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Digirama / 09.08.2017

Die Eskalation. Linke Krawalle beim G20-Gipfel in Hamburg. Ein Problemaufriss

An Ankündigungen hatte es nicht gefehlt, wohl aber an Vorstellungskraft bei denjenigen, die sich in einer friedlichen Demokratie lebend wähnten: Die Hansestadt und ihre Bewohner*innen sahen sich beim G20-Gipfel Anfang Juli 2017 mit Krawallen, brennenden Fahrzeugen und Plünderungen konfrontiert. In dieser Zusammenstellung einiger ausgewählter Beiträge liegt der Fokus auf dieser Gewalt, ihrer Ankündigung und Rechtfertigung, vor allem aber auf dem Widerspruch.

Hamburg Gestalten 5. Juli 2017 Foto Frank SchwichtenbergEinfallsreiche Kritik an G20 und friedliche Proteste fanden relativ wenig Beachtung. Das Bild der Globalisierungsgegner dominierten Militante, die auf Dächern standen, Autos anzündeten und Geschäfte plünderten. Foto: Die Kunstaktion „1000 Gestalten“, festgehalten von Frank Schwichtenberg (https://de.m.wikipedia.org/wiki/Datei:1000_Gestalten_-_Hamburg_Burchardplatz_18.jpg: CC BY-SA 4.0)

 

An Ankündigungen hatte es nicht gefehlt, wohl aber an Vorstellungskraft bei denjenigen, die sich in einer friedlichen Demokratie lebend wähnten: Die Hansestadt und ihre Bewohner*innen sahen sich beim G20-Gipfel Anfang Juli 2017 mit Krawallen, brennenden Fahrzeugen und Plünderungen konfrontiert – die politische Kritik am Treffen der Mächtigen geriet damit in der Berichterstattung fast völlig aus dem Blickfeld. In dieser Zusammenstellung einiger ausgewählter Beiträge liegt der Fokus auf dem Verhältnis der Linken, Linkspopulisten und Linksextremen zur Gewalt – sie wurde für Hamburg angekündigt und gerechtfertigt, aber es wurde ihr auch vehement widersprochen.

Die hier gezeigten Beiträge wurden in den Wochen zwischen Ende Juni bis Anfang August veröffentlicht, der „Protest Reader“ und ein „Offener Brief“ bilden die Klammer: Beide zeigen den Unwillen auf der (ganz) linken Seite des politischen Spektrums, sich ohne Wenn und Aber von Gewalt abzugrenzen. Der Bundestagsabgeordnete Jan van Aken versucht in „76.000 mal Hoffnung“ eine Linie zwischen legitimer und illegitimer Gewalt von Protestierenden zu ziehen, ohne dabei das Gewaltmonopol des Staates als Grundlage der freiheitlichen Rechtsordnung zu thematisieren. Die tageszeitung und der Spiegel hatten sich zuvor die Akteure auf der Linken genauer angesehen und skizzieren kurz deren Kritik und Krawallpotenzial.

Diese Bereitschaft, gewaltsam Staat und Politik infrage zu stellen, stellt Albrecht von Lucke in einem lesenswerten Beitrag in den historischen und politischen Kontext und identifiziert die Gewalt eindeutig als Irrweg. Er fordert die (neue) Linke auf, die (alte) Gewaltfrage zu verneinen. Simon Teune richtet die Aufforderung an Polizei und Politik, klüger mit der linksextremen Herausforderung umzugehen.

#NoG20 2017
Protest Reader
26. Juni 2017
http://www.g20hamburg.org/sites/g20hamburg.org/files/upload/Protest-Reader-Deutsch-290617.pdf

Es handelt sich um eine vierseitige Demonstrationsanleitung, die vor dem G20-Gipfel in Hamburg veröffentlicht wurde und in der es erkennbar nicht ausschließlich um friedlichen Protest geht. Darauf deuten, so wurde es in der Öffentlichkeit im Vorfeld des Gipfels verstanden, konkrete Vorschläge hin wie: „Klebt auffällige Embleme oder Markenzeichen ab (sie machen euch für die Polizei unterscheidbar)“.

 

Malene Gürgen / Patricia Hecht
Protest gegen G 20 in Hamburg: Bewegt euch!
taz.de, 28. Juni 2017
http://www.taz.de/!5424757/

Vorgestellt werden einige Akteure und ihr Krawallpotenzial: Campact, Attac, Autonome, Interventionistische Linke (IL), Ums Ganze, Parteien, kurdische Bewegung.

 

Benjamin Bidder / David Böcking / Vanessa Steinmetz / Severin Weiland / Claus Hecking
G20 in Hamburg – alle Fakten über den Klub der Mächtigen. 11. Teil: In Hamburg wird es Proteste geben. Was stört die Kritiker?
Spiegel Online, 3. Juli 2017
http://www.spiegel.de/wirtschaft/g20-in-hamburg-alle-fakten-ueber-den-klub-der-maechtigen-a-1153318.html#sponfakt=11

Den G20-Gegner sei gemeinsam, dass sie an der Legitimation der Staatengruppe zweifelten, viele Kritiker würden der G20 außerdem vorwerfen, eine neoliberale Agenda zu verfolgen. Für radikale G20-Gegner seien die Proteste in Hamburg „Teil eines Kampfes gegen die Staatsgewalt.“

 

Klaus-Ferdinand Gärditz, interviewt von Tanja Podolski
Proteste zum G20-Gipfel in Hamburg: Härtefall für den Rechtsstaat
Legal Tribune Online, 3. Juli 2017
http://www.lto.de/recht/hintergruende/h/g20-proteste-camp-versammlungsrecht-zelten-verbot/

Klaus F. Gärditz, Professor für öffentliches Recht an der Universität Bonn, erläutert Details des Versammlungsrechts hinsichtlich nicht zuvor genehmigter Zusammenkünfte und mit Blick auf die Camps der G20-Gegner, über die vor den Gerichten gestritten wurde. Gärditz weist darauf hin, dass es Gründe geben kann, das Versammlungsrecht einzuschränken. Außerdem könne eine neue Verfügung der Polizei trotz eines vorhergehenden gerichtlichen Urteils unter Umständen rechtskonform sein.

 

Jan van Aken
76.000 mal Hoffnung: Einschätzung zu G20
#NoG20 2017, 12. Juli 2017
https://www.g20hamburg.org/de/content/76000-mal-hoffnung-einschaetzung-zu-g20

„Auch wenn aktuell die hirnlosen Plünderungen und Zerstörungen die Debatte bestimmen – die G20-Woche war mehr, viel mehr“, schreibt Jan van Aken, Abgeordneter der Linksfraktion im Deutschen Bundestag. Er selbst sei „mal als Parlamentarischer Beobachter der LINKEN Bundestagsfraktion, mal als Teil des Protestes“ in Hamburg unterwegs gewesen. Von den Krawallen und Plünderungen am Freitagabend im Schanzenviertel distanziert sich der Politiker eindeutig, andere Formen von Gewalt – etwa bei einem Protest gegen einen Castor-Transport – könnten dagegen als politische Mittel legitim sein. Van Aken problematisiert und kritisiert in diesen Beitrag ausführlich das Vorgehen der Polizei während des G20-Gipfels.

 

Klaus Vater
G20-Krawalle: Reaktionär bis zum geht nicht mehr
CARTA, 12. Juli 2017
http://www.carta.info/85052/g20-krawalle-reaktionaer-bis-zum-geht-nicht-mehr/

Der Politologe ordnet die linke Gewalt anlässlich des G20-Gipfels in Hamburg in die jüngere Krawallgeschichte Europas ein. Die Ausschreitungen junger Menschen seien, wie einige Beispiele zeigten, zunächst durch fehlende politische Beteiligungsformen ausgelöst, das Gegenmittel sei klar zu benennen: „Wo die repräsentative Demokratie es lernt, sich Entscheidungen mit den Bürgern ohne Mandat zu teilen, kann Gutes entstehen.“ Angesichts der G7-, G 20- und WTO- Krawalle „müssten wir uns auf eine schlüssige Analyse verständigen. Sind diese Leute Linke, wie manche behaupten?“ Tatsächlich sei der schwarze Block „eine reaktionäre Antwort auf reale Freiheitsangebote in unserer Gesellschaft“ – reaktionär deshalb, weil der mühsam erkämpfte Rechtsstaat einfach beiseitegeschoben werde. Das Fazit Vaters fällt daher kurz und knapp aus: „Die gewaltbereiten Zugvögel Europas müssen kontrolliert und gegebenenfalls von solchen Konferenzen ferngehalten werden.“

 

Albrecht von Lucke
Die neue Linke und die alte Gewaltfrage
Blätter für deutsche und internationale Politik, August 2017
https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2017/august/die-neue-linke-und-die-alte-gewaltfrage

„Der G20-Gipfel markiert eine Zäsur“, schreibt Albrecht von Lucke. „Er hat das Thema linker Gewalt mit aller Macht zurück auf die politische Agenda gebracht, mit bereits heute verheerenden Konsequenzen.“ Die Ausschreitungen hätten die Bewertung des Gipfels in ihr Gegenteil verkehrt. Aber statt sich nun mit der linken Gewalt auseinanderzusetzen und anzuerkennen, dass die radikale Linke wieder an einem Scheideweg angelangt sei, sei die Diskussion unter Linken und Liberalen vor allem durch Entlastungsstrategien geprägt. Von Lucke sieht darin ganz eindeutig den falschen Weg, zeige doch die Geschichte der Bundesrepublik, dass damit die weitere Eskalation gefördert werde.

 

Simon Teune
Das Scheitern der „Hamburger Linie“
Blätter für deutsche und internationale Politik, August 2017
https://www.blaetter.de/archiv/jahrgaenge/2017/august/das-scheitern-der-%C2%BBhamburger-linie%C2%AB

Der Autor, Mitglied des Vorstandes des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung, analysiert in diesem Beitrag das strikte Vorgehen der Hamburger Polizei gegen die G20-Demonstranten. Er sieht in dieser Sicherheitspolitik ein untaugliches Mittel, da es nicht auf Deeskalation ausgelegt sei. Zudem treffe diese Politik in Hamburg auf eine linksautonome Szene, die sich immer weiter verfestigt habe und im Gegensatz zu vergleichbaren Szenen in anderen Städten weiterhin Zulauf erhalte. Aus dieser Konstellation heraus habe sich, unter Beteiligung der zugereisten Gewaltbereiten, der Konflikt in Hamburg entgrenzt.

 

ISM Institut Solidarische Moderne e.V. / Attac Deutschland / Gängeviertel e.V. et al.
Demokratie und Grundrechte verteidigen! Offener Brief an den Hamburger Senat und die Leitmedien
3. August 2017
https://offener-brief-g20.org/unterzeichnerinnen/

Die Unterzeichner*innen sorgen sich nach eigenem Bekunden um den Zustand von Demokratie und Grundrechten in Deutschland. „Während Autoritarismus und undemokratische Tendenzen in anderen Ländern, wie jüngst in der Türkei oder in den USA, zu Recht verurteilt werden, werden ähnliche Entwicklungen hierzulande wegen Ausschreitungen und brennender Autos während des G20-Gipfels in Hamburg als gerechtfertigt angesehen.“ Mit dieser Gleichsetzung der Versuche der Hamburger Polizei, der Gewalt entgegenzutreten, werden diese pauschal verurteilt, während zugleich den Medien vorgeworfen wird, die Komplexität der Krawalle nicht erfasst zu haben. Gefordert werden Konsequenzen aus „dem Scheitern der Sicherheitsstrategie bei G20-Gipfel“. Eine klare Distanzierung von linker Gewalt fehlt.

 

CC-BY-NC-SA
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