/ 05.06.2013
Bassam Tibi
Aufbruch am Bosporus. Die Türkei zwischen Europa und dem Islamismus
München/Zürich: Diana 1998; 382 S.; 44,- DM; ISBN 3-8284-5012-1Seit dem Treffen des Europäischen Rates 1997 in Luxemburg, bei dem die EU-Regierungschef beschlossen, der Türkei auf absehbare Zeit keine unmittelbare Beitrittsperspektive zu eröffnen, ist nicht nur das Verhältnis zwischen Brüssel und Ankara gespannt, sondern die Türkei hat darüber hinaus begonnen, ihre Westorientierung und das damit verbundene Verhältnis zu Europa grundsätzlich zu überprüfen. In der türkischen Politik haben seitdem die Auseinandersetzungen zwischen den "Kemalisten", die für eine europäische Bindung der Türkei eintreten, und den "Neuen Osmanen", die für eine pan-türkische, islamistisch ausgerichtete Türkei eintreten, an Schärfe zugenommen. Die Spannungen während der Regierungszeit des türkischen Ministerpräsidenten Erbakan 1996/97 haben dies unterstrichen. Diese innertürkischen Richtungskämpfe untersucht der Göttinger Politikwissenschaftler Tibi in seinem jüngsten Buch. Dabei variiert er Samuel Huntingtons Diktum vom Kampf der Kulturen insofern, als er den Zivilisationskonflikt nicht zwischenstaatlich, sondern innertürkisch und innerislamisch verortet. Dieser Konflikt hat nicht nur für die Türkei, sondern auch für Europa und die Bundesrepublik - durch die große Zahl in Deutschland lebender Türken - eine immense Bedeutung. Denn der Neo-Osmanismus der türkischen Fundamentalisten ist anti-europäisch gefärbt und will die ansatzweise erfolgte Europäisierung der Türkei rückgängig machen. Grundlage dieser Bestrebungen, so Tibi, ist nicht zuletzt die veränderte geopolitische Position der Türkei nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes. An der Nahtstelle zwischen dem Nahen Osten, dem Balkan und Zentralasien sucht die Türkei eine neue nationale Identität und eine regionale Führungsrolle. Der Autor entwickelt zwei Szenarien für die Entwicklung des europäisch-türkischen Verhältnisses: Im positiven Falle geht er von der Herausbildung einer europäischen Identität in der Türkei aus, für die die in Deutschland lebenden Türken eine wichtige Rolle spielen könnten. Im negativen Szenario befürchtet er einen Export des Islamismus nach Europa, vor allem über islamistische Gruppierungen und Schulen. Entscheidend dafür, welches Szenario sich bewahrheiten werde, sei die Fähigkeit, die Migranten zu integrieren und sie auf diese Weise zu europäischen Bürgern zu machen.
Aus dem Inhalt: I. Die Politisierung des Islam und die Rehabilitierung des osmanischen Erbes in der Türkei: Wird die Türkei entwestlicht und de-säkularisiert?: 1. Die Türkei zwischen der Europäischen Union und der neo-osmanisch-islamistischen Geopolitik; 2. Vom säkularen Kemalismus zum pantürkischen Islamismus. Die Folgen des ideologischen Säkularismus ohne Säkularisierung. II. Die neue geopolitische Bedeutung der Türkei als regionale Vormacht in der Dreiecksverbindung Nahost-Zentralasien-Balkan: 3. Die Türkei und der Nahe Osten nach dem Ende des Ost-West-Konflikts: Von der NATO-Südflanke zur geopolitischen Dreiecksverbindung Nahost-Zentralasien-Balkan; 4. Die neue geopolitische Größe Zentralasiens. Die pantürkische Vision von "Großturkestan"; 5. Der Balkan: Kehren die Osmanen nach Südosteuropa zurück? Die Türkei und der politische Islam in Bosnien nach dem serbischen Völkermord. III. Die Türkei im Lichte des islamischen Erbes. Die osmanisch-imperiale Größe als Vorbild für die "Neuen Osmanen": 6. Die neo-osmanische Nostalgie: Ein gegenwartsbezogener Rückblick auf das Osmanische Reich; 7. Die "halbe Moderne" des reformierten Osmanischen Reiches als Vorbild für die neo-osmanische Türkei? IV. Die Türkei und Europa, die Türkei in Europa. Zwischen Integration und Abschottung - zwei Szenarien: 8. Die Türkei und Europa I. Das positive Szenario: Euro-Islam und die Türken in Deutschland - eine euro-islamische Brückenbildung?; 9. Die Türkei und Europa II. Das negative Szenario: Export des Islamismus nach Deutschland über die islamistischen Schulen; 10. Der Schleier als zivilisatorische Abgrenzung - das Emblem des Islamismus entschleiern.
Markus Kaim (MK)
Dr., wiss. Mitarbeiter, Forschungsgruppe "Sicherheitspolitik", Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin.
Rubrizierung: 2.63 | 2.23 | 4.22
Empfohlene Zitierweise: Markus Kaim, Rezension zu: Bassam Tibi: Aufbruch am Bosporus. München/Zürich: 1998, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/7697-aufbruch-am-bosporus_10219, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 10219
Rezension drucken
Dr., wiss. Mitarbeiter, Forschungsgruppe "Sicherheitspolitik", Stiftung Wissenschaft und Politik, Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit, Berlin.
CC-BY-NC-SA