Skip to main content
IParl: Analyse / 07.04.2022

Das Ende offener Vorwahlen? Die personelle Auswahl für die französische Präsidentschaftswahl 2022

Feiern anlässlich der Präsidentschaftswahl, 7. Mai 2017, vor dem Louvre in Paris. Foto: Lorie Shaull, Wikimedia Commons, Lizenz: CC BY 2.0
Im Frühjahr 2022 wurde in Frankreich der Staatspräsident gewählt. Anastasia Pyschny und Claire Bloquet zeigen, wie die Kandidierenden für die Vorwahlen ausgewählt wurden und fragen, warum Sozialisten (PS) und Konservative (LR) von der Methode der offenen Vorwahlen abgewichen sind, während die Grünen (EELV) an diesem Verfahren festhielten.

Im politischen System Frankreichs ist die Präsidentschaftswahl die Königswahl1. Es wird nicht nur ein Staatsoberhaupt gewählt, das durch die Direktwahl über eine starke politische Legitimität verfügt, sondern das Ergebnis hat auch großen Einfluss auf die Parlamentswahlen, die einige Wochen später stattfinden und mit denen auch die Grundlage für die neue Regierung geschaffen wird, mit der der Präsident zusammenarbeiten muss.2 Die Wahlbeteiligung bei den Präsidentschaftswahlen ist weitaus höher als bei anderen Wahlen, was die Bedeutung der Wahlen verdeutlicht (siehe Abbildung 1). Vor diesem Hintergrund ist die Bestimmung des Kandidaten oder der Kandidatin für das Präsidentenamt eine wichtige Frage für die politischen Parteien, die mit dieser Entscheidung auch über ihren Platz im politischen System für die nächsten fünf Jahre bestimmen.

Die nächste Präsidentschaftswahl in Frankreich findet am 10. und 24. April 2022 statt. Im ersten Wahlgang können sich die französischen Wählerinnen und Wähler zwischen zwölf Personen entscheiden, die alle mindestens 500 Unterstützerunterschriften von gewählten Politikern erhalten haben. Erhält einer der Kandidaten bereits im ersten Wahlgang mehr als 50 Prozent der Stimmen, wird er oder sie neues Staatsoberhaupt Frankreichs. Da dieser Fall bislang noch nicht eingetreten ist, findet üblicherweise eine Stichwahl statt, in der die beiden Kandidaten mit den meisten Stimmen im ersten Wahlgang gegeneinander antreten. Der Sieger des zweiten Wahlgangs wird dann für die nächsten fünf Jahre Präsident oder Präsidentin der Französischen Republik.

Unter den Kandidaten sehen Umfragen derzeit den amtierenden zentristischen Präsidenten Emmanuel Macron (La République en Marche, LREM) vorn und sprechen ihm den ersten Platz im ersten Wahlgang zu. Wer den zweiten Platz erhält und sich damit für die Stichwahl qualifiziert ist noch weitgehend offen. Vier Kandidatinnen und Kandidaten scheinen in Frage zu kommen: Auf der rechten Seite des politischen Spektrums befinden sich Valérie Pécresse für die konservative Partei Les Républicains (LR), Marine Le Pen für die rechtsextreme Partei Rassemblement National (RN) sowie der rechtsextreme Politikneuling Éric Zemmour (R), ein ehemaliger Journalist und Autor.

Im linken politischen Spektrum hat Jean-Luc Mélenchon, der Vorsitzende der linksradikalen Partei La France Insoumise (LFI), mit Abstand die beste Wahlprognose. Andere Links-Kandidaten, darunter insbesondere Yannick Jadot für Europe Écologie-Les Verts (EELV), Anne Hidalgo für die Parti socialiste (PS) und Fabien Roussel für die Parti communiste (PCF) liegen deutlich zurück (siehe Abbildung 2). Doch wie wurden diese Personen zu Kandidaten?

Die Auswahl der Kandidaten für die französischen Präsidentschaftswahlen: eine Parteienfrage

Die Auswahl der Kandidaten für die französischen Präsidentschaftswahlen ist nicht gesetzlich geregelt: Es obliegt jeder Partei, intern über die Art der Auswahl zu entscheiden.3 Prinzipiell kann zwischen drei Verfahrenstypen unterschieden werden.

Der erste Typ − der klassischste und nach wie vor am weitesten verbreitete − ist die Selbsternennung des oder der Parteivorsitzenden. Dies war beispielsweise der Fall für Marine Le Pen vom Rassemblement National oder Jean-Luc Mélenchon, Vorsitzender der Partei La France Insoumise.4 Mitunter kommt es vor, dass die Kandidaten ihre eigens verkündete Kandidatur ex-post durch die Parteimitglieder bestätigen lassen. Ein zweiter Typ besteht in der Organisation einer geschlossenen Vorwahl innerhalb der Partei („primaire fermée“). Dabei werden den Parteimitgliedern mehrere Kandidaturbewerber vorgestellt, zwischen denen sie votieren können. Für die Präsidentschaftswahl 2022 wurde diese Art der Wahl von der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) angewandt, die Fabien Roussel zu ihrem Kandidaten wählte. Darüber hinaus – der vorliegende Beitrag wird noch näher darauf eingehen − entschieden sich auch die Sozialisten und Republikaner zur Durchführung von geschlossenen Vorwahlen, aus denen zwei Frauen, Anne Hidalgo (PS) und Valérie Pécresse (LR), als Siegerinnen hervorgingen.

Die dritte Art der Kandidatenauswahl ist die der offenen Vorwahl („primaire ouverte“). Hierbei schlägt eine Partei oder eine Gruppe von Parteien mehrere Personen zur Wahl vor und organisiert eine offene Abstimmung, an der alle Bürgerinnen und Bürger teilnehmen können, die dies wünschen. Die genauen Modalitäten können variieren – zum Beispiel die Abstimmung in einem Wahllokal, per Post oder online, kostenlos oder gegen Zahlung usw. −, aber der Grundgedanke ist derselbe: Es geht darum, die Kandidatenauswahl für interessierte Bürger und Bürgerinnen zu öffnen und diese nicht ausschließlich den Parteimitgliedern zu überlassen.5

Das Prinzip offener Vorwahlen ist relativ neu in Frankreich. Erstmals wurde über offene Vorwahlen zur Kandidatenfindung im Jahr 2009 in der Parti socialiste nachgedacht: Da sich die internen Spaltungen innerhalb der Partei zunehmend verstärkten, wurde nach Möglichkeiten gesucht, die Partei neu zu beleben. Dies wollte die sozialistische Parteiführung erreichen, indem sie sich den Wahlsieg von Barack Obama im Jahr 2008 zum Vorbild nahm, der ebenfalls in einer offenen Vorwahl als Kandidat nominiert wurde.6 Folglich war es eine Initiative der sozialistischen Parteiführung, die zur ersten offenen Vorwahl vor der Präsidentschaftswahl 2012 führte. Die "primaire citoyenne" der Sozialisten, die mit fast drei Millionen Wählern bei 180.000 Mitgliedern einhellig als demokratischer Erfolg gewertet wurde, führte zur Kandidatennominierung von François Hollande, der einige Monate später tatsächlich zum Staatspräsidenten gewählt wurde und gegen den Amtsinhaber Nicolas Sarkozy gewann. Es war das erste Mal in der Fünften Republik, dass ein amtierender Präsident bei einer Wahl unterlag.

Die Idee der Vorwahl wurde im medialen und politischen Diskurs als ein wesentliches Rädchen im Getriebe dieses sozialistischen Sieges konstruiert. Ebenfalls für die Präsidentschaftswahl 2012 führten die Grünen, Europe Écologie-Les Verts, eine offene Vorwahl durch. Fünf Jahre später, im Jahr 2017, schlossen sich die Republikaner in der Verfahrensauswahl den Sozialisten und Grünen an und organisierten ihrerseits eine offene Vorwahl.7 Über diese drei offenen Vorwahlen hinaus gab es zudem "überparteilich" organisierte Vorwahlen von Bürgerinitiativen, von denen LaPrimaire.org die wohl sichtbarste war, die über eine Online-Plattform mit 150.000 Wählerinnen und Wählern eine parteiunabhängige Kandidatin nominierte.8 So kam es – begleitet von großem medialen Interesse − innerhalb von nur einem Wahlzyklus zu einem weitverbreiteten Verfahrenswechsel in der Aufstellung der französischen Präsidentschaftskandidaten.

In Anbetracht dieses Trends wirft die Auswahl der Kandidaten für die Präsidentschaftswahl 2022 Fragen auf. Die Sozialistische Partei, die die offene Vorwahl in der politischen Landschaft Frankreichs populär gemacht hatte, verzichtete diesmal darauf und zog eine geschlossene Vorwahl vor. Dieselbe Entscheidung trafen die Republikaner. Bei ihrer Vorwahl konnten allerdings − anders als bei den Sozialisten − Parteilose noch bis zum 15. November 2021, also wenige Wochen vor der internen Nominierungsveranstaltung, LR-Mitglied werden und folglich ihre Stimme abgeben. Es ist der Grund dafür, warum die Vorauswahl der Republikaner manchmal auch als „halboffen“ tituliert wird. Gemein ist den Vorwahlen der Sozialisten und Republikaner jedoch, dass ausschließlich Parteimitglieder über den Kandidaten oder die Kandidatin entscheiden konnten. Einzig die Grünen führten eine offene Vorwahl durch, bei der sich auch Nicht-Mitglieder beteiligen konnten (siehe Tabelle 1).

Wie lässt sich diese neue Situation erklären, nachdem sich ein deutlicher Trend hin zu mehr offenen Vorwahlen abzuzeichnen schien? Warum haben sich offene Vorwahlen nicht als Standardverfahren für die Auswahl der sozialistischen und republikanischen Kandidaten etabliert? Und wie erklärt sich umgekehrt die Entscheidung von EELV, das offene Vorwahlprinzip beizubehalten? Anhand von Interviews mit Mitgliedern der Parteivorstände9 und Presserecherchen wird im Folgenden beschrieben, wie die Verfahrensentscheidungen in der Parti socialiste, Les Républicains und Europe Écologie-Les Verts getroffen wurden und welche Faktoren dabei eine gewichtige Rolle spielten. Im Ausblick wird gezeigt, welche Auswirkungen diese Entscheidungen haben, sowohl für die Kandidatenaufstellung, als auch für das französische Parteiensystem.

Einflussfaktoren für die Verfahrensauswahl zur Nominierung der Präsidentschaftskandidaten

Es lassen sich mehrere plausible Vermutungen darüber anstellen, welche Faktoren die Verfahrensauswahl für die Kandidatenfindung beeinflusst haben könnten. So stellt sich zum Beispiel die Frage, ob die organisatorischen Hürden zu groß geworden sind: Die Organisation einer offenen Vorwahl erfordert viel Aufwand und kostet viel Geld, und die Organisation ist inmitten der Covid-19-Pandemie noch komplizierter (1). Es könnte sich aber auch um eine Folge der 2017 abgehaltenen Vorwahlen handeln: Vorwahlen, die als Erfolg gewertet wurden, würden mit größerer Wahrscheinlichkeit erneut abgehalten werden, als jene, die als Misserfolg gewertet wurden, sei es, weil der Kandidat nicht gewählt wurde, weil die Parteiführung mit dem Ergebnis nicht zufrieden war oder weil das Ziel, die innerparteilichen Konflikte zu verringern, nicht erreicht wurde (2). Schließlich könnten die Kandidaturbewerber eine offene Vorwahl verhindern wollen, weil ihr Ausgang schwer steuerbar und demnach schwer einzuschätzen ist (3).

1. Organisatorische Voraussetzungen

Zweifelsohne ist die Realisierung einer offenen Vorwahl mit viel Aufwand verbunden. An der ersten, von den Sozialisten durchgeführten „primaire citoyenne“ zu der Präsidentschaftswahl 2012 nahmen im zweiten Wahlgang knapp drei Millionen Franzosen teil und bei der Vorwahl 2017 beteiligten sich im zweiten Wahlgang mehr als zwei Millionen Wählerinnen und Wähler. Die Anzahl der Teilnehmer war für die Sozialisten mit hohen materiellen und folglich finanziellen Kosten verbunden, wie uns ein Vorstandsmitglied der PS berichtete: „Es kostet viel Geld, eine offene Vorwahl zu organisieren, insbesondere eine Vorwahl wie 2012 und 2017, also Vorwahlen in Präsenz. Die Organisation ist logistisch sehr, sehr komplex: Es müssen 3.000 Wahllokale geöffnet werden, man braucht Stimmzettel, man braucht Wahlmaterial...also kostet es zwei Millionen Euro. Im Rahmen des Budgets für eine Präsidentschaftswahl ist das enorm.“10

Deutlich teurer noch fielen mit circa acht Millionen Euro die Kosten für die offenen Vorwahlen der Republikaner aus.11 Allerdings sind diese Summen lediglich als Vorschuss zu deuten, da alle Wahlteilnehmer einen Geldbetrag zu entrichten hatten, der für die letzten Präsidentschaftswahlen bei den Sozialisten einen Euro und bei den Republikanern zwei Euro pro Wahlgang betrug. Da sich die Partizipationsrate für beide Wahlgänge bei den Sozialisten auf über 3,5 Millionen Wähler und bei den Republikanern auf über 8,5 Millionen Wähler belief, dürften beide Parteien deutlich mehr eingenommen als ausgegeben haben, nämlich die Sozialistische Partei ungefähr 3,5 Millionen Euro und die Republikaner sogar 17 Millionen Euro. Der Überschussbetrag, so merkten es die Republikaner an, werde allerdings nicht ihre Parteikasse auffüllen, sondern sei in den Präsidentschaftswahlkampf des siegreichen Kandidaten, François Fillon, geflossen.12

Auch bei den französischen Grünen dürften die Kosten zur Durchführung ihrer Vorwahlen nicht als Hindernis gewertet werden. Bei der Vorwahl im Jahr 2016, die postalisch abgehalten wurden, wurde pro Wahlteilnehmer ein Beitrag von fünf Euro gefordert. Bei gut 14. 000 Teilnehmern scheinen auch ihre Einnahmen (circa 70.000 Euro) die Ausgaben (beziffert auf 40.000 Euro13) übertroffen zu haben. Im September 2021 haben die Grünen ihre Vorwahlen ausschließlich digital abgehalten. Die Kosten hierfür schätzte ein Vorstandsmitglied auf „circa 250.000 / 300.000 Euro“, die mit „zwei Euro pro Teilnehmer“ und einer Teilnehmerzahl von weit über 100.000 wohl keinen Profit, aber auch keinen negativen Saldo hinterlassen haben. Folglich stellten die materiellen Kosten bislang für keine der Parteien eine Hürde dar.

Allerdings muss mit Blick auf die Kandidatennominierungen zu der Präsidentschaftswahl 2022 auch der massive Mitgliederschwund bedacht werden, den vor allem die Sozialisten in den letzten Jahren erlitten haben: Innerhalb der letzten Dekade haben sie mehr als 130.000 Mitglieder verloren und zählen nunmehr ungefähr 40.000. Darüber hinaus gibt es auch zahlreiche Funktionäre, die zwar geblieben sind, sich allerdings nicht mehr aktiv am Parteileben beteiligen.14 Vor diesem Hintergrund sind die Zweifel des Parteivorstandes zu erklären, genügend Wähler für eine offene Vorwahl mobilisieren zu können, damit die Ausgaben gedeckt sind: „[...] wenn man nicht glaubt, dass man zwei Millionen Menschen mobilisieren kann, die zur Vorwahl gehen, [...] kann das sogar ein Faktor sein, der die Kandidatur untergräbt. [...] und wir wussten sehr wohl, dass wir nicht auf zwei Millionen kommen würden.“

Etwas besser stellt sich die Situation bei den Republikanern dar. Zwar sind ihnen noch mehr Mitglieder abhanden gekommen als den Sozialisten − 175.000 in den letzten fünf Jahren −, allerdings zählte LR zu Beginn des Jahres 2020 mit 65.000 Mitgliedern immer noch deutlich mehr Mitglieder als die PS. Darüber hinaus haben sie bei der letzten Vorwahl mit 8,5 Millionen Wählerinnen und Wählern mehr als doppelt so viele Menschen mobilisieren können, wie für die Deckung der Kosten nötig gewesen wäre. Deshalb ist davon auszugehen, dass die Republikaner eher als die Sozialisten dazu in der Lage gewesen wären, die finanziellen Kosten für eine offene Vorwahl durch den Teilnahmebeitrag wieder herauszubekommen.

Prinzipiell hätten beide Parteien auch die Chance gehabt, wie die französischen Grünen, offene Vorwahlen online durchzuführen. Doch im Parteivorstand der Sozialisten schien dies aufgrund des höheren Alters der Mitglieder keine denkbare Option: „[...] da wir eine Partei mit ziemlich alten Parteimitgliedern haben, ist es im Moment kompliziert, elektronische Abstimmungen durchzuführen.“ Auch die Republikaner haben im Vergleich zum Bevölkerungsdurchschnitt ältere Mitglieder.15 Allerdings schließen sie elektronische Nominierungsverfahren deshalb nicht aus: Beweis dafür ist, dass sie ihre interne Vorwahl im Dezember 2021 online durchgeführt haben, so dass dies auch ein Modell für ein offenes Vorwahlverfahren hätte sein können. Das Aufkommen des Coronavirus wirkte sicherlich als Katalysator für die Durchführung von Online-Wahlen. Ein Parteivorstandsmitglied der Grünen, sagte über ihre online durchgeführte Vorwahl: „Es scheint mir, dass einer der Hauptgründe dafür war, dass sich mit Covid-19 der digitale Austausch stark fortentwickelt hat, so dass uns die Durchführung von Online-Wahlen leichter erschien.“

2. Erfahrungen aus den offenen Vorwahlen im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen 2017

Alle drei Parteien, Sozialisten, Republikaner und Grüne, bestimmten zur Präsidentschaftswahl 2017 ihren Kandidaten mittels offener Vorwahlen. In der Stichwahl setzte sich bei der sozialistischen „primaire citoyenne“16 Benoît Hamon (58,7 Prozent) gegen Manuel Valls durch, bei der Vorwahl „de la droite et du centre“17 gewann François Fillon (66,5 Prozent) gegen Alain Juppé ,und bei den Grünen konnte der auch aktuelle Präsidentschaftskandidat Yannick Jadot (54,3%) mehr Wählerinnen und Wähler von sich überzeugen als Michèle Rivasi.

Nachdem Hamon als radikaler Vertreter des linken Parteiflügels der Sozialisten zum Präsidentschaftskandidat nominiert worden war, verzichtete der Grünen-Kandidat Jadot auf seine Kandidatur, um den sozialistischen Kandidaten zu unterstützen. Dennoch war das Wahlergebnis von Hamon das schlechteste, was die Sozialisten je bei Präsidentschaftswahlen erzielten: Mit 6,4 Prozent schied er im ersten Wahlgang aus und verlor mit Abstand gegen den sozialliberalen Emmanuel Macron (LREM; 24,0 Prozent), die rechtsextreme Marine Le Pen (FN; 21,3 Prozent), den Republikaner François Fillon (LR; 20,0 Prozent) und den Linkspolitiker Jean-Luc Mélenchon (LFI; 19,6 Prozent). Die Krisensituation der Sozialisten hinterließ auch bei den nachfolgenden Parlamentswahlen ihre Spuren: Die Partei verlor nicht weniger als 286 ihrer 331 Sitze in der Assemblée nationale.

Das offene Vorwahlverfahren hatte nicht die erhoffte Einigkeit zur Folge gehabt, sondern die interne Spaltung eher verschärft, die sich in der zweiten Hälfte der Amtszeit des sozialistischen Präsidenten Hollande (2012-2017) manifestiert hatte: In dieser Zeit protestierte der linke Parteiflügel, dem Hamon angehörte, gegen die Regierung, in der Manuel Valls Premierminister war.18 Angenommen wurde wohl, dass die Wahl einer der beiden Bewerber zum Präsidentschaftskandidaten einen Schlussstrich unter den internen Querelen bedeuten würde.19 Doch es kam anders: Der unterlegene Valls und seine Fürsprecher kündigten nach der Vorwahl an, Macron anstelle von Hamon zu unterstützen. Wie ein Vorstandsmitglied berichtete, war er nicht der einzige, der dem sozialistischen Kandidaten die Unterstützung versagte: „Es gibt zwei, ja sogar drei Kandidaten, deren Verpflichtung, den Sieger zu unterstützen, eigentlich nicht eingehalten wurde. Wir haben sogar erfahren, dass schließlich einer der Kandidaten, das war Arnaud Montebourg, gesagt hat, dass er am Wahltag nicht für Benoît Hamon gestimmt hat, auch wenn er nicht dazu aufgerufen hatte, für einen anderen Kandidaten zu stimmen." Am Tag nach der Präsidentschaftswahl erklärte der Parteivorsitzende die Sozialistische Partei für "tot und abermals tot"20. Bei den anschließenden Parlamentswahlen ließen sich viele bisherige sozialistische Abgeordnete als LREM-Kandidaten wiederwählen. Diese Situation sei „für alle Mitglieder so traumatisch gewesen, dass viele die Vorwahl für das Scheitern verantwortlich machten".

Die einschneidenden Erfahrungen erklären, warum innerhalb der PS der Entschluss so rasant gefasst wurde, bei der kommenden Präsidentschaftswahl auf eine offene Vorwahl zu verzichten: Bereits im April 2018 sprach sich der Parteivorsitzende Oliver Faure für eine Satzungsänderung aus, die nötig war, um von dem Prinzip der offenen Vorwahl abweichen zu können, und beteuerte: „Wir Aktivisten werden über die Ausrichtung der Partei entscheiden, über die Wahl unserer Führung und unserer Kandidaten.“21 Allerdings kam es durch das Coronavirus erst im Sommer 2021 dazu, dass die Satzungsänderung mit großer Mehrheit22 umgesetzt wurde. Größter Kritiker der parteiinternen Vorwahl vom 14. Oktober 2021 war Stéphane Le Foll, der einzige parteiinterne Gegenkandidat von Anne Hidalgo, der im Vorfeld der Nominierung in der Presse verlautbarte, dass er die Durchführung einer offenen Vorwahl als demokratische Pflicht erachte („devoir démocratique“23). Seine Forderung setzte sich nicht durch; die interne Nominierung verlor er mit 27,4 Prozent deutlich zu Gunsten Hidalgos.

Im Gegensatz zu den Sozialisten ließen sich die Republikaner mit ihrer Entscheidung gegen die erneute Durchführung einer offenen Vorwahl Zeit. Dies lässt vermuten, dass die Erfahrungen mit diesem Verfahren innerhalb der LR weniger traumatisch empfunden wurden, obwohl auch sie 2017 eine Wahlschlappe zu verzeichnen hatten: Bereits nach dem ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl schied Fillon aus, so dass es zu einer Stichwahl zwischen dem sozialliberalen Macron und der rechtsextremen Le Pen kam. Zu dieser Situation beigetragen hat sicherlich die Affäre „Penelopegate“, die Fillons Wahlkampagne im Januar 2017 in einen Spießroutenlauf verwandelte. Nach Ermittlungen der französischen Satirezeitung „Le Canard enchainé“ soll Fillons Frau Penelope als seine parlamentarische Assistentin mehr als 800.000 Euro erhalten haben, ohne diese Funktion je ausgeübt zu haben. Da seine Frau in verschiedenen Interviews selbst sagte, dass sie nicht arbeitet bzw. dies getan hat, geriet Fillon kurz vor den Wahlen zunehmend unter Druck. Forderungen nach seinem Rücktritt wurden lauter, und mehrere potenzielle Ersatzkandidaten wurden unter einem «plan B» in den Medien genannt, darunter zum Beispiel Alain Juppé, der Zweitplatzierte der Vorwahl.24 Am 6. Februar 2017 begründete Fillon, warum er seine Kandidatur trotz der Anschuldigungen aufrechterhielt und stützte sich dabei ausdrücklich auf die Legitimität, die er durch die offene Vorwahl erhalten habe: „Keine Instanz hat die Legitimität, die Vorwahl in Frage zu stellen. Ich gehe daher mit zehnfacher Energie in die kommenden Wochen.“25 Nach der Wahl bedauerte die Parteiführung ausdrücklich die perversen Auswirkungen der offenen Vorwahl, die es Fillon erlaubt hätte, seinen Wahlkampf um jeden Preis fortzuführen.26

Als der republikanische Regionalpräsident der Region Hauts-de-France, Xavier Bertrand, im Sommer 2021 seine Präsidentschaftskandidatur ankündigte, stütze er sich wohl auf diese Negativerfahrung, als er konstatierte, dass die Vorwahl nicht nur gute Erinnerungen hinterlassen hätte und Quelle interner Spaltungen war.27 Die letztlich zur Kandidatin nominierte Republikanerin, Valérie Pécresse, sprach sich hingegen für die Durchführung einer offenen Vorwahl aus. Die Entscheidung über das Verfahren wurde den Parteimitgliedern überlassen: 58 Prozent von ihnen sprachen sich für eine parteiinterne Vorwahl aus.28 So dauerte die Entscheidungsfindung über das Nominierungsverfahren bei den Republikanern zwar länger als bei den Sozialisten und evozierte innerparteilich eine stärkere Debatte. Allerdings führte sie zum gleichen Ergebnis: die Durchführung einer parteiinternen Vorwahl.

Nur die Grünen entschieden sich für eine offene Vorwahl. Aufgrund der Unterstützung des PS-Kandidaten Hamon blieben sie bei der Präsidentschaftswahl 2017 über ihre tatsächlichen Wahlchancen im Unklaren. Der Kandidaturverzicht Jadots schien den Grünen nicht geschadet zu haben, im Gegenteil: Nach den Erfolgen bei den Europawahlen 2019 hat sich ihre Mitgliederzahl mehr als verdoppelt: von knapp 5.000 Ende 2018 auf über 10.000 im August 2020.29 Anders als bei den Sozialisten und Republikanern war demnach bei den Grünen nach dem französischen Wahljahr 2017 ein Positivtrend zu verzeichnen, der eine Infragestellung vergangener Entscheidungen, wie die Durchführung einer offenen Vorwahl, obsolet werden ließ.

3. Widerstand gegen offene Vorwahlen seitens Kandidaturbewerber

Das Verfahren offener Vorwahlen spielt in Frankreich erst seit etwa zehn Jahren eine Rolle. Führt die Abkehr der Sozialisten und Republikaner von diesem Verfahren dazu, dass es wieder bedeutungslos wird? Dafür spricht wenig.

Die offene Vorwahl der Sozialisten für die Präsidentschaftswahl 2017 hat vor allem eines gezeigt: Das Ergebnis kann überraschen. Dass sich der „Links-Utopist“30 Hamon gegen den ehemaligen Premierminister Valls in der Stichwahl durchsetzen würde, hätte kaum jemand für möglich gehalten. Entsprechend wurde Hamon in der Tageszeitung Le Monde als „vainqueur inattendu“ („unerwarteter Gewinner“) betitelt.31 Sein Überraschungssieg verdeutlicht, dass Kandidaturbewerber von offenen Vorwahlen prinzipiell ein Wagnis eingehen. Selbst wenn sie großen innerparteilichen Rückhalt haben − wie damals der ehemalige Premierminister Manuel Valls −, ist ihr Sieg ungewiss.

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahl 2022 sprach sich bei den Sozialisten nicht nur die an einer Kandidatur Interessierte Anne Hidalgo gegen eine offene Vorwahl aus, sondern auch der Parteivorstand. Schon vor ihrer eigentlichen Bewerbung um die Kandidatur, im Mai 2020, ließ die Pariser Bürgermeisterin Hidalgo wissen: „Ich bin nicht für eine offene Vorwahl“, da in deren Rahmen niemals alle, sondern nur bestimmte Wählerinnen und Wähler mobilisiert werden würden.32 Mit ihrer Haltung unterstrich sie lediglich die Meinung des Parteivorsitzenden Olivier Faure, der sich bereits im April 2018 auf dem Parteitag in Aubervilliers gegen die Durchführung einer offenen Vorwahl ausgesprochen hatte (vgl. weiter oben).

Auch bei den Republikanern positionierte sich ein aussichtsreicher Bewerber, Xavier Bertrand, gegen die Durchführung einer offenen Vorwahl. Seinen Entschluss, als Bewerber nicht an einer offenen Vorwahl teilzunehmen, äußerte Bertrand im Sommer 2021 und verkündete ihn demnach – anders als bei den Sozialisten – zu einem Zeitpunkt, als die Entscheidungsfindung der Republikaner über das Auswahlverfahren noch nicht geklärt war. Für die Partei wuchs damit der Druck, einen Kompromiss zu finden: Mit der Durchführung einer offenen Vorwahl ohne Bertrand hätte man internen Streit und eventuell auch seine eigenständige Kandidatur – parallel zur offiziellen LR-Kandidatur – riskiert. Es ist davon auszugehen, dass die Mitglieder diese Risiken im Hinterkopf hatten, als sie am 25. September 2021 mehrheitlich für die Durchführung einer geschlossenen Vorwahl votierten.

Im Gegensatz zu den Sozialisten und Republikanern hat innerhalb der Grünen kein Bewerber das Verfahren der offenen Vorwahl in Frage gestellt. Der aussichtsreiche Kandidat und letztendliche Sieger Yannick Jadot selbst war es, der nach Aussage eines Vorstandsmitglieds sich frühzeitig dafür einsetzte, „eine Wahl zwischen allen Aktivisten von Umweltorganisationen vorzunehmen, die im sogenannten 'pole écolo' zusammengefasst sind.“ Auch die weiteren Kandidaturbewerber der 2021 durchgeführten Vorwahl Sandrine Rousseau (EELV), Delphine Batho (Génération écologique, GE), Éric Piolle (EELV) und Jean-Marc Governatori (Cap écologie, CE) stellten die Durchführung des offenen Auswahlverfahrens nicht in Frage, so dass sich innerparteiliche Debatten darüber erübrigten.

Hindernisse für die Durchführung offener Vorwahlen

Bei den Grünen konnten keine Hindernisse festgestellt werden, die der Durchführung einer offenen Vorwahl im Wege standen. Aufgrund ihrer Entscheidung, Online-Wahlen durchzuführen, hielten sich materielle und personelle Kosten gering. Bei der letzten Präsidentschaftswahl hatten sich die Grünen dazu entschlossen, den Sozialisten Hamon zu unterstützen, weshalb sie und ihr Vorwahlsieger Jadot, keine direkte Wahlniederlage zu erleiden hatten. Doch selbst wenn es zu einer solchen gekommen wäre, ist davon auszugehen, dass die Grünen damit anders umgegangen wären als die Sozialisten oder Republikaner. Schließlich sind sie – zumindest, was die Präsidentschaftswahlen betrifft – nicht gerade erfolgsverwöhnt: 2007 erhielt Dominique Voynet (Les Verts) und 2012 Eva Joly (EELV) im ersten Wahlgang jeweils 2,3 Prozent der Stimmen. Vor diesem Hintergrund wäre die Angriffsfläche gegenüber dem Vorwahlverfahren selbst im Falle eines schlechten Wahlergebnisses gering gewesen und es verwundert folglich auch nicht, dass keiner der Bewerber das offene Auswahlverfahren im Vorfeld kritisierte oder auch nur in Frage stellte.

Im Gegensatz dazu sind bei den Sozialisten und Republikanern erhebliche Hürden auszumachen, die einer offenen Vorwahl hinderlich waren und die als maßgebend für die erneute Durchführung mitgliederinterner Auswahlverfahren zu werten sind. Für beide Parteien spielten die schlechten Wahlergebnisse im Zuge der letzten Präsidentschaftswahlen und das damit verbundene Ausscheiden nach dem ersten Wahlgang eine wichtige Rolle für den Verfahrenswechsel. Besonders drastisch fiel die Wahlschlappe (trotz Unterstützung der Grünen) bei den Sozialisten aus, die auch auf erhebliche interne Spaltungen zwischen dem linken („Frondeurs“) und rechten Parteiflügel zurückzuführen war. Die schnell fokussierte Abkehr der Parteiführung von dem Verfahren der offenen Vorwahl ist als Folge dieser negativen Erfahrungen zu verstehen, die sich in der PS deutlicher abzeichnete als bei den Republikanern. Bei letzteren wurde das offene Vorwahlverfahren erst mit der Ablehnung des Kandidaturbewerbers Bertrand in Frage gestellt, an einer offenen Vorwahl teilzunehmen, so dass diese als Auslöser für die letztendliche Durchsetzung parteiinterner Wahlen gewertet werden kann. Zwar äußerte sich auch die Sozialistin Hidalgo kritisch gegenüber einer offenen Vorwahl, ihre Haltung entsprach aber der innerparteilich bereits vorherrschenden Linie, von diesem Verfahren abzukehren. Hidalgo stieß die Debatte zur Verfahrensänderung demnach nicht an, sondern führte sie lediglich fort.

Selbst wenn die Sozialisten im Zuge der Präsidentschaftswahl 2017 bessere Erfahrungen gemacht hätten und alle innerparteilichen Kandidaturinteressenten mit einer offenen Vorwahl einverstanden gewesen wären, hätten sie vor der Herausforderung gestanden, nach immensen Mitgliederverlusten ausreichend Wählerinnen und Wähler für die offene Vorwahl zu mobilisieren, um die mit der Durchführung verbundenen Kosten zu decken. Inwiefern ihnen dies gelungen wäre, ist schwer abzuschätzen. Festzustellen ist allerdings, dass die organisatorischen Voraussetzungen für die Durchführung einer offenen Vorwahl bei den Republikanern vergleichsweise besser waren: Sie hatten im Vorfeld der Kandidatenaufstellung eine größere Mitgliederbasis als die Sozialisten und haben bei ihrer letzten Vorwahl im Jahr 2016 gezeigt, dass sie mehr als das doppelte an Wählerinnen und Wähler zur Stimmabgabe mobilisieren konnten, als es für die Kostendeckung notwendig gewesen wäre

Insgesamt wird deutlich, dass die Entscheidungen für oder gegen die Durchführung offener Vorwahlen hauptsächlich auf die internen Zustände der Parteien zurückzuführen sind. Das vordergründige Ziel der Verfahrenswahl war es, vor der Präsidentschaftswahl innerparteiliche Geschlossenheit zu generieren. Auf die erstarkten Grünen traf dies prinzipiell schon vor der Kandidatenauswahl zu, so dass eine offene Vorwahl nicht sehr risikoreich erschien und positive Effekte, wie zum Beispiel eine starke Medienpräsenz, versprach. Sozialisten und Republikaner, die personell und elektoral an Zugkraft verloren haben, befürchteten hingegen, eine offene Vorwahl könnte bestehende interne Spaltungen verstärken. Offene Vorwahlen erweisen sich daher als ein zweischneidiges Schwert: Sie sind ein potenzielles Sprungbrett für Parteien in guter Verfassung, aber auch keine Zauberformel für einen Wahlsieg.

Das Ende offener Vorwahlen?

Das Verfahren offener Vorwahlen spielt in Frankreich erst seit etwa zehn Jahren eine Rolle. Führt die Abkehr der Sozialisten und Republikaner von diesem Verfahren dazu, dass es wieder bedeutungslos wird? Dafür spricht wenig.

So ist zunächst einmal festzuhalten, dass die interne Vorwahl der Republikaner auch als „halboffen“ beschrieben werden könnte: Abstimmen durften zwar ausschließlich Parteimitglieder, so dass die Vorwahl formal geschlossen stattfand, allerdings konnten sich Parteilose noch einige Tage vor der Wahl als Mitglied registrieren, um bei der internen Vorauswahl stimmberechtigt zu sein. Dies führte, zweifellos von den Republikanern intendiert, zu einem rasanten Zuwachs von 70.000 Mitgliedern im Vorfeld der Kandidatennominierung. Es ist unwahrscheinlich, dass die Neumitglieder den Republikanern auch dauerhaft erhalten bleiben, kurzfristig konnten sie ihre Mitgliederzahlen jedoch verdoppeln.33 Dazu beigetragen haben sicherlich auch die vier TV-Debatten zwischen den fünf LR-Bewerbern, die allesamt im November stattfanden und die zum Teil von über einer Million Zuschauern verfolgt wurden. Das Vorgehen zeigt, dass die Republikaner trotz des exklusiveren Auswahlverfahrens bemüht waren, die Öffentlichkeit in den Prozess einzubeziehen. Auch die relativ knappe Mitgliederentscheidung gegen eine offene Vorwahl (58 Prozent) signalisiert, dass deren künftige Anwendung nicht kategorisch auszuschließen ist.

Darüber hinaus sind auch bei den Sozialisten Tendenzen zu erkennen, das Prinzip der offenen Vorwahl nicht ad acta zu legen. So lässt zum Beispiel die Satzungsänderung vom Sommer 2021 vor jeder Wahl ein nationales Parteigremium (Congrès national) darüber entscheiden, welches Auswahlverfahren künftig zur Anwendung kommt. Damit ist sowohl die Durchführung von offenen als auch von geschlossenen Vorwahlen möglich. Hätte sich die PS vom offenen Auswahlprozess verabschieden wollen, hätte sie dies tun können, indem sie in der Satzung ausschließlich die Durchführung interner Wahlen zur Kandidatennominierung erlaubt hätte. Zudem gab es im Dezember 2021, nach der geschlossenen Vorauswahl, von Anne Hidalgo und Arnaud Montebourg (L‘Engagement, ehemalig PS) doch noch den Versuch, eine offene Vorwahl für die Nominierung eines gemeinsamen Links-Kandidaten zu organisieren. Laut einer Umfrage wurde dieser Vorstoß von 73 Prozent der Sympathisanten linker Parteien (EELV, PS, LFI) für gut befunden.34 Dies zeigt, dass offene Vorwahlen nach wie vor als Vehikel angesehen werden, (parteiübergreifende) Geschlossenheit zu generieren. Allerdings hätte eine offene Vorwahl für die Kür eines Links-Kandidaten von den Parteien gemeinsam und frühzeitig organisiert werden müssen. Zum Zeitpunkt der Ankündigung Hidalgos und Montebourgs hatten die meisten Parteien des linken Spektrums bereits ihre Präsidentschaftskandidaten offiziell benannt, so auch EELV und LFI, so dass der Appell entsprechend ohne Wirkung blieb.

Mit der „primaire populaire“ wollten parteiexterne Akteure Ende Januar 2022 umsetzen, was die Parteien zuvor nicht geschafft hatten: Die Aufstellung eines gemeinsamen Kandidaten der französischen Linken mittels offener Vorwahl. Dieses Unterfangen ist insofern kritisch zu betrachten, als drei der insgesamt sieben präsentierten Kandidaten (Hidalgo, Jadot und Mélenchon) zur Wahl standen, obwohl sie an dieser nicht teilnehmen wollten. Vor diesem Hintergrund verwundert nicht, dass die Siegerin der Vorauswahl, Christiane Taubira (Parti radical de gauche, PRG), von diesen Kandidaten und „ihren“ Parteien trotz der rund 400.000 Stimmen, mit denen sie gewählt wurde, nicht als alleinige Links-Kandidatin anerkannt wurde. Am 2. März 2022 zog sie ihre Kandidatur zurück, nachdem sich abzeichnete, dass sie die für ihre Kandidatur notwendigen 500 Unterstützerunterschriften von gewählten Politikern nicht zusammenbekam. Die Organisatoren der Vorwahl entschieden sich daraufhin, Jean-Luc Mélenchon (LFI) zu unterstützen.35

Die Entwicklungen der Vorauswahlprozesse sind für die Parteien des linken Parteienspektrums im Speziellen und für die Parteien im Allgemeinen als Warnung zu begreifen. Sie verdeutlichen erstens, dass die links im Parteienspektrum einzuordnenden Parteien aktuell nicht bereit sind, für den gemeinsamen Erfolg zu kämpfen. Vielmehr wurde mit der Schwäche der Sozialisten die Vorherrschaft der französischen Linken neu in Frage gestellt, die vor der Präsidentschaftswahl 2022 nicht nur durch die „primaire populaire“ mit Kandidatin Taubira, sondern auch von den (erstarkten) Grünen beansprucht wurde. Gemäß einem Vorstandsmitglied der Grünen war innerhalb der Partei frühzeitig klar, dass „wir uns als Dreh- und Angelpunkt einer möglichst breiten Sammlung aufstellen würden.“ Jeder könne sich anschließen − und dies gelte „insbesondere für einen gewissen Teil der Linken.“ Mit anderen Worten: Wir sind offen für Unterstützung aus anderen linken Parteien, geben aber die Richtung vor. Bislang zeichnet sich noch nicht ab, welche Partei den Kampf um die Vorherrschaft gewinnen wird, doch sind die Parteien aus wahltaktischen Gründen gut beraten, ihre Kräfteverhältnisse untereinander schnell zu klären, will man der französischen Rechten künftig etwas entgegensetzen.

Zweitens sollten die Parteien generell darauf bedacht sein, ihre Gestaltungsmacht bei der Kandidatenauswahl nicht an parteiexterne Akteure zu verlieren. Dies würde ihre durch Mitgliederschwund und Anti-Parteien-Affekt bereits geschwächte Stellung weiter untergraben. Die Planung und Umsetzung der „primaire populaire“ steht für eine solche Tendenz. Entgegengewirkt wird ihr bislang durch die 500 Unterstützungsunterschriften, die jeder Kandidat und jede Kandidatin von gewählten (Partei-)Politikern für die Präsidentschaftskandidatur benötigt. Für Personen, die außerhalb von Parteien aufgestellt werden (wie zum Beispiel Christiane Taubira), stellen die Unterstützerunterschriften oft eine unüberwindbare Hürde dar. Für die französische Parteiendemokratie ist diese Hürde wichtig: Fällt sie weg, wie es derzeit besonders stark diskutiert wird, drohen die Parteien bei der bedeutendsten Wahl Frankreichs nur noch eine Statistenrolle einzunehmen.


Anmerkungen

1 Wir danken unseren Interviewpartnern, die uns ihre Zeit zur Verfügung gestellt haben, um uns einen besseren Einblick darüber zu geben, wie die französischen Parteien ihren Kandidaten oder ihre Kandidatin für das Präsidentenamt bestimmt haben.

2 Dieser Einfluss ist so stark, dass diese Wahlen manchmal als "Honeymoon-Wahlen" bezeichnet werden, um zu verdeutlichen, dass die Wählerinnen und Wähler zu Beginn der Amtszeit noch ausreichend in ihren neuen Präsidenten "verliebt" sind, um ihm eine absolute Mehrheit zu verschaffen: Für 2017 siehe beispielsweise Jocelyn Evans und Gilles Ivaldi, "An atypical 'honeymoon' election? Contextual and strategic opportunities in the 2017 French legislative elections", French Politics, 15, 2017, S. 322-339, oder Robert Elgie, "Honeymoon legislative election returns a huge majority for President Macron. Of course it does!", blog post, 2017: https://presidential-power.net/?p=6617. Für einen umfassenderen Blick auf die Kombination von allgemeinen Direktwahlen zum Präsidenten und Parlamentswahlen siehe Robert Elgie, Cristina Bucur, Bernard Dolez und Annie Laurent, Proximity, Candidates, and Presidential Power: How Directly Elected Presidents Shape the Legislative Party System, Political Research Quarterly, Vol 67, Issue 3, 2014, S. 467-477.

3 Für einen Überblick zur Entwicklung der Kandidatenaufstellung in Frankreich siehe Thibault Muzergues, Candidate (S)Election In France: The Long Road Toward (And Away From) Open Primaries, in: ders. und Dan Scaduto (Hrsg.), Standing Out from the Crowd Political Parties’ Candidate (S)election in the Transatlantic World, Washington, International Republican Institute, 2022, S. 32-42.

4 Obwohl er für die Wahl 2022 seine Kandidatur selbst angekündigt hat, machte er diese von der Bedingung abhängig, dass er 150.000 Unterstützungsschreiben von Bürgerinnen und Bürgern auf einer Online-Plattform erhält. Diese Unterstützungen konnte er innerhalb von vier Tagen vorweisen.

5 Im Gegensatz zu den Parteien in Deutschland ist die Mitgliederzahl der französischen Parteien nur selten genau bekannt: In fast allen Fällen können nur Annäherungswerte genannt werden, die auf den Aussagen der Parteivorsitzenden beruhen. Sicher ist allerdings, dass die französischen Parteien deutlich weniger Mitglieder haben als die deutschen Parteien. Während die CDU und die SPD im Jahr 2020 jeweils um die 400.000 Mitglieder zählten, hatten die Republikaner (LR) Anfang 2021 rund 65.000 Mitglieder, eine Mitgliederstärke, die mit der FDP oder der Partei Die Linke vergleichbar ist. Die Sozialisten (PS) haben ungefähr 40.000 Mitglieder, knapp doppelt so viele wie der Rassemblement National (RN) mit rund 20.000 bis 25.000 Mitgliedern. In den letzten Jahren haben alle drei Parteien (PS, LR und RN) stark an Mitgliedern verloren: minus 130.000 Mitglieder in zehn Jahren für die PS, minus 175.000 in fünf Jahren für LR und minus 60.000 in fünf Jahren für RN. Für die Partei, die Präsident Macron gegründet hat (La République en Marche, LREM), ist ein Vergleich nicht möglich: Zwar behauptete die Partei 2017, 400.000 Mitglieder zu haben, doch handelt es sich dabei nur um kostenlose Online-Mitgliedschaften, die nichts über die tatsächliche Mitliederzahl der Partei aussagen. Seitdem hat die Partei keine Angaben zu ihrer Mitgliederzahl gemacht − einigen Journalisten zufolge könnte sie bei rund 20.000 liegen.

6 Siehe Eric Treille, La fabrication partisane des primaires socialistes ou la codification d’une nouvelle règle du jeu électoral, in: Rémi Lefevbre und Eric Treille (Hrsg.), Les Primaires Ouvertes en France. Adoption, codification, mobilisation, Rennes 2016, S. 41-64.

7 Wie die Entscheidung für offene Vorwahlen bei den Republikanern und Sozialisten zustande kam, wird detailiert geschildert in Rémi Lefevbre und Eric Treille, Le déclenchement des primaires ouvertes chez les Républicains et au Parti socialiste. Entre poids du précédent de 2011 et bricolages organisationnels (2016-2017), Revue française de science politique, Jg. 67 (2017), H.6, S. 1167-1185.

8 Die Kandidatin, Charlotte Marchandise, erhielt zum Schluss nicht die nötigen Unterstützerunterschriften, die es bedarf, um bei den Präsidentschaftswahlen anzutreten. Ausführlich zur Initiative siehe Rémi Lefebvre, LaPrimaire.org : une démarche citoyenne à l’épreuve des règles du jeu politique, in : Quaderni, Jg. 101 (2020), S. 119-138.

9 Leider konnte kein Vorstandsmitglied von Les Républicains interviewt werden.

10 Die Zitate der Interviewpartner wurden aus dem Französischen übersetzt und sind im Text kursiv hervorgehoben.

 11 Geoffroy Clavel, La primaire de la droite et du centre coûtera 8 millions d’euros, Huffingtonpost vom 5. Oktober 2016, https://www.huffingtonpost.fr/2016/03/17/primaire-droite-centre-coutera-8-millions-euros_n_9483802.html

 12 Vincent Michelon, Combien va rapporter la primaire de la droite et du centre, TF1 vom 27. November 2016, https://www.lci.fr/elections/elle-est-deja-rentabilisee-combien-va-rapporter-la-primaire-de-la-droite-et-du-centre-2014592.html

 13 Anne Laëtitia Béraud, Présidentielle: 1, 2 ou 5 euros, pourquoi le prix de la participation aux primaires varie autant ?, 20 minutes vom 8. September 2016, https://www.20minutes.fr/politique/1920515-20160908-presidentielle-1-2-5-euros-pourquoi-prix-participation-primaires-varie-autant

14 Léa Sanchez; Mathilde Damgé; Agathe Dahyot, 30 % des départs en cinq ans: au parti socialiste, la fuite massive des cadres, Le Monde vom 11. Februar 2020, https://www.lemonde.fr/les-decodeurs/article/2020/02/11/30-de-departs-en-cinq-ans-au-parti-socialiste-la-fuite-massive-des-cadres_6029124_4355770.html

15 Während bei der republikanischen Vorwahl im Jahr 2016 ein knappes Viertel (22,0 Prozent) der abstimmenden Nicht-Parteimitglieder über 65 Jahre alt waren, waren es unter den abstimmenden Mitgliedern über ein Drittel (36 Prozent). Vgl. Fourquet, Jérôme; Le Bras, Hervé: La Guerre de trois. La Primaire de la droite et du centre, Paris 2017, S. 77.

16 Neben der PS beteiligten sich die Parteien Union des démocrates et des écologistes (UDE), Parti écologiste (PE), Front démocrate (FD) und später auch die Parti radical de gauche (PRG) an der offenen Vorwahl.

17 Neben LR beteiligte sich auch die Parti chrétien-démocrate (PCD) sowie die Partei Centre national des indépendants et paysans (CNIP) an der offenen Vorwahl.

18 Detailliert nachzulesen in Lecomte, Damien et al., Le respect de la boutique. L'étiolement de la discipline partisane dans le groupe parlementaire socialiste au cours de la 14e législature (2012-2017) », in : Politix, 117, 2017/1, pp. 171-199.

19 Wie diese internen Spaltungen die Stimmabgabe bei der Vorwahl im Detail beeinflusst haben, ist nachzulesen im ECPR-Konferenzbeitrag von Arthur Delaporte, The Failure of the French Left Open Primary in 2017 - Case study: an analysis at the departmental level, 2020, Panel 265.

20 N.N., Cambadélis, Valls et Le Foll actent la mort du Parti socialiste, Le Figaro vom 2. Mai 2017,
https://www.lefigaro.fr/elections/presidentielles/2017/05/02/35003-20170502ARTFIG00073-cambadelis-valls-et-le-foll-actent-la-mort-du-parti-socialiste.php

21 Übersetzung ins Deutsche aus der Rede von Olivier Faure, Parteivorsitzende der Sozialistischen Partei, auf dem Kongress in Aubervilliers am 8. April 2018. Zum Lesen der vollständigen Rede: https://ps56.fr/discours-olivier-faure-aubervilliers/

22 Parti socialiste, Réforme des statuts, August 2021, https://www.parti-socialiste.fr/r_forme_des_statuts

23 Victor Boiteau, Stéphane Le Foll insisite, il veut une primaire chez les Socialistes, Libération vom 26. August 2021, https://www.liberation.fr/politique/stephane-le-foll-insiste-il-veut-une-primaire-chez-les-socialistes-20210826_KRQH6N75LRCSVP5CIT4IFQYI24/

24 Alexandre Lemarié, Affaire Fillon: ces « Plans B » qui risque de faire exploser la droite, Le Monde vom 3. Februar 2017, https://www.lemonde.fr/affaire-penelope-fillon/article/2017/02/03/affaire-fillon-l-impossible-plan-b_5073800_5070021.html

 

25 Übersetzung ins Deutsche, siehe TV5Monde vom 6. Februar 2017, François Fillon reste candidat, https://information.tv5monde.com/info/francois-fillon-conference-de-presse-en-direct-152794

26 Madeleine Meteyer, Après la déroute de Fillon, la droite regrette les effets pervers de la primaire, Le Figaro vom 25. April 2017, https://www.lefigaro.fr/elections/presidentielles/2017/04/25/35003-20170425ARTFIG00151-apres-la-deroute-de-fillon-la-droite-regrette-les-effets-pervers-de-la-primaire.php

27 N.N., Xavier Bertrand : « Je ne serai pas candidat à une primaire », Le Point.fr vom 6. Juli 2021, https://www.lepoint.fr/politique/xavier-bertrand-je-ne-serai-pas-candidat-a-une-primaire-06-07-2021-2434483_20.php

28 Laurent de Boissieu, Les Républicains enterrent la primaire ouverte, La Croix vom 25. September 2021, https://www.la-croix.com/France/Republicains-enterrent-primaire-ouverte-2021-09-25-1201177270

29 Yannick Alimi, Chez EELV, des adhérents plus nombreux et plus jeunes, Le Parisien vom 20. August 2020, https://www.leparisien.fr/politique/chez-eelv-des-adherents-plus-nombreux-et-plus-jeunes-20-08-2020-8370429.php

30 Christian Wernicke, Frankreichs Sozialisten droht der Untergang, SZ vom 30. Januar 2017, https://www.sueddeutsche.de/politik/benoit-hamon-frankreichs-sozialisten-drohen-unterzugehen-1.3355670

 31 N.N., Benoît Hamon, vainqueur inattendu de la primaire à gauche, Le Monde vom 29. Januar 2017, https://www.lemonde.fr/primaire-de-la-gauche/article/2017/01/29/benoit-hamon-vainqueur-inattendu-de-la-primaire-a-gauche_5071051_5008374.html

 32 Übersetzung ins Deutsche aus: N.N., Présidentielle 2022 : « pas favorable à une primaire », Anne Hidalgo prendra sa décision à l’automne, Le Nouvel Observateur vom 2. Mai 2021, https://www.nouvelobs.com/election-presidentielle-2022/20210502.OBS43538/presidentielle-2022-pas-favorable-a-une-primaire-anne-hidalgo-prendra-sa-decision-a-l-automne.html#

33 N.N., Présidentielle. Près de 150 000 adhérents pourront voter au congrès des Républicains, Ouest-France vom 17. November 2021, https://www.ouest-france.fr/elections/presidentielle/presidentielle-pres-de-150-000-adherents-pourront-voter-au-congres-des-republicains-0c913aee-47db-11ec-adcb-13dc6f47ae64

34 Umfrage Ipsos-Sopra Steria für France 2, Les candidatures à gauche en vue de l’élection présidentielle, Dezember 2021, Ergebnisse abrufbar unter: https://bit.ly/3NXthIP

35 N.N., Présidentielle 2022: l’équipe de la primaire populaire annonce soutenir la candidature de Jean-Luc Mélenchon, Le Monde vom 5. März 2022, https://www.lemonde.fr/election-presidentielle-2022/article/2022/03/05/presidentielle-2022-l-equipe-de-la-primaire-populaire-annonce-soutenir-la-candidature-de-jean-luc-melenchon_6116306_6059010.html

Die Erstveröffentlichung des Beitrags erfolgte auf der Website des Instituts für Parlamentarismusforschung https://www.iparl.de/de/, Blickpunkt Nr. 7 / März 2022: https://www.iparl.de/de/ver%C3%B6ffentlichungen/blickpunkt.html?file=files/iparl/IParl_Blickpunkt_7.pdf

CC-BY-NC-SA
Neueste Beiträge aus
Repräsentation und Parlamentarismus

Externe Veröffentlichungen

Nina Belz / Judith Kormann / Eike Hoppmann / 01.04.2022

Die neusten Entwicklungen

Neue Züricher Zeitung

 

Sören Soika / Fabian Wagener / 30.04.2022

Starke Kandidaten, schwache Parteien?

Konrad-Adenauer-Stiftung

 

Pascal Thibaut / 31. März 2022

Begrenzter Zauber

IPG-Journal

 

Romy Straßenburg / 28. 03.2022

Auf rechten Abwegen

Heinrich-Böll-Stiftung

 

Sylvie Strudel / 28.03.2022

„Das Rennen ist alles andere als schon entschieden“

Heinrich-Böll-Stiftung

 

Christophe Sente / Timothée Duverger / 28.03.2022

Großes Kino

IPG-Journal