Die ökonomischen Kosten der russischen Aggression. Verluste der Ukraine auf der Krim und in den Gebieten Luhansk und Donezk
Das Ziel dieser Analyse ist es, die materiellen Verluste abzuschätzen, die die Ukraine infolge der russischen Besetzung und Annexion der Krim im Februar/März 2014 sowie der militärischen Aggression Russlands in Teilen der ostukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk seit 2014 erlitten hat. Diese beiden Fälle unterscheiden sich hinsichtlich der Form der militärischen Aggression deutlich voneinander, ebenso hinsichtlich der erlittenen Schäden und der Effizienz ihrer jeweiligen Verwaltungssysteme. Die Lebensverhältnisse in beiden Regionen sind schlecht, am schlechtesten im Donbass.
Das Ziel dieser Analyse ist es, die materiellen Verluste abzuschätzen, die die Ukraine infolge der russischen Besetzung und Annexion der Krim im Februar/März 2014 sowie der militärischen Aggression Russlands in Teilen der ostukrainischen Gebiete Luhansk und Donezk seit 2014 erlitten hat. Diese beiden Fälle unterscheiden sich hinsichtlich der Form der militärischen Aggression deutlich voneinander, ebenso hinsichtlich der erlittenen Schäden und der Effizienz ihrer jeweiligen Verwaltungssysteme. Die Lebensverhältnisse in beiden Regionen sind schlecht, am schlechtesten im Donbass.
Es gilt dabei zwischen mehreren Arten von Kosten zu unterscheiden. Erstens wurden von der Regierung der Russischen Föderation beziehungsweise von Kräften, die von Russland unterstützt werden, Vermögenswerte beschlagnahmt. Zweitens kam es bei den Kampfhandlungen zur Zerstörung von Unternehmen, Gebäuden und Infrastruktureinrichtungen. Einige dieser Vermögenswerte gehörten dem ukrainischen Staat, andere Privatunternehmen oder -personen, aber bei allen handelt es sich um ukrainische juristische Personen. Eine weitere Kategorie von Verlusten sind Kapitalströme, die infolge von Sanktionen versiegt sind. Seit dem Sommer 2013 hat Russland immer strengere Handelssanktionen gegen die Ukraine verhängt, die schließlich ihrerseits mit eigenen Sanktionen antwortete. Außerdem verringerten sich infolge des Krieges die ausländischen Direktinvestitionen in der Ukraine.
In dieser Analyse geht es um die rein wirtschaftlichen Verluste, nicht um die militärischen oder humanitären Kosten. Daher wird das Thema der öffentlichen Ausgaben in den besetzten Gebieten nur gestreift, auch die Kosten von Binnenflüchtlingen werden nicht diskutiert. Die Untersuchung gelangt zu dem Schluss, dass die russische Aggression die Ukraine bislang etwa 100 Milliarden Dollar gekostet hat und dass der Verlust von Gas- und Erdölfeldern im Schwarzen Meer vor der Küste der Krim dabei in erheblichem Umfang zu Buche schlägt.
Chronik der Ereignisse
Die russische Besetzung der Krim begann am 27. Februar 2014, als „grüne Männchen“ – russische Spezialkräfte ohne Hoheitszeichen – das Regionalparlament in Simferopol besetzten. Es war eine nicht provozierte militärische Aggression, die völlig überraschend kam. Die unvorbereiteten ukrainischen Streitkräfte leisteten keinen Widerstand, die Besetzung erfolgte praktisch ohne Blutvergießen. Am 18. März annektierte die Russische Föderation die gesamte Krim.
Im April 2014 versuchten „grüne Männchen“ in acht anderen Regionen im Süden und Osten der Ukraine unter dem Vorwand, dies sei eine lokale Erhebung russischsprachiger Ukrainer gegen die neue „illegitime“ Regierung in Kiew, kriegerische Auseinandersetzungen anzuzetteln. In Donezk und Luhansk waren sie damit erfolgreich. Erstaunlich schnell organisierten sich ukrainische Kräfte, darunter viele Freiwillige, und leisteten Widerstand. Im August zwang ihre Offensive den Kreml dazu, ein großes Kontingent regulärer russischer Truppen zu entsenden, um den Zusammenbruch der „Erhebungen“ zu verhindern.
Nach größeren russischen Offensiven wurden in Minsk zwei Waffenstillstandsvereinbarungen geschlossen. Die erste wurde am 5. September 2014 (zwei Wochen später folgte ein Memorandum) und die zweite am 12. Februar 2015 unterzeichnet. An den Verhandlungen nahmen Russland, die Ukraine, Frankreich, Deutschland und die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) teil, aber die Vereinbarungen selbst unterzeichneten Vertreter der Ukraine und der sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk. Russland wird in dem Text nicht erwähnt; allerdings ist darin von „ausländischen Truppen“ die Rede, womit nach ukrainischer und westlicher Lesart russische Streitkräfte gemeint sind. Keines der beiden Waffenstillstandsabkommen wurde eingehalten, die Schusswechsel gehen täglich weiter und fordern immer wieder Todesopfer.
Seit September 2014 lautete die große Frage, ob russische Truppen versuchen würden, die bedeutende Industriestadt Mariupol zu erobern. Dies hätte verheerende Folgen für die ukrainische Wirtschaft, da Mariupol den zweitgrößten Hafen des Landes hat, über den ein Drittel der ukrainischen Exporte abgewickelt wird. Bislang ist das nicht geschehen. Ein Grund dafür mag sein, dass die wirtschaftlichen Schäden zu groß wären. Russland kontrolliert allerdings die schmale Straße von Kertsch, die ins Schwarze Meer führt, und hat zahlreiche Beschränkungen für den Schiffsverkehr von und nach Mariupol verhängt, sodass ein Großteil zu Häfen auf der anderen Seite der Krim umgeleitet wurde. Der Anteil der ukrainischen Seefrachtexporte, die über die beiden ukrainischen Häfen am Asowschen Meer, Mariupol und Berdjansk, verschifft werden, sank von 16 Prozent in 2013 auf acht Prozent 2016.1
Die Ukraine hat die Zahl der militärischen und zivilen Todesopfer des Krieges veröffentlicht, sie übersteigt derzeit 10.300. Russland und seine subalternen Regime in Donezk und Luhansk machen keine Angaben über zivile oder militärische Verluste, aber es ist anzunehmen, dass auf der anderen Seite ähnlich viele Menschen getötet wurden. Zum Vergleich: Auf der Krim sind rund zwanzig Menschen verschwunden, mutmaßlich sechs von ihnen wurden getötet. Während dort eine strenge Diktatur herrscht, ist der Donbass eine gesetzlose Kriegszone.
Bevölkerungsbewegungen verdeutlichen den Gegensatz zwischen den beiden besetzten Gebieten. Die Krim hat, wie schon 2013, zwei Millionen Einwohner. Zwanzigtausend Menschen, hauptsächlich Krimtataren und Jugendliche, sind auf das ukrainische Festland ausgewandert und ungefähr genauso viele Russen zugewandert, die meisten davon vermutlich pensionierte Soldaten.
Dagegen fliehen die Menschen in Scharen aus dem Donbass. Zuverlässige Schätzungen sind schwer zu bekommen, aber ein umfangreicher Artikel, der im Juni 2015 vom russischen Medienunternehmen RBK veröffentlicht wurde (einer angesehenen Quelle unabhängiger Informationen und Recherchen, bevor der Kreml Druck auf es ausübte und es 2017 von einem Bekannten des russischen Präsidenten Vladimir Putin gekauft wurde), kam zu dem Ergebnis, dass die Gesamtbevölkerung von 6 bis 6,5 Millionen Einwohnern vor dem Krieg auf etwa drei Millionen gesunken sei.2 Nur etwa die Hälfte der Regionen Donezk und Luhansk sind besetzt, aber diese Gebiete schließen die beiden regionalen Hauptstädte und die meisten der Einwohner ein. Laut Schätzung von RBK leben 2 bis 2,5 Millionen davon in von Rebellen gehaltenen Gebieten und etwa eine Million von ihnen sind Rentner. Ein im Dezember 2016 in Bild erschienener Artikel veranschlagte die Zahl der Rentner in den besetzten Gebieten ebenfalls auf 1.079.000.3
Das ukrainische Sozialministerium berichtete im August 2016, 1.714.388 Personen seien in der Ukraine als Binnenflüchtlinge registriert4; dem RBK-Bericht zufolge sind zwischen 500.000 und einer Million Menschen nach Russland ausgewandert und weitere 100.000 in andere Länder geflohen. Die Lebensverhältnisse im Donbass gestalten sich äußerst schwierig, geblieben sind fast nur Arme, Alte und Kriminelle.
Innerhalb des Donbass ist die Lage in Luhansk viel schlechter als in Donezk. Dort sind viele Bataillonskommandeure der Rebellen ermordet worden. Diese Morde wurden so gekonnt ausgeführt, dass der Verdacht naheliegt, es handele sich um gezielte Tötungen durch russische Spezialkräfte mit „Insiderwissen“. In Luhansk scheint nichts zu funktionieren oder produziert zu werden, während in Donezk ein gewisses Maß an Ordnung sowie eine elementare Lebensmittelversorgung und öffentliche Dienstleistungen wiederhergestellt wurden.
Das ist kein Vergleich zu den Verhältnissen auf der friedlichen und relativ gut organisierten Krim, die von Moskau nach russischem Gesetz und auf eine geordnete, wenn auch autoritäre Weise verwaltet wird. Die Beanstandungen auf der Krim betreffen die Diskriminierung von Krimtartaren und Ukrainern, Menschenrechtsverletzungen und Eigentumsdelikte. Es gibt aber keinen offenen Krieg oder gesetzlose Gangs wie im besetzten Donbass. Auch hat Russland die beiden besetzten Gebiete wirtschaftlich sehr unterschiedlich behandelt.
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1Saha/Kravchuk/Movchan 2018.
2Ivan Golunov und Alexander Artemyev, „RBC Investigation: On Whose Money Does the Donbas Live?”, RBC, 15. Juni 2015, https://www.rbc.ru/investigation/politics/15/06/2015/5579b4b99a7947b063440210.
3Julian Röpcke, „Milliarden aus Moskau. So finanziert der Kreml die ukrainischen Rebellen“, Bild-Zeitung, 16. Januar 2016.
4UNHCR 2016.
Der vollständige Beitrag ist erschienen in
SIRIUS – Zeitschrift für Strategische Analysen, Band 2, Heft 4, Seiten 352–365, ISSN (Online) 2510-2648, ISSN (Print) 2510-263X, DOI: https://doi.org/10.1515/sirius-2018-4004.
Außen- und Sicherheitspolitik
Aus den Denkfabriken
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Will the Kerch Blockade Make Putin Great Again?
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The United States, Russia, and Europe in 2018. Chipping Away at Four Gordian Knots
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Mark Sobel
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Steven Pifer
Russia vs. Ukraine: More of the same?
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Sammelrezension
Auf dem Weg zum „eingefrorenen Konflikt“? Aktuelle Beiträge zur Krise in der Ost-Ukraine
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Inwieweit war Russlands Anschluss der Krim historisch gerechtfertigt? Zur Problematik „realistischer“ Annexionsnarrative
Andreas Umland zeigt kritisch die Bereitschaft westeuropäischer Politiker auf, völkerrechtswidrige russische Positionen zu unterstützen oder zumindest zu tolerieren. Auf diese Weise habe das offizielle Narrativ des Kremls, die Annexion der Krim sei historisch gerechtfertigt gewesen, in den westlichen politischen Mainstream eindringen können. Allerdings gebe es Hinweise darauf, dass das im März 2014 von Russland auf der Krim organisierte „Referendum“ massiv gefälscht worden sei und keinesfalls eine überwältigende Mehrheit der Krimbewohner die „Wiedervereinigung“ mit Russland unterstützt habe. Auch fallen, wie Umland zeigt, die angeblich schwerwiegenden historischen Gründe für die Annexion bei näherer Betrachtung in sich zusammen.
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