/ 03.06.2013
Wilhelm Heitmeyer / Rainer Dollase (Hrsg.)
Die bedrängte Toleranz. Ethnisch-kulturelle Konflikte, religiöse Differenzen und die Gefahren politisierter Gewalt
Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1996; 509 S.; 29,80 DM; ISBN 3-518-11979-6Das Gewaltpotential ethnischer Konflikte gehört zu den politischen Phänomenen der Gegenwart, die am dringlichsten sozialwissenschaftlicher Aufklärung bedürfen. Vielleicht ist es die spezifische Blindheit moderner Lebensform für Artikulationen von "Wir-Gefühlen", die Karl-Otto Hondrich in seinem Beitrag anspricht, welche zur Hilflosigkeit beiträgt, mit der Manifestationen ethnisch motivierter Gewalt in Wissenschaft und politischer Praxis wahrgenommen werden. Der auf eine Tagung der "Interdisziplinären Forschungsgruppe für multi-ethnische Konflikte" vom November 1994 zurückgehende Band sucht dem Problem in fünf Kapiteln auf den Grund zu gehen. Am Beginn stehen theoretische Analysen zur Konfliktproblematik aus Soziologie, Geschichtswissenschaft und Psychologie. Im zweiten Teil werden konkrete ethnische Konfliktmuster (USA, Maghrebiner in Frankreich, Islam in Europa, ehemalige sozialistische Staaten, Südafrika) untersucht. Der dritte Teil ist "Ethnisierungsgefahren sozialer Konflikte" gewidmet. Es schließen sich Untersuchungen zum Konfliktpotential an, welches sich aus dem Spannungsfeld westlicher und islamischer Kultur ergibt. Den Schluß bildet ein Ausblick auf künftige politische Optionen. Eine der wichtigsten Einsichten des an Erkenntnissen reichen Bandes formuliert Heiner Bielefeldt. Erstens gilt: "Die Menschenrechte, die das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung gleicher Freiheit in der pluralistischen Gesellschaft politisch-rechtlich garantieren sollen, können [...] nicht zur Disposition gestellt werden". Zweitens gilt aber auch: "Den menschenrechtlichen Universalitätsanspruch ernst zu nehmen, heißt [...] zunächst, auf weltanschauliche oder kulturelle Exklusivitätsanmaßungen hinsichtlich der Menschenrechte zu verzichten" (378 f.).
Inhalt: Wilhelm Heitmeyer: Einleitung: Ethnisch-kulturelle und religiöse Differenzen zwischen gewaltförmigen Politisierungen und inflationären Toleranzforderungen (11-28). I. Theoretische Analysen zur Konfliktproblematik: Wilhelm Heitmeyer: Ethnisch-kulturelle Konfliktdynamiken in gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen (31-63); Hartmut Esser: Ethnische Konflikte als Auseinandersetzung um den Wert von kulturellem Kapital (64-99); Karl Otto Hondrich: Die Nicht-Hintergehbarkeit von Wir-Gefühlen (100-119); Rainer Dollase: Die Asozialität der Gefühle. Intrapsychische Dilemmata im Umgang mit dem Fremden (120-141); Jörn Rüsen: Kollektive Identität und ethnischer Konflikt im Prozeß der Modernisierung (142-152). II. Internationale Entwicklungen von ethnischen und religiösen Konflikten: Berndt Ostendorf: Probleme mit der Differenz. Historische Ursachen und gesellschaftliche Konsequenzen der Selbstethnisierung in den USA (155-178); Dietmar Loch: Politische Partizipation der Maghrebiner in Frankreich. Zur Interaktion zwischen Minderheiten und Staat (179-199); Gilles Kepel: Islam in Europa. Zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft (200-208); Brigitte Mihok: Ethnostratifikation in ehemaligen sozialistischen Staaten (209-224); Neville Alexander: Nach der Apartheid: Neue ethnische Kämpfe in Südafrika? (225-238). III. Ethnisierungsgefahren sozialer Konflikte: Lutz Hoffmann: Der Einfluß völkischer Integrationsvorstellungen auf die Identitätsentwürfe von Zuwanderern (241-260); Faruk Sen: Die Folgen zunehmender Heterogenität der Minderheiten und der Generationsaufspaltung (261-270); Fridrik Hallson: Lebensweltliche Ordnung in der Metropole. Ethnische Konfliktpotentiale, Demarkationslinien und Typisierung von Ausländern im Frankfurter Gallusviertel (271-312); Thomas von Freyberg: Ethnische Diskriminierung im Betrieb unter dem Druck des Arbeitsmarktes (313-329); Rainer Strobl: Soziale Folgen von Opfererfahrungen einer ethnischen Minorität (330-346). IV. Konfliktpotentiale durch Differenzen zwischen westlichen und islamischen Kulturvorstellungen: Wolf D. Ahmed Aries: Konfliktlinien westlicher und islamischer Kulturvorstellungen (349-359); Heiner Bielefeldt: Menschenrechte und Islam - Konflikte und Perspektiven (360-381); Johannes Hellermann: Der Grundrechtsschutz der Religionsfreiheit ethnisch-kultureller Minderheiten. Zwischen Gewährleistung religiös-kultureller Besonderheit und Bewahrung der allgemeinen Rechtsordnung (382-400); Fuad Kandil: Die gesellschaftliche Akzeptanz muslimischer Zuwanderer. Verfestigung der Kulturdifferenzhypothese als Folge des religiösen Fundamentalismus (401-425); Reinhard Hocker: Türkische Jugendliche im ideologischen Zugriff. Zur Einflußnahme extremistischer Gruppierungen auf jugendliche Migranten türkischer Herkunft (426-449); Emir Ali Sag: Üben islamisch-fundamentalistische Organisationen eine Anziehungskraft auf Jugendliche aus? (450-473). V. Zukünftige Politik: Viktoria Waltz: Toleranz fängt beim Kopftuch erst an. Zur Verhinderung der Chancengleichheit durch gesellschaftliche Verhältnisse (477-500); Daniel Cohn-Bendit: Praktische Politik der Anerkennung (501-507).
Klaus Dicke (KD)
Prof. Dr., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
Rubrizierung: 4.42 | 2.23 | 2.25 | 2.64 | 2.61 | 2.67 | 2.62
Empfohlene Zitierweise: Klaus Dicke, Rezension zu: Wilhelm Heitmeyer / Rainer Dollase (Hrsg.): Die bedrängte Toleranz. Frankfurt a. M.: 1996, in: Portal für Politikwissenschaft, https://www.pw-portal.de/rezension/1110-die-bedraengte-toleranz_1088, veröffentlicht am 01.01.2006.
Buch-Nr.: 1088
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Prof. Dr., Institut für Politikwissenschaft, Universität Jena.
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