Said AlDailami: Jemen. Der vergessene Krieg
Der Bürgerkrieg im Jemen steht kaum im Fokus westlicher Medien und somit bezeichnet Said al-Dailami ihn nicht zu Unrecht als einen vergessenen Krieg, schreibt Rezensent Michael Rohschürmann. Das Buch bietet eine – wenn auch an einigen Stellen durch die persönliche Biografie des Autors sehr emotionale und moralisierende – historische Verortung und Begründung des Konfliktes. Kohärent und facettenreich zeigt al-Dailama die verschiedenen Konfliktlinien auf, die sich durch die Kultur und Gesellschaft des Landes ziehen und zeichnet die jeweiligen Interessenlagen der Kriegsparteien nach.
Said al-Dailami bezeichnet den Krieg im Jemen nicht zu Unrecht als einen vergessenen Krieg. Die westlichen Medien fokussieren vor allem die Konflikte in Syrien, im Irak und in Afghanistan – Länder, aus denen Flüchtlinge nach Europa kommen und in denen westliche Streitkräfte mit eigenen Truppen involviert sind. Der Blick auf den jemenitischen Bürgerkrieg, der mit der Intervention Saudi Arabiens zu einem Regionalkonflikt eskaliert, fällt hingegen bestenfalls marginal aus. Umso erfreulicher ist al-Dailamis Buch, da es eine – wenn auch an einigen Stellen durch die persönliche Biografie des Autors sehr emotionale und moralisierende – historische Verortung und Begründung des Konfliktes bietet.
Der Autor beginnt seine Ausführungen mit den antiken jemenitischen Königreichen und begründet nachvollziehbar – auch anhand von noch heute populären Gesängen –, dass dieses Erbe früher Hochkulturen ein bestimmender Faktor des Blicks der jemenitischen Bevölkerung auf sich selbst und auf ihre Nachbarn darstellt (12 ff.). Er macht deutlich, dass Geschichte, selbst wenn sie Tausende Jahre zurückliegt, für viele Kulturen auch heute denkens- und handlungsleitend ist und daher ein wesentliches Merkmal einer sinnvollen Kontextanalyse darstellt.
In der Folge beschreibt der Autor in einer sehr gut lesbaren Sprache die verschiedenen Konfliktlinien, die sich durch die Kultur und die Gesellschaft des Landes ziehen.
Laut al-Dailami habe der Jemen traditionell keine religiösen Konflikte gekannt – was bei einem Blick in die Geschichte der Region und der verschiedenen Minderheiten eine eher zu positive Interpretation ist. Herrschaft und Landbesitz lagen traditionell bei den Scheichs der Stämme und dem islamischen Adel (Mitgliedern des Stammes des Propheten Muhammad). Wichtige Posten wurden traditionell auch innerhalb der Familie vererbt und politische Entscheidungen basierten auf der Abstimmung zwischen den Stämmen. Daran hat sich eigentlich bis heute nichts verändert: „Der Scheich und seine Gewährsleute sind hoch angesehen und stecken jeden Verwaltungs- oder Polizeibeamten [...] locker in die Tasche. Letztere müssen sich ihr Ansehen und ihre Autorität erst erarbeiten, die Stammesführer hingegen besitzen sie gewissermaßen qua Geburt.“ (34)
Die Stämme untereinander befinden sich in einem rechtsfreien Raum, der das Verhältnis zwischen ihnen schon immer bestimmte: „[W]o ein Clan oder Stammesverbund den Eindruck gewinnt, dass er den Staatsapparat ebenbürtig oder gar überlegen ist, dort widersetzt er sich staatlichen Verordnung und scheut zur Not auch nicht die direkte Konfrontation durch Waffengewalt. Seit jeher ist diese Form der Konfrontation eine traurige, aber normale Erscheinung im Alltag der Jemeniten.“ (34 f.)
Auch wenn das Gebiet des heutigen Jemen schon immer in die Einflussgebiete der größeren Stammeskonföderationen untergliedert war, ist der Nord-Süd-Gegensatz eine direkte Folge der britischen Kolonialpolitik des 19. Jahrhunderts. Während der Norden eine theokratische Monarchie wurde, entwickelte sich der Süden nach dem Abzug der Briten zu einer sozialistischen Republik. Nach der Wiedervereinigung war es vor allem der Süden, der am meisten unter ungerechter Machtverteilung und Korruption zu leiden hatte. In der Folge führte diese Entwicklung zu mehreren gewaltsamen Konflikten mit der Regierung. Die Konfessionalisierung dieser Konflikte allerdings sieht der Autor dem Einfluss des großen Nachbarn Saudi Arabien und der wahhabitischen Missionierung im Jemen ab den 1980er-Jahren geschuldet. „Gesellschaftlich war eine konfessionelle Spaltung der jemenitischen Bevölkerung jedenfalls über Jahrhunderte kaum sichtbar.“ (64) Über massive Zahlungen an die Scheichs sei es gelungen, multikonfessionelle Stämme zu sunnitisieren und unter der Regierung von Präsident Saleh sei diese Sunnitisierung in der Politik spürbar gewesen. 1979 wurde das erste – von Saudi Arabien finanzierte Dar-al-Hadith (sunnitische konservative Lehranstalt) im Herzen der schiitischen Provinz Dammaj eröffnet (65). Ab den 1990er-Jahren bildeten sich erste zaiditische (eine Splittergruppen der Schiiten) Gegenbewegungen im Norden des Jemen, die zunächst in erster Linie soziale Reformen forderten. Genannt nach einem ihrer Führer wurde aus diesen Gruppen dann die Bewegung der Huthi. Zwischen ihnen und der Regierung Saleh kam es zwischen 2004 und 2009 zu sieben gewaltsamen Konflikten.
Ebenfalls seit den 1990er-Jahren sind auch dschihadistische Gruppen im Süden des Jemen aktiv. Die ersten Demonstrationen des sogenannten Arabischen Frühlings waren im Jemen von der städtischen (akademischen) Jugend, von Stammesangehörigen und Huthis getragen. Unter den Jugendlichen waren jedoch die Mitglieder der den Muslimbrüdern nahestehenden Islah-Partei stark vertreten und – wie in vielen arabischen Ländern. Den besser vernetzten religiösen Organisationen gelang es, schnell die Kontrolle über die Demonstrationen zu übernehmen.
Während der Golfkooperationsrat seine Bemühungen darauf ausrichtete, die verschiedenen Demonstrantengruppen zu spalten, führte der Rücktritt von Präsident Saleh (und nicht eine immer wieder genannte verdeckte Operation des Iran) zum Aufstieg der Huthis, da sein Nachfolger, der Übergangspräsident Hadi, hoffte, mittels dieser Gruppe, die alten Kader seines Vorgängers entmachten zu können (106). Dies hielt die Huthis allerdings nicht davon ab, sich kurze Zeit später mit ihrem alten Feind Saleh zu verbünden, während Hadi, nachdem die Huthis Sanaa erobert hatten, ins saudi-arabische Exil floh. Auch die Huthis scheiterten bei ihrem Vormarsch letztendlich an den alten Nord-Süd-Konflikten. Hinzu kam – nachdem die Hafenstadt Aden bedroht war – der saudische Militäreinsatz („Decisive Storm“). Ziel dieser Operation war die Wiedereinsetzung Hadis, der als Übergangspräsident allerdings seit 2015 keine legitimen Ansprüche mehr auf das Amt hatte. Seit nunmehr fast fünf Jahren ist es keiner Seite gelungen, ihre militärischen und/oder politischen Ziele zu erreichen. Stattdessen ist die ohnehin fragile Infrastruktur des Jemen vollkommen zusammengebrochen und die humanitäre Katastrophe hat sich – weitgehend unbemerkt von westlichen Medien – zunehmend verschlimmert.
Doch wie kann es weitergehen? Al-Dailami sieht in dem Stockholmer Abkommen von 2018 die Grundlage für jedwede mögliche Friedenslösung. Für dessen Umsetzung ist es wichtig, die unterschiedlichen wirtschaftlichen Interessen der verschiedenen Kriegsparteien, die Dailami sehr gut nachzeichnet, zu benennen und zu adressieren. So ist seitens der Ölmonarchien vor allem die Frage der sicheren Transportwege für die eigenen Öllieferungen von Interesse, wobei die Meeresstraße Bab al-Mandab eine zentrale Rolle spielt. Gerade Saudi Arabien arbeitet bereits an einer Pipeline durch die Region Hadramaut, um so die vom Iran bedrohe Schifffahrt in der Straße von Hormuz zu vermeiden (178).
Dass eine reine militärische Lösung nicht möglich ist, betont der Autor mit der Feststellung, die Huthis würden “sich auf dem Schlachtfeld nicht endgültig besiegen lassen“ (230).
Insgesamt gelingt es al-Dailami, ein kohärentes und facettenreiches Bild des jemenitischen Kontextes zu zeichnen, indem er erfreulicherweise nicht erst mit den Konflikten seit der Kolonialisierung einsetzt, sondern das Land in seinem gesamten historischen Kontext verortet. An einigen Stellen führt seine persönliche Verbindung zum Gegenstand seiner Untersuchung zu emotionalen und unsachlichen Formulierungen (zum Beispiel: „Dieser barbarische Akt bekräftigt meine These, dass die zerstörerische Kriegsmotivation dieser relativ jungen Golf-Fürstentümer auch Ausdruck eines kulturellen Minderwertigkeitskomplexes gegenüber der uralten jemenitischen Hochkultur ist.“ [27])
Insgesamt bietet al-Dailamis Buch ein hervorragendes Überblickswerk, das zum Einstieg in die Thematik sowohl einer breiten Leserschaft als auch einem akademischen Publikum empfohlen werden kann.
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