/ 18.06.2013

Michael Thumann
Das Lied von der russischen Erde. Moskaus Ringen um Einheit und Größe
Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt 2002; 278 S.; geb., 19,90 €; ISBN 3-421-05623-4Etwas wehmütig klingt der Buchtitel nach der russischen Seele. Assoziativ ruft er Repin'sche Wolgatreidler und Kosakenlieder in Erinnerung. Doch Thumann, der von 1996 bis 2001 als Korrespondent der "ZEIT" über Russland und Zentralasien berichtete, hat weniger die Romantik im Sinn. Journalistisch souverän erörtert er die grundlegende Frage nach der Einheit des Landes, in dem mehr als 100 Völker leben. Die Moskauer Zentralregierung kämpft gegen islamische Rebellen am Kaukasus, gegen aufsässige Provinzen an der Wolga und im sibirischen Osten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ist die Russische Föderation zu einem Flickenteppich von Räumen und Akteuren geworden. Streitpunkte zwischen Russen und den kleineren Völkern Russlands sind Wirtschaft, Bodenschätze, Religion und Kultur. Lakonisch bringt Thumann die russische Variante des Föderalismus auf den Punkt: "Jeder Bundesstaat der Welt ist in sich einzigartig, doch Russland kann für sich beanspruchen, die bizarrste aller Föderationen aufgebaut zu haben." (210)
Im Kampf um die Einheit Russlands erkennt Thumann Kontinuitäten zur zaristischen und kommunistischen Zeit. Seit jeher kennt die Zentralregierung nur den Wechsel zwischen Zuckerbrot und Peitsche. Je nach Herrschermentalität gab es von dem einen mehr und von dem anderen weniger: Präsident Boris Jelzin, bekannt dafür, dass er spontan politische Entscheidungen traf, ging auf Schmusekurs mit den aufmüpfigen Regionen. Gab es Differenzen, wurde mit den Föderationssubjekten ein Vertrag ausgehandelt. Es entwickelte sich daher unter Jelzin ein ausufernder Vertragsföderalismus mit aberwitzigen Gesetzesüberschneidungen. Der Hindergrund dieser Beschwichtigungspolitik war indes, dass Jelzin damit versuchte, die separatistischen Stimmungen in den Provinzen Tatarstan, Jakutien und Burjatien zu beruhigen. Mit Erfolg, denn bis auf Tschetschenien, das sich bereits 1991 als unabhängiger Staat deklarierte, waren die restlichen Regionen mit einem gewissen Grad an Souveränität zufrieden. Nach und nach verlor Moskau dadurch seine exklusive Position als Schaltstelle der Macht. Ein Vertreter der Peitsche ist der amtierende Präsident Wladimir Putin. Er versucht die Politik seines Vorgängers rückgängig zu machen. Putins Credo ist die "Diktatur des Gesetzes" (197). Es soll keine Sonderrechte mehr für die Regionen geben. Postwendend regt sich Widerstand der Provinzfürsten. In Windeseile reagiert Putin und besetzt alle wichtigen Posten in den Föderationssubjekten mit seinen Leuten. Bereits Katharina die Große hatte 1775 eine Zentralisierung und Zusammenfassung der Regionen unternommen. Heute erhofft sich Putin mit seiner Föderalreform, effektiver regieren zu können. Diese Modernisierung Russlands ist, wie Thumann schreibt, "ein Experiment mit offenem Ausgang" (8).
Die Art und Weise, wie Thumann sein Thema bearbeitet, erinnert an die berühmte Spielzeugpuppe Matrjoschka. Er besitzt die Gabe, die Probleme Russlands an guten Beispielen zu schildern und diese singulären Fälle in fast politologischer Manier analytisch in das Gesamtbild des russischen Staates einzuordnen. Es ist ein nüchternes Buch ohne Folklore.
Inhalt: Ein Land ringt um seine Vielfalt; Die imperiale Tradition: Unterwerfen und Umwerben: das Vielvölkerreich bis 1917; Das Laboratorium der Völkerfreundschaft: die Sowjetunion 1917-1991. Großraum statt Großmacht: die Russische Föderation 1991-1998: Die Zufallsgeburt: Der Machtkampf in Moskau beschert Russland die Föderation; Auf dem Basar der Föderation: Tatarstan, Jakutien, Burjatien; Feilschen um die Einheit: Boris Jelzin und die Republiken; Der Krieg der Moskauer Elite: Tschetschenien 1994-96; Aufbruch ins Trübe: Russlands nationale Idee; Rette sich, wer kann: die Föderation im Finanzkollaps 1998. Auf der Suche nach der verlorenen Einheit: Putins Russland 1999-2001: Wie der Stahl gehärtet wurde: die nationale Mobilisierung; Eine Entführung im Kaukasus; Im Namen der Ordnung: Die Russen stürmen Tschetschenien; Ein Recht für alle: Wladimir Putins Reform der Föderation; Der Buchstabenkrieg von Tatarstan; Am Ende der Welt endet auch Russland: Jakutien und Burjatien. Grenzfälle: Hat Russland eine feste Gestalt gefunden?
Wilhelm Johann Siemers (SIE)
Dipl.-Politologe, Journalist, Redakteur der Sprachlernzeitschrift vitamin de, Florenz.
Rubrizierung: 2.62 | 2.2
Empfohlene Zitierweise: Wilhelm Johann Siemers, Rezension zu: Michael Thumann: Das Lied von der russischen Erde. Stuttgart/München: 2002, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/17002-das-lied-von-der-russischen-erde_19528, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 19528
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Dipl.-Politologe, Journalist, Redakteur der Sprachlernzeitschrift vitamin de, Florenz.
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