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Rezension / 09.01.2024

Samira Akbarian: Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation

Tübingen, Mohr Siebeck 2023

Ziviler Ungehorsam ist im Rahmen der Klimaproteste als Aktionsmodus politischer Bewegungen in der Öffentlichkeit kontrovers diskutiert worden. Handelt es sich um einen legitimen politischen Protest oder um bloßen Rechtsbruch? Samira Akbarian hat sich mit dieser Frage rechtstheoretisch in ihrer Dissertation auseinandergesetzt. Dabei argumentiert sie, dass ziviler Ungehorsam nicht im Widerspruch mit der repräsentativen Demokratie steht, sondern als Ergänzung zu ihr betrachtet werden sollte - und liefert damit laut unserem Rezensenten Max Lüggert ein erfreulich praxisbezogenes Buch.

Freiheitliche demokratische politische Systeme zeichnen sich unter anderem dadurch aus, dass es den Menschen möglich ist, ihre Unzufriedenheit mit politischen Entscheidungen äußern zu können, ohne deswegen mit schwerwiegenden Konsequenzen rechtlicher oder gar körperlicher Art rechnen zu müssen. In den rechtlichen Systemen vieler freiheitlich-demokratischer Staaten sind Normen verankert, die die freie Meinungsäußerung und das Recht auf Versammlung schützen. Oft haben diese Normen sogar Verfassungsrang. Eine besondere Form politischen Protests fordert diese Normen jedoch heraus, nämlich der zivile Ungehorsam. Unter diesem Begriff lassen sich viele verschiedene Protestformen zusammenfassen, die sich durch ein charakteristisches Merkmal auszeichnen: den vorsätzlichen Bruch bestehender Gesetze.

Wie ein solches rechtswidriges Verhalten zur Verfolgung politischer Ziele rechtstheoretisch einzuschätzen ist, hat Samira Akbarian in ihrer Dissertation, die nun als Buch vorliegt, näher betrachtet. Einleitend stellt Akbarian einige Begriffe klar, die grundlegend für ihre Studie sein sollen. So versteht die Autorin unter zivilem Ungehorsam ein Protesthandeln, das sich gegen Gesetze, Institutionen und Unternehmen richtet und aus einer Orientierung an bestimmten Prinzipien motiviert ist. Aus dieser Definition ergibt sich im Umkehrschluss, was ziviler Ungehorsam Akbarian zufolge nicht ist – er richtet sich nicht gegen einzelne Privatpersonen, er folgt keiner egoistischen Motivation und ist auch nicht darauf ausgerichtet, bestehende staatliche Ordnungen in Gänze zu stürzen. Daran anschließend stellt sich die Frage, was eine politische Ordnung ausmacht und worin ihre Legitimität begründet liegt. Laut Akbarian zeichnet sich eine legitime politische Ordnung dadurch aus, dass die beiden Leitprinzipien Zustimmung und Loyalität die Haltung der Bürgerinnen und Bürger zu ihrem Staat bestimmen. Auf dieser Grundlage ist der Gehorsam gegenüber den Gesetzen der angedachte Normalfall, von dem aus jegliches (politische) Handeln ethisch eingeschätzt werden darf.

In der staatstheoretischen Einleitung verweist Akbarian auf unterschiedliche Klassiker des politischen Denkens wie Immanuel Kant, John Locke, Jean-Jacques Rousseau und Sokrates. Letzterer dient der Autorin dabei als Beispiel dafür, welche moralischen Konflikte sich für ein Individuum im Verhältnis zu einer als legitim erachteten politischen Ordnung ergeben können. So sah sich Sokrates einerseits als Philosoph und Kritiker der bestehenden Verhältnisse, der das gegen ihn ausgesprochene Todesurteil nicht akzeptierte. Andererseits war sich Sokrates ebenfalls seiner Rolle als Bürger Athens bewusst und befolgte daher das Urteil in dem Wissen, dass es die staatliche Ordnung schwächen könnte, wenn sich niemand mehr den Gesetzen fügen würde. Mit diesem einleitenden Beispiel als Hintergrund breitet Akbarian im Hauptteil ihrer Arbeit drei Dimensionen zivilen Ungehorsams aus und untermauert diese jeweils mit Beispielen: die ethische Dimension, die rechtsstaatliche Dimension und die politische Dimension.

Bei ethisch motiviertem zivilem Ungehorsam sei eine Leitlinie, dass der Gehorsam gegenüber dem eigenen Gewissen grundsätzlich wichtiger eingeschätzt wird als der Gehorsam gegenüber der bestehenden Ordnung. Als historische Beispiele referiert Akbarian an dieser Stelle Mahatma Gandhi und Martin Luther King Jr. Sowohl Gandhi als auch King waren davon überzeugt, dass sie sich mit grundsätzlichen Ungerechtigkeiten konfrontiert sahen und dass sie den gezielten Bruch einiger Rechtsnormen in Kauf nehmen müssten, um ihre Überzeugungen zu verdeutlichen und öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Sache zu erzielen. An dieser Stelle zeigt sich das im Titel des Buches angedeutete Motiv, das im ganzen Verlauf der Studie immer wieder auftritt: die Ansicht, dass ziviler Ungehorsam nicht nur als Bruch von Rechtsnormen, sondern auch als Akt ihrer (Neu-)Interpretation zu verstehen ist. Als konkrete Beispiele für aktuelle Formen ethisch motiviertem zivilem Ungehorsam geht Akbarian auf die Klimabewegung sowie auf das weite Feld von staatsverweigernden Gruppen wie zum Beispiel der Reichsbürgerbewegung ein. Beide Gruppen haben aus Sicht der Autorin gewisse Gemeinsamkeiten, allerdings behauptet sie, dass der Klimabewegung mit mehr juristischer Nachsicht begegnet werden solle, da diese eine Vorstellung einer (aus ihrer Sicht) besseren Zukunft hätte, während Anhängerinnen und Anhänger der Reichsbürgerbewegung vor allem darauf bestünden, ihre eigenen Rechtsvorstellungen egoistisch gegen staatliche Organe durchzusetzen.

Die rechtsstaatliche Dimension zivilen Ungehorsams schildert Akbarian mit einem Verweis auf die Überlegungen von Jürgen Habermas, John Rawls und nicht zuletzt Ronald Dworkin. So stellt die Autorin besonders Dworkins Argument hervor, nach dem ziviler Ungehorsam auch als eine Form der Meinungsäußerung verstanden werden könne, in dem sich eine abweichende Meinung zur Gültigkeit von Gesetzen zeige – Dworkin nenne die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung als Anwendungsbeispiel. Die rechtsstaatliche Motivation zivilen Ungehorsams ist für Akbarian in ihrer speziellen Konstellation zu verstehen. So begründete Akte zivilen Ungehorsams seien als Gesetzesbrüche zu verstehen, die explizit darauf aufmerksam machen sollen, dass andere Gesetze ebenfalls gebrochen werden, und zwar weitgehend ohne Konsequenzen. Auch für diese Form werden Beispiele aus unserer Zeit präsentiert. Erstens wird geschildert, wie vom Tierschutz motivierte Personen in Nutztierställe eingedrungen sind, um auf bestehende Missstände in der Massentierhaltung aufmerksam zu machen, die trotz voriger Meldung von den zuständigen Behörden nicht weiterverfolgt wurden. Im vorgestellten Fall erging in der Anklage wegen Hausfriedensbruch ein Freispruch, weil nach Ansicht des Gerichts die beim Stalleinbruch gemachten Filmaufnahmen angemessen waren, um die zuständigen Behörden zum Eingreifen aufzufordern. Das zweite Beispiel zum rechtsstaatlich motivierten zivilen Ungehorsam befasst sich mit dem Thema Whistleblowing. Dieses Thema wird eher abstrakt anhand der Entwicklung rechtlicher Normen zu diesem Sachverhalt dargestellt. Gerade dies stützt jedoch die grundlegende These der Autorin, dass ziviler Ungehorsam ein wirksames Mittel zur Weiterentwicklung bestehender Rechtsordnungen sei.

Für die politische Dimension zivilen Ungehorsams richtet die Autorin ihr Augenmerk vor allem auf radikaldemokratische Ansätze, wobei das Werk von Hannah Arendt hier näher beleuchtet wird. Die politische Dimension ist dabei umfassender zu verstehen als die vorher dargelegten Dimensionen Ethik und Rechtsstaatlichkeit. Radikaldemokratische Formen zivilen Ungehorsams zeichnen sich in Motivation wie Umsetzung durch ein kollektives Vorgehen aus. Dies ist in dem Sinne zu verstehen, dass sich Gruppen bilden, die sich nicht damit begnügen, ihre Anliegen durch politisch-rechtliche Verfahren vorzutragen. Vielmehr erkennen diese Gruppen, dass es Debattenräume gibt, in denen ihr Anliegen strukturell benachteiligt werde und zielten mit ihren Aktionen darauf ab, solche bestehenden Benachteiligungen zu ihren Gunsten zu korrigieren. Auch an dieser Stelle gibt es einige Beispiele zur Anschauung. So stellt die Autorin vor, in welchem Maße Verschwörungstheorien in den vergangenen Jahren an Wirksamkeit zugenommen haben, insbesondere während der Corona-Pandemie. Diese Theorien hätten dabei auch eine enorme Mobilisierungskraft entfalten können, was sich auch in Deutschland in vielen Großdemonstrationen und der Besetzung des Eingangs zum Reichstagsgebäude zeige. Als weiteres Beispiel wird die „direkte Aktion“ erwähnt, wie sie sich zum Beispiel in der Bewegung Occupy Wall Street zeigte. Solche Protestformen fordern die bestehenden rechtlichen Ordnungen dadurch heraus, dass sie gleichsam als Simulation einen bestimmten Bereich räumlich beanspruchten, in dem die Ordnung etabliert werde, die sich die Protestierenden wünschten.

Im abschließenden Kapitel führt Akbarian ihre Erkenntnisse mit einer eigenen Einschätzung zusammen und stellt dabei zwei Paradoxien fest: So beinhaltet der Ungehorsam die Paradoxie, dass er umso mehr Wirksamkeit erzielen kann, je gefährlicher er sei. Die Autorin ist der Meinung, dass die repräsentative Demokratie selbst nur eine beschränkte Legitimität erzeuge, wenn politisches Handeln sich allein auf periodische Wahlakte reduziere. dass ziviler Ungehorsam nicht im Widerspruch, sondern als Ergänzung zu repräsentativer Demokratie zu verstehen sei, und zwar in dem Sinne, dass ziviler Ungehorsam dazu beitragen könne, rechtliche Normen weiterzuentwickeln.

Akbarian hat mit ihrer Studie ein hochaktuelles Thema angefasst; insgesamt gelingt es ihr gut, dieses Thema strukturiert und ausführlich zu betrachten und dennoch zu einer bündigen Schlussfolgerung zu kommen. In ihren Ausführungen ist durchaus eine progressive Tendenz sichtbar, indem beispielsweise Proteste seitens der Klimabewegung grundsätzlich wohlwollender betrachtet werden als solche seitens der Reichsbürgerbewegung. Eine solche Positionierung ist im Rahmen einer wissenschaftlichen Arbeit vertretbar, allerdings ist die Begründung dieser Positionen an. So werden beispielsweise keine festen Kriterien vorgestellt, mit denen man zivilen von unzivilem Ungehorsam unterscheiden könnte. Das Kriterium der Gemeinwohlorientierung wird in der unterschiedlichen Einschätzung von Klimabewegung und Reichsbürgerbewegung zwar angedeutet, aber nicht im Detail ausgeführt. Davon abgesehen ist der Praxisbezug eine große Stärke von Akbarians Buch. Gerade juristische Abhandlungen ergehen sich manchmal in einer detaillierten Paragrafenschau, die ein fachfremdes Publikum abschrecken kann – im vorliegenden Buch sind die einzelnen rechtlich-politischen Überlegungen jedoch stets anhand relevanter und zugänglicher Beispiele geschildert. Proteste im Rahmen zivilen Ungehorsams werden auf absehbare Zeit in Deutschland und anderen freiheitlichen Staaten immer wieder öffentliche Aufmerksamkeit erregen – Samira Akbarian schildert in ihrem Buch, wie diese Proteste einzuschätzen sind und welches demokratische Potential in ihnen steckt.

CC-BY-NC-SA
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Weiterführende Links

Körber-Stiftung / 2023

1. Preis Geistes- und Kulturwissenschaften 2023 – Ziviler Ungehorsam als Verfassungsinterpretation

Körber-Stiftung – Deutscher Studienpreis 2023

 

Externe Veröffentlichungen

Verfassungsblog / 2023

Kleben und Haften: Ziviler Ungehorsam in der Klimakrise

Debattenschwerpunkt von verfassungsblog.de zum Thema

 

Robin Celikates / 02.2023

Protest in der Klimakrise: Die Legitimität zivilen Ungehorsams

Blätter für deutsche und internationale Politik: 2/2023