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Rezension / 08.05.2017

Carolin Emcke: Gegen den Hass

Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag 2016

Wir leben nach Ansicht der Philosophin und Publizistin Carolin Emcke in einem Zeitalter der Ausgrenzung und in einem Klima des Fanatismus. Dem Hass fehle jede rationale Grundlage, aber auf die komme es angesichts gefühlter Realitäten auch gar nicht an. Dieser überall spürbaren Kultur gegenseitiger Herabwürdigungen und Demütigungen – in virtuellen wie in realen Foren – stellt sie ihr Plädoyer für menschliche Toleranz und ein offenes, humanes Miteinander entgegen. Das Buch beruht auf ihrer Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der ihr 2016 verliehen wurde.

Plädoyer für eine pluralistische Kultur des aufgeklärten Zweifels

Der Band beginnt nachdenklich: „Es wird offen und hemmungslos gehasst.“ (14) Angesichts einer überall spürbaren Kultur gegenseitiger Herabwürdigungen und Demütigungen – in virtuellen wie in realen Foren – plädiert die Philosophin und Publizistin Carolin Emcke für menschliche Toleranz und ein „offenes, humanes Miteinander“ (18). Sie diagnostiziert, in einem Zeitalter der Ausgrenzung und in einem „Klima des Fanatismus“ zu leben, deren rationale Grundlage fehle, auf die es aber im Gefühl des Hasses auch gar nicht ankomme. Das Buch beruht auf ihrer Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels, der ihr 2016 verliehen wurde; es setzt die dort formulierten Gedanken fort: Die Autorin sucht nach den Wurzeln dieses Hasses. Bei ihren Ermittlungen fasziniert die Haltung einer genauen Beobachterin und Deuterin, die für Differenzierungen und Selbstkritik eintritt. Indem sie eine funktionale Analyse des Hasses, seines Gefüges und seiner Mechanismen, unternimmt, zwingt sie ihr Gegenüber zu einer Verständigung.

Emckes Zeilen atmen den Ruf einer sprachlichen Wiederaneignung: den politischen Geist, den öffentlichen Raum und die Berichterstattung nicht an den Hass und die Hassenden zu verlieren. Weil jener Hass gegen Geflüchtete, Muslime, Linke, Rechte, Politiker, Journalisten und Medien, Homosexuelle oder „Gutmenschen“ nur ungenau zu fassen sei, sich auf ein verschwommenes, aber kollektives Objekt konzentriere und ideologisch umgeformt werde, habe der Aufruf zur Ausgrenzung oder zur Gewalt gegen sie zu einem alltäglichen Phänomen werden können. Im Schlusswort, das vier Kapitel wie ein argumentatives Ausrufezeichen abschließt, macht sich die Autorin demgegenüber für die Wiedergewinnung von Höflichkeit, für Respekt, für eine Annäherung an die Gefühls- und Lebenswelt anderer wie für die Vergewisserung, dass der Hass nicht zu einem allgemeinen, von allen getragenen Gut wird, stark. Für sie gehört gleichermaßen dazu, den politischen Raum als freiheitliches Miteinander zu erschließen oder die politischen und psychologischen Funktionsweisen der Exklusion zu ergründen.

Emcke sah sich an anderer Stelle bereits harscher, teils widersprüchlicher Kritik ausgesetzt: Bemerkten die einen, sie bemühe nur Allgemeinplätze, warnten andere angesichts ihrer philosophischen Deutungen vor einer zu abstrakten, dem Geist verhafteten Darstellung. Einigen ging sie wiederum nicht weit genug, wenn sie ihre philosophischen Gewährstexte – von Hannah Arendt bis Michel Foucault – nur unzureichend durchdringe. Und nicht zuletzt erschien ihre funktionale Annäherung einzelnen Betrachtern verkürzend, da Emcke die sozialen Bedingungen und andere Kontexte der Hassenden selbst oder gesellschaftliche Traditionen der Exklusion unbeachtet lasse. Wirkte die Autorin für manche Rezensenten selbstgefällig, überheblich, zu sprachphilosophisch orientiert, ohne tatsächliche Tiefe zu erreichen, kritisierten andere ihre Selbstvergewisserung als Teil einer politischen Linken, welche sich zur intellektuellen Avantgarde stilisiere.

Werden ihre Wortmeldungen jedoch nicht sofort innerhalb eines politischen Spektrums lokalisiert, und bewegt man sich für einen Moment von der Philosophin selbst weg, besteht ihr argumentativer Kniff fort. Sich analytisch den Funktionsprinzipien des Hasses als eines gesellschaftlich geteilten Phänomens zu nähern, folgt gerade nicht dem Fingerzeig der Empörung, der ihn aus einem Klima angewiderter Faszination heraus umkreist. Format und Werkzeug jener Analyse erscheinen durchaus variabel, ihre Auswahl ist insofern immer kritikwürdig; die Aufgabenstellung selbst aber überzeugt. Auch ist das Ziel, sich das eigentlich Selbstverständliche – Toleranz, eine Kultur der Aufklärung und der Pluralität – wieder anzueignen, plausibel. Deren Verlust zu beklagen, erfordert unter Umständen mehr als einen moralischen Appell. Dennoch ist der Hinweis augenfällig, dass Hass und die Mechanismen gesellschaftlicher Ausgrenzung noch weitere Ursachen haben als jene, die im Buch beschrieben werden. Dies bleibt soziologischen Untersuchungen vorbehalten.

Ihre exemplarischen Beobachtungen lassen sich unter zwei philosophische Stichworte subsumieren: Sichtbarkeit und Reinheit. Die Autorin zeichnet anhand mehrerer Erzählungen nach, dass Angehörige einer ausgegrenzten Gruppe nicht als Individuen und als Personen wahrgenommen werden. Ein Beispiel ist der tiefsitzende Rassismus in den USA, entsprechend wertet sie auch die Blockade eines Busses vor einer Flüchtlingsunterkunft im sächsischen Clausnitz im Februar 2016 als Akt gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Dazu sah sie sich das überlieferte Video immer wieder an. In ihren Augen waren die Insassen des Busses für die Protestierenden nicht sichtbar; sie waren nur Angehörige einer ungenannten Gruppe, jener, die nicht willkommen waren. Der laute Protest gegen ihre Unterbringung erklärte sie zu einer Ausnahme. Emcke erblickt darin ein Muster der Unschärfe und Umdeutung, das sie weiter vergegenständlicht. Dass daraus ferner eine spezifische Dynamik für die Dazugehörigen abgeleitet werden kann, beleuchtet sie anhand der zunehmenden Radikalisierung politischer Debatten. Der Fanatismus um das Bestehende, die Tradition, das Abendland oder vermeintlich natürliche Formen von Geschlechtsbeziehungen entwickelt in ihren Augen einen irrationalen Kult um eine kulturelle, religiöse, sprachliche oder geistige Einheit und Homogenität, die es niemals gab. Die Abgrenzung von Anderen stärke die eigene Zugehörigkeit – ein Mechanismus, den Emcke sowohl bei den Kämpfern des „Islamischen Staates“ wie bei der Verunglimpfung von Transgender-Personen wahrnimmt.

Dabei sind die zuvor beschriebenen Muster keineswegs eindeutig. Der Zweifel an ihrer einfachen, dogmatischen Rigorosität lässt sich nicht abschütteln. Als Autorin, die sich gegen solche Positionen wendet, befürwortet Emcke nicht die eigene Radikalisierung innerhalb der politischen Debatten, sondern eine pluralistische „Kultur des aufgeklärten Zweifels und der Ironie“ (191). Über die Frage, ob dies ein wirksames Instrument ist, lässt sich vortrefflich polemisieren. In jedem Fall ist der Gestus, für ein offenes, tolerantes und freiheitliches Miteinander zu streiten, indem auf eine analytische Durchdringung geachtet wird, anschaulich.

 

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