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Sammelrezension / 07.04.2020

Die Bundestagswahl 2017. Ein zwiespältiges Bild?

Die beiden Sammelbände zur Bundestagswahl 2017 von Sigrid Roßteutscher et al. sowie Christina Holtz-Bacha bieten eine Fülle von durchaus informativen Einzelstudien über diverse Facetten des Wahlkampfgeschehens. Auffällig erscheint, schreibt Thomas Mirbach, dass die Beiträge – trotz aller Unterschiede hinsichtlich verwendeter Daten und methodischer Ansätze – auf die Frage, ob beharrende oder polarisierende Effekte überwogen, doch eine sehr ähnliche Antwort geben: Die vielfach vermuteten Tendenzen der Polarisierung zeichneten sich in den erhobenen Daten nicht ab.

bundestag felix mittermeier2463248 640Glaskuppel des Reichstagsgebäudes, Foto: Felix Mittermeier / Pixabay

 

In vielerlei Hinsichten bewegte sich die Bundestagswahl 2017 im Rahmen des Erwarteten: Die SPD hat nicht gewonnen, die CDU konnte wiederum vom Amtsbonus der Kanzlerin profitieren, die Große Koalition galt in Umfragen zwar nicht als erste Präferenz der Befragten, wohl aber als wahrscheinliches Ergebnis des Wahlausgangs und der Stimmenanteil der Volksparteien war weiterhin rückläufig. Doch in der medialen Beobachtung, die dem Wahlgeschehen vielfach das Prädikat „langweilig“ verlieh, sind zugleich auch Anzeichen einer erheblichen Abweichung vom gewohnten Pfad registriert worden. Dazu gehörten – abgesehen vom weithin befürchteten Wahlerfolg der AfD – einerseits die Ausweitung des im Parlament vertretenen Parteienspektrums (und dementsprechend höheren ‚Kosten’ für die Koalitionsbildung) und andererseits die schwer einschätzbaren Folgen einer zunehmenden Digitalisierung der politischen Kommunikation. Der vermehrte Einsatz digitaler Technologien nämlich – so die Annahmen – begünstige Polarisierungen und ebne den Unterschied zwischen öffentlicher und privater Kommunikation. Dieses auch im Rückblick zwiespältige Bild von Verlauf und Ergebnissen der letzten Bundestagswahl ist Gegenstand zweier aktueller Sammelbände, die – so viel sei vorweg gesagt – die beobachteten Ambivalenzen sehr wohl zur Kenntnis nehmen, aber deren Bedeutung eher relativieren.

Bei der von Sigrid Roßteutscher et al. herausgegebenen Publikation handelt es sich nach 2009 und 2013 um die dritte ausführliche Bundestagswahlanalyse im Rahmen der von der Deutschen Gesellschaft für Wahlforschung e.V. initiierten German Longitudinal Election Study (GLES); auf Basis des übergreifenden Untersuchungsansatzes werden Datensätze der beiden früheren Bundestagswahlen zu Vergleichszwecken herangezogen. Die GLES repräsentiert zweifellos den Standard der klassischen empirischen Wahlforschung, die dem sozialpsychologischen Ansatz des Michigan-Modells folgt. Damit ist, kurz gesagt, eine kausale Erklärung des Wahlverhaltens beabsichtigt, die langfristige Faktoren (sozialstrukturelle Merkmale, Parteibindung, ideologische Positionen) mit eher kurzfristigen Faktoren (unter anderem Bewertungen von Kandidaten, Programmen, strittigen Themen) des Elektorats verknüpft, wobei die Bedeutung der kurzfristigen Faktoren mit der Dauer des Wahlkampfes tendenziell steigt (345 ff.). Die 24 Beiträge (der 37 Autoren) des Bandes – durchgehend sehr differenzierte Partialanalysen – behandeln der Hauptsache nach den Ablauf des Wahlkampfes, generelle Aspekte des Wählerverhaltens und sehr ausführlich wesentliche Merkmale, die die Wahlentscheidung für einzelne Parteien beeinflussen.

Auch bei den früheren GLES-Analysen sollten mit der Entscheidung für die Titel markante kontrastierende Eigenschaften des jeweiligen Wahlkampfes hervorgehoben werden – nach „Zwischen Langeweile und Extremen“ (BT-Wahl 2009, vgl. Rattinger et al. 2011) und „Zwischen Fragmentierung und Konzentration“ (BT-Wahl 2013, vgl. Schmitt-Beck et al. 2014) lautet die Formel jetzt „Zwischen Polarisierung und Beharrung“. Das dabei leitende Deutungsschema springt ins Auge: Einer für Kontinuität stehenden Entwicklung werden widersprechende Tendenzen gegenübergestellt, wobei das Verhältnis zwischen den benannten Polen zunächst offenbleibt. 2017 jedenfalls werden die Abweichungen von der Kontinuität im Parteienwettbewerb wesentlich in einer mit dem Auftreten der AfD verbundenen aggressiven Politisierung der Agenda gesehen, darüber hinaus gelten Digitalisierung, Akzeptanz populistischer Einstellungen und Personalisierung des Wahlkampfs als potenziell verstärkende Effekte.

Den langfristigen Faktoren des Wahlverhaltens wird in der Tendenz eine anhaltende und (noch) überwiegende Geltung zugesprochen. Das gilt für die über die strukturellen Konfliktlinien vermittelte soziale Differenzierung der Wählerschaft. Auch wenn diese Zusammenhänge heute sehr viel schwächer ausfallen als in den 1970er-und 1980er-Jahren, so prägen konfessionell-religiöse Faktoren (deutlich zugunsten der Unionsparteien) und gewerkschaftlicher Organisationsgrad der Arbeitnehmerschaft (auf geringerem Niveau zugunsten der SPD) immer noch nachweisbar das Wahlverhalten (189 ff.). Entgegen verbreiteter Annahmen eines weitgehenden Schwunds von Parteiidentifikation ist – wie auch 2009 und 2013 – eine deutliche Mehrheit der Wähler parteipolitisch gebunden (207 ff.) und auch hinsichtlich der Links-Rechts-Unterscheidung stuft sich die Mehrheit weiterhin in der ideologischen Mitte des Spektrums ein (291 ff.). Im Kontrast zu diesen Stabilität signalisierenden Indikatoren sollte das Wahlergebnis 2017 in längerfristiger Perspektive zugleich als Zäsur im deutschen Parteiensystem gelesen werden (375). Die Volatilität im Wählerverhalten – also die Veränderung der Stimmenanteile der Parteien zwischen zwei Wahlen – hat einen Höchststand erreicht; der Stimmenanteil von Union und SPD liegt nur noch knapp über der absoluten Mehrheit und die Fragmentierung des Parteiensystems hat ein Ausmaß, das dem Stand von 1949 entspricht (123 ff.).

Was sind die aktuellen Treiber dieses Differenzierungsprozesses? Für die Autorinnen und Autoren der GLES werden die bisherigen Effekte der Digitalisierung in der öffentlichen Debatte eher überschätzt; das gilt ebenso für die Nutzung von Online-Medien (63 ff.) wie für die Verbreitung von sogenannten Filter Bubbles im Internet (97 ff.). Zwar spielte die Bewertung der Spitzenkandidaten auch 2017 eine Rolle, aber in geringerem Maße als 2009 und 2013. Insgesamt liefern die aktuellen Daten keinen Hinweis auf eine stärkere Personalisierung des Wahlverhaltens. Damit bleiben als Beleg der Polarisierung vor allem die Stimmengewinne der AfD – und hier entwerfen die Autor*innen eine Erklärung, die sich von anderen einschlägigen Einstellungserhebungen doch deutlich unterscheidet (vgl. Zick et al.). Der Erfolg der AfD beruhte „eindeutig nicht auf einer zunehmend rechten Positionierung der Wählerschaft“ (379); die AfD habe es vielmehr vermocht – angesichts der seit 2015 erfolgten Einengung strittiger Sachfragen auf das Thema Zuwanderung (229 ff.) – ein Angebot vorzuhalten, das für Wähler mit ausgeprägt populistischen Einstellungen (295 ff.) und die sich zudem explizit rechts im ideologischen Spektrum verorten, weit überdurchschnittlich attraktiv war.

Während bei der GLES-Studie auf Basis empirisch verfügbarer Daten ein Bild der Bundestagswahl 2017 entsteht, das eher die beharrenden Faktoren betont, versuchen die Autor*innen des zweiten Sammelbandes stärker jene Veränderungen in den Blick zu nehmen, die sich – vermittelt über die digitalen Medien – in Form und Qualität der politischen Kommunikationen abzeichnen. Zwar sei „die digitale Revolution dieses Mal noch ausgeblieben“ – so Christina Holtz-Bacha in ihrer Einleitung – aber wir sollten uns darauf einstellen, dass Wahlkämpfe künftig „unübersichtlicher, vor allem negativer werden“ (20). Zweifellos hat eine darauf zugeschnittene Untersuchung von Funktionsweisen und Effekten der (Massen-)Medien eine ebenso gesellschafts- wie demokratietheoretisch hohe Bedeutung; die Frage wäre dann, wie sich negative Entwicklungen empirisch identifizieren lassen und wem sie gegebenenfalls – der Technologie, spezifischen Nutzergruppen oder dem Mediensystem – zugerechnet werden können.

Von den 13 Beiträgen des Bandes greifen drei explizit die Verwendung digitaler Medien im Wahlkampf auf. Mit der Bedeutung von Social Networks Sites befasst sich André Haller anhand der Reichweiten von Facebook-Auftritten der Parteien und ihres Spitzenpersonals. Eine Auswertung von User-Reaktionen belegt, dass die AfD mit weitem Abstand vor der Partei Die Linke über die höchste Reichweite (gemessen an Like-, Share- und Engagementzahlen) verfügt; die quantitative Anlage der Untersuchung lässt allerdings keine Aussagen über mögliche Motive der User der entsprechenden Seiten zu. Zwar haben CDU und SPD deutlich stärker als in früheren Wahlkämpfen auf Mobilisierungsstrategien gesetzt, die On- und Offline-Kommunikation verbinden, aber es scheint – wie Jörg Hassler und Simon Kruschinski zeigen – bisher noch der Modus klassischer Kampagnenbotschaften zu überwiegen. Im Vorfeld des Wahlkampfes bestanden erhebliche Befürchtungen, dass über spezielle Algorithmen, die individuelle Akteure simulieren, ein verdeckter externer Einfluss auf den Wahlausgang genommen werden könnte. Mit aufwendiger Methodik versuchen Fabian Pfaffenberger et al. sich diesem Phänomen der Political Bots am Beispiel von Twitter zu nähern. Abgesehen von dem Ergebnis, dass die AfD mindestens durch bot-ähnliche Aktivitäten auffällt, scheint es wenig Anzeichen einer drohenden flächendeckenden Ausbreitung derartiger Praktiken in der Medienberichterstattung zu geben. Auch die eher deskriptiven Untersuchungen klassischer Kommunikationskanäle – Einsatz von Wahlplakaten und Fernsehwerbung – bestätigen die entsprechenden Befunde der GLES-Studie einer bisher nur eingeschränkten Nutzung digitaler Potenziale seitens der Parteien.

In weiteren Beiträgen geht es – überwiegend auf der Basis von Inhaltsanalysen im Langzeitvergleich – um einzelne Aspekte der Operationsweise der Massenmedien im Wahlkampf. Die Wahlkampfberichterstattung hat 2017 in den überregionalen Tageszeitungen mehr Raum erhalten als 2009 und 2013. Dabei blieb – so Melanie Leidecker-Sandmann und Jürgen Wilke – die Kandidatenkonstellation weiterhin der Schwerpunkt der Artikel, aber die Printmedien haben sich in geringerem Maße als früher auf Meinungsbefragungen der Demoskopie bezogen (Holtz-Bacha). Über die Wahlwerbung der Parteien – in erster Linie die traditionellen Formate Plakate, TV-Spots und Veranstaltungen – ist von den Online-Nachrichtenmedien umfangreich und in der Tendenz eher mit negativer Wertung berichtet worden (Stephanie Geise et al.). In Ihrer Berichterstattung betonen öffentlich-rechtliche Programme stärker Sach/index.php?option=com_content&view=article&id=41317, während die privaten den Aspekt des horse-race in den Vordergrund rücken, aber ein Vergleich von acht Wahljahren der TV-Berichterstattung zeigt, dass sich die öffentlich-rechtlichen Medien dem bildlastigen Präsentationsmodus der privaten angepasst haben (Reimar Zeh/ Winfried Schulz). Anregend ist die von Christoph Tapper und Thorsten Quandt vorgelegte dialoganalytische Untersuchung des TV-Duells zwischen Angela Merkel und Martin Schulz, die einerseits in der Gesprächsführung eine unterschwellige Benachteiligung des Herausforderers belegt und andererseits – angesichts der Fragmentierung des Parteiensystems – das klassische, auf die Kanzlerposition bezogene Zwei-Personen-Format problematisiert. Eine resümierende Einschätzung von Wirkungen der Wahlkommunikation nimmt abschließend Winfried Schulz vor. In einer Sekundäranalyse von GLES-Erhebungen bestätigt er zwei generelle Befunde des Sammelbandes von Roßteutscher et al.. Zum einen zeigt aufs Ganze gesehen ein Vergleich der letzten drei Bundestagswahlen „mehr Konstanten als Veränderungen“ (336); zum anderen haben im faktischen Ablauf des Wahlkampfes 2017 die digitalen Medien bei weitem nicht die Bedeutung gehabt, die ihnen vorab in der öffentlichen Debatte und in der Forschungsliteratur zugeschrieben worden ist.


Fazit

Beide Sammelbände bieten eine Fülle von durchaus informativen Einzelstudien über diverse Facetten des Wahlkampfgeschehens. Auffällig erscheint, dass die Beiträge – trotz aller Unterschiede hinsichtlich verwendeter Daten und methodischer Ansätze – auf die Frage, ob beharrende oder polarisierende Effekte bei der Bundestagswahl 2017 überwogen, doch eine sehr ähnliche Antwort geben. In der Beobachterperspektive der empirischen Wahlforschung wie der der Kommunikationswissenschaft zeichnen sich Polarisierungstendenzen in den erhobenen Daten kaum ab. Diese Einschätzung steht durchaus im Kontrast zu zahlreichen zeitdiagnostischen Kommentaren von Wahlverlauf und Wahlergebnissen. So bleibt mit Blick auf die GLES-Analyse fraglich, ob der Erfolg der AfD in der Hauptsache als Ergebnis einer besonderen Gelegenheitsstruktur interpretiert werden sollte. Und ob sich die digitalen Öffentlichkeiten – wie jüngst Habermas befürchtete – nicht doch „auf Kosten einer gemeinsamen und diskursiv gefilterten politischen Meinungs- und Willensbildung entwickeln“ (2020, 28), kann auch mit den vorliegenden Analysen der Massenmedien im Wahlkampf nicht bündig beurteilt werden.


Literatur

Habermas, Jürgen (2020): Moralischer Universalismus in Zeiten politischer Regression. Jürgen Habermas im Gespräch über die Gegenwart und sein Lebenswerk. In: Leviathan 48. Jg., Heft 1, S. 7-28

Rattinger, Hans et al. (2011): Zwischen Langeweile und Extremen: Die Bundestagswahl 2009. Baden-Baden, Nomos

Schmitt-Beck et al. (Hrsg.) (2014): Zwischen Fragmentierung und Konzentration: Die Bundestagswahl 2013. Baden-Baden, Nomos

Zick, Andreas / Beate Küpper / Wilhelm Berghan (2019) Verlorene Mitte – Feindselige Zustände. Rechtsextreme Einstellungen in Deutschland 2018. Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Franziska Schröter. Bonn, J. H. W. Dietz Nachf.

 

CC-BY-NC-SA
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Literatur

Karl-Rudolf Korte / Jan Schoofs (Hrsg.)
Die Bundestagswahl 2017. Analysen der Wahl-, Parteien-, Kommunikations- und Regierungsforschung
Wiesbaden, Springer VS 2019

 

Alexander Staudt / Rüdiger Schmitt-Beck
Kampagnendynamik bei der Bundestagswahl 2017: Die Rolling Cross-Section-Studie im Rahmen der „German Longitudinal Election Study“ 2017
Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung: Arbeitspapiere 172
Mannheim, MZES, 2018

 

Mario Voigt / Rene Seidenglanz
Trendstudie Digital Campaigning in der Bundestagswahl 2017 – Implikationen für Politik und Public Affairs
Berlin, Epubli 2019

 

Deutsche Vereinigung für Parlamentsfragen (Hrsg.)
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Heft 1/2020
Schwerpunkt: Kandidtatenaufstellung zur Bundestagswahl 2017


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