Quattrociocchi (IMT Lucca) hat in einem Big-Data-Projekt in den USA und in Italien Facebook-Accounts miteinander verglichen – einerseits solche, die sich redlich um wissenschaftlich und journalistisch geprüfte Information bemühen, auf der anderen Seite Link-Schleudern, die Unsinn offerieren. Ihre beunruhigende Erkenntnis: In den „filter bubbles“ der sozialen Netzwerke verbreitet sich – aufgrund der Likes und Shares der User, aber auch wegen der Aktivität von Social Bots – „Bullshit“ weitaus schneller und flächendeckender als die grau-schattierten News seriöser Anbieter.
Welche Rolle dabei Algorithmen spielen, ist und bleibt das wohl bestgehütete Geheimnis der Internetgiganten, die sich längst zu weltumspannenden Mediengroßkonzernen entwickelt haben – freilich ohne redaktionelle Verantwortung für den Unfug zu übernehmen, der über ihre Plattformen verbreitet wird. Der amerikanische Rechtswissenschafter Frank Pasquale (University of Maryland) spricht deshalb von einer „Black Box Society“, in der wir mehr und mehr leben.
Algorithmen verdrängen Journalisten, und Social Bots ersetzen inzwischen zunehmend leibhaftige Trolle, die im Netz im Sinne ihrer Auftraggeber Stimmung machen. Sie schüren Hass, sorgen durch tausendfach variierte Kommentare, vor allem aber durch Likes und Shares dafür, dass ihre Botschaften im Netz mithilfe der Algorithmen verbreitet werden und so die Schwarmdummheit gegenüber der Schwarmintelligenz die Oberhand gewinnt.
Der Politologe und IT-Experte Simon Hegelich (TU München) hat kürzlich bei einer Klausurtagung der österreichischen Verleger vorgeführt, wie einfach das geht: 10 000 Twitter-Konten seien für 499 Dollar zu haben. Diese mit Roboterintelligenz auszustatten, koste ebenfalls so gut wie nichts. Bereits ein erheblicher Prozentsatz aller Twitter-Nutzer, schätzt Hegelich, könnten Social Bots sein – Tendenz zunehmend. Facebook veranschlage die Zahl der Bot-Accounts weltweit auf rund 15 Millionen. Fraglos würden so die sozialen Netzwerke zum idealen Nährboden für jedwede Propaganda, zumal der Einsatz der Roboter für die Betreiber risikolos und kaum nachweisbar sei.
Nicht zuletzt sind die Erfolge autoritärer Führer wie Putin und Erdogan bei der Stabilisierung ihrer Herrschaftssysteme dadurch zu erklären, dass sie sich zunehmend des medialen Raums bemächtigen. Diesen kontrollieren sie rund um die Uhr, indem sie Journalisten einschüchtern, Medienbetriebe unter die Kontrolle befreundeter Oligarchen bringen und die sozialen Netzwerke beackern. Mit Shitstorms werden insbesondere investigative Journalisten fertiggemacht – wie Hajo Seppelt, der für den WDR dem russischen Dopingskandal nachspürte, oder Jessikka Aro in Finnland, die dem Trollspuk des Kreml auf die Spur kam.
Vergebliche Anstrengungen
Es sieht inzwischen so aus, als würden in westlichen Gesellschaften Populisten wie Donald Trump, Frauke Petry oder Christoph Blocher den Putins und Erdogans dieser Welt nacheifern. Dabei spannen sie geschickt auch jene für sich ein, die bis anhin noch im Mehrheitskonsens der „Alternativlosigkeit“ vermeintlich dagegenhalten, aber jede gezielte Provokation der neuen Rechten zu Top-News aufplustern, die allenfalls in einem Einspalter auf Seite 56 abgefeiert gehört hätten. Das Forscherteam um Walter Quattrociocchi lässt keinen Zweifel daran, dass bis jetzt alle Anstrengungen verlorene Liebesmüh sind, der Desinformationsflut entgegenzuwirken. Fact-Checking-Websites, aber auch die Aufklärungsbemühungen seriöser Medien kommen in den sozialen Netzwerken aus ihren Echokammern nicht mehr heraus.
Erstveröffentlichung: Neue Zürcher Zeitung vom 1. Oktober 2016
Repräsentation und Parlamentarismus
zum Thema
Rechtspopulismus und Medien: Das Ringen um Deutungshoheit